Helke Meierhofer-Fokken

Nebel im Kopf

Sie sass da. Wenn man sie gefragt hätte, seit wann, hätte sie geantwortet: „Immer. Ich sitze immer da.“
Sie wartete hier, bald auf eine Freundin, auf eine Kollegin, auf den Zug, auf den Abend. Der Kellner lächelte vertraulich, wenn er den Kaffee brachte. Sie besass ein rotes Portemonnaie. Es kam auch vor, dass ihr jemand den Kaffee bezahlte, aber dann kam die Freundin, oder der Zug, und sie bedankte sich.
*
So lautete der Anfang einer Geschichte, die wir in der Schreibwerkstatt unter folgenden Bedingungen fortschreiben sollten: In der Geschichte wird ein Konflikt ausgetragen und der Nebel soll eine Rolle spielen. Hier folgt meine Geschichte:


"Nun sass sie also wieder hier an ihrem vertrauten Platz. Der Kellner lächelte wie immer, wenn er vorbeiging. Es war alles wie immer und doch fühlte es sich anders an, ganz anders. Vielleicht nicht nach aussen hin, aber in ihrem Inneren spürte sei eine Veränderung. Die lobenden Worte ihres Chefs hüllten sie ein, umgaben sie mit wärmendem Nebel. Sie fühlte sich so leicht, beinahe schwebend. Während ihre Hände mit dem roten Portemonnaie spielten, liess sie ihre Blicke durch den Raum schweifen, ziellos. Sie blieben nirgend hängen. Sie wartete, wartete wie immer, wenn sie sich hier aufhielt. Heute werde ich es ihm sagen, beschloss sie. Heute fühlte sie sich stark, geborgen wie in einem schützenden Kokon, den die Worte ihres Chefs gesponnen hatten. Sie verbot es sich, auf die Uhr zu schauen, oder zur Tür, wenn diese sich öffnete und einen neuen Pulk Menschen hereinliess. Heute würde sie ganz bestimmt den Mut aufbringen und ihm ihren schon seit längerer Zeit schwelenden Entschluss mitteilen. Sie war nett, hatte der Chef gesagt…
Wieder ging die Tür auf und mit einem Schwall kalter Luft betrat ein Pärchen den Raum und liess sich ein paar Tische entfernt nieder. Der wärmende Nebel verzog sich. Plötzlich fröstelte sie, schauderte vor Kälte zusammen und schlug die Arme um sich. Dabei stiess sie an ihre Kaffeetasse, die mit lautem Klirren vom Unterteller kippte. Gott sei Dank hatte sie ihren Kaffee schon ausgetrunken. Der Kellner eilte beflissen herbei. „Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“ Sie schüttelte verneinend den Kopf. „Später vielleicht. Ich warte noch auf …“ Sie liess den Satz unvollendet. In das Gesicht des Kellners schlich sich ein Anflug von Mitleid. „Ja natürlich“ sagte er und verschwand mit einem Nicken des Kopfes.
Sie sah aus dem Fenster. Draussen hatte sich Nebel über die Welt gesenkt. Eine dichte, undurchdringliche Nebeldecke lag über der Strasse und den angrenzenden Häusern. Die Nebelschwaden waberten, berührten die aufkommende Dämmerung. Sie vereinten sich und schluckten alle Konturen, verwandelten Bäume und Sträucher in Schemen, Häuser in unbestimmte Gebilde. Die Strassenlaternen wurden entzündet, ihre Lichter schwebten wie gelbe Kugeln mit einem Heiligenschein in dem uferlosen Nebelgrau.
Wenn er heute käme, würde sie es ihm sagen. Nur wie? Es gelang ihr einfach nicht, ihren Vorsatz in einen Satz zu giessen, der allen seinen Gegenargumenten standhalten würde, die wie kleine Bomben auf sie herabprasseln würden. Ihr fielen einfach nicht die richtigen Worte ein. In meinem Kopf ist nur Watte wie der Nebel da draussen, dachte sie hilflos. Das angedeutete Mitleid in der Miene des Kellners liess sie wieder erschauern und – wütend werden. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? War sie jemand, mit dem man Mitleid haben musste? Die Wut schoss wie ein Stromstoss durch ihren starren Körper und vertrieb das Kältegefühl. Heute sage ich es ihm! Egal, was der Chef gesagt hat. Nett! Das ist doch so ein nichtssagendes Kompliment! Der Chef wollte mit dieser belanglosen Äusserung kaschieren, dass er ihr die längst fällige Gehaltserhöhung verweigerte!
Sie richtete sich entschlossen auf, sah NICHT auf die Uhr, sah NICHT zur Tür, die sich just in diesem Moment öffnete. Er war es! Er war also doch noch gekommen. Sie hob ihren roten Geldbeutel und wedelte ihn wie einen Abstimmungsschein über ihrem Kopf. Er entdeckte sie und steuerte auf ihren Tisch zu. „Da bist du ja!“. Noch im Gehen entledigte er sich seiner Jacke und hängte sie achtlos auf den Stuhl, der ihrem Stuhl gegenüberstand. Sie war aufgestanden und liess das ‚Küsschen rechts, Küsschen links-Zeremoniell‘ über sich ergehen. Sein Bart kratzte, ihre beiden Brillen schlugen aneinander. Er murmelte etwas von Stau und Unfall und miserablen Verkehrsbedingungen wegen des Nebels. Er war nie um eine Ausrede verlegen. Er würde sich auch nie von seiner Frau trennen! Das wusste sie jetzt mit glasklarer Gewissheit. Wie oft hatte er ihr versprochen, dass er seiner Frau Bescheid sagen würde. Immer war etwas dazwischen gekommen. Ihr Entschluss wuchs, der Nebel im Kopf wich.
„Was möchtest du trinken?“ fragte er. „Oh, du hast schon einen Kaffee gehabt. Wollen wir ein Gläschen Wein trinken?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, wandte er sich an den Kellner, der mit gezücktem Bestellblöckchen bereitstand. „Zwei Viertele Roten bitte.“
Sie protestierte nicht gleich. Wenn ich Wein trinke, dann wird der Nebel in meinem Kopf wieder dichter, dachte sie. „Wasser!“, sagte sie laut und bestimmt. „Ich möchte keinen Wein trinken, sondern Wasser!“ Ihre Stimme klang so klar und fest und vertrieb die letzten Nebelfetzen. Heute sage ich es ihm, beschloss sie, und fügte ihrem Entschluss einen zweiten und dritten hinzu. Morgen werde ich kündigen und übermorgen gehe ich zum Friseur und lasse mir die Haare abschneiden! Sie wandte sich ihm zu: „Ich mache Schluss! Ich werde unsere Beziehung beenden!“ Ganz ruhig stand sie auf, schlüpfte in ihren Mantel und verschwand im Nebel."
Helke Meierhofer-Fokken
* Der oben zitierte Anfang der Geschichte stammt übrigens von Peter Bichsel

 

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