Germaine Adelt

Schwarze Augen

    Die Nachricht vom Tod ihrer Großmutter erreichte sie völlig unerwartet. Die gute Frau war zweiundachtzig und schon seit längerem krank, der Tod also greifbar nah. Dennoch wollte sie es nicht wahrhaben. Erst als man ihr gestattete die Tote noch einmal zu sehen, meinte sie zu wissen, dass Großmutter die innere Ruhe gefunden hatte, die man nach Ellens Meinung zum Sterben brauchte.

Das, wovor sie sich ein Leben lang gefürchtet hatte, trat nun ein. Sie musste den Haushalt auflösen. Mit Tränen in den Augen stand sie in der kleinen, engen Wohnung, in der sie nach dem frühen Tod ihrer Eltern aufgewachsen war. Es hatte sich wenig verändert. Großmutter war in ihrer Bescheidenheit nie davon zu überzeugen, sich eine neue Einrichtung zu kaufen. Selbst der alte Schwarz-Weiß-Fernseher stand noch am selben Platz. Diese Umgebung erdrückte Ellen. Wo sie auch hinsah, überall Relikte aus alten Zeiten, jedes Stück gekoppelt an Kindheitserinnerungen. Sie setzte sich auf die alte Fußbank und verbarg ihren Kopf in den Schoß. Sie würde es nicht durchstehen. Was sie auch hier berührte, sie hatte es als Kind schon angefasst.

Die Tränen liefen noch immer, und sie fühlte sich so schuldig. Zu selten hatte sie sich Zeit für die alte Frau genommen. Zu sehr hatte sie sich dem Beruf gewidmet, war davon ausgegangen, dass alles ewig währt. Sie stand auf und beschloss die Wohnung zu verlassen und andere, fremde Leute dafür zu bezahlen alles zu übernehmen. Nichts von alledem mochte sie behalten.

Ihr Blick fiel auf die alte Kommode und sie lächelte. Das Geheimfach. Ihre Neugier erwachte, nun endlich würde sie es öffnen dürfen. Großmutter hatte es immer sorgsam verschlossen gehalten und selbst als Erwachsene hatte sie nie gewagt, es zu öffnen. Den Aufbewahrungsort des Schlüssels kannte sie schon lange. Sie ging zum Fenster und schob die Gardine beiseite. Er hing noch immer an dem Rahmen, ganz oben an dem verbogenen, alten Nagel. Ein wenig verdeckt von den schweren roten Samtvorhängen.

Aufgeregt öffnete sie die Schublade und betrachtete gerührt den Inhalt. Ein Reisepass, ein wenig Geld, ein alter, längst ungültiger Ausweis. Eine kleine weiße Pappschachtel, darin Milchzähne und eine Haarsträhne, vermutlich von ihrer Mutter. Nichtigkeiten, die Großmutter dennoch veranlassten, alles unter Verschluss zu halten. 

Fast unsichtbar, lag da noch ein kleines Päckchen, sorgsam eingehüllt in Seidenpapier. Es war ein Brief. Ganz alt und vergilbt und als sie ihn näher betrachtete, fingen ihre Hände an zu zittern. Sie kannte diese Handschrift. Es war die vom Großvater. Der Mann, den sie nie gekannt hatte und der seit Januar 1944 als verschollen galt.

Sie setzte sich wieder auf die Fußbank und sah erstaunt unter das Bett. Aber er war nicht mehr da, der große Pappkarton, auf dem mit verschnörkelten Buchstaben PERSIL stand. Wie oft hatte sie als Kind auf dieser Fußbank gesessen und gespannt zugesehen, wenn Großmutter den Karton hervorholte, der bis oben hin mit den Briefen von Großvater gefüllt war. Fasziniert hatte sie dann zugehört, wenn Großmutter aus den Briefen vorlas. Briefe aus längst vergangenen Zeiten, Briefe von Tod und Verderben und einer großen Liebe. Irgendwann war der Karton mit den Briefen plötzlich verschwunden.

„Die Motten haben sie zerfressen“, hatte Großmutter erklärt, „ich musste sie verbrennen.“ Und dabei konnte sie Ellen nicht in die Augen sehen und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, belogen zu werden.

Nun hielt sie unerwartet einen der verloren geglaubten Briefe in der Hand. Fast fünfzig Jahre war er alt, datiert vom 31.12.1943. Ehrfurchtsvoll betrachtete sie ihn und bekam ein ungutes Gefühl. Warum hatte Großmutter ausgerechnet diesen einen aufbewahrt?

Er war auffällig dick und so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Vorsichtig entfaltete sie ihn. Zwanzig durchnummerierte Seiten, sorgfältig beschrieben mit dieser gleichmäßigen, gestochenen Schrift. Nein, sie kannte diesen Brief nicht. Sie war sich ganz sicher.

Versonnen sah sie aus dem Fenster und überlegte ihn ungelesen wieder in das Fach zurückzulegen. Einfach die Vergangenheit ruhen zu lassen. Großmutter hatte immer an seine Rückkehr geglaubt und sich nie mit seinem Tod abfinden wollen. Gleichzeitig verwies sie immer wieder darauf, dass er gefallen sein musste. Was sonst hätte ihn aufhalten sollen, zu ihr zurückzukehren?

Wie oft hatte sie Ellen von ihm erzählt, von seinen Eigenarten, seinen Vorlieben, seinem Aussehen. Wehmütig hatte sie immer wieder darauf hingewiesen, wie sehr Ellen ihm glich. Nicht nur im Wesen. Diese fast schwarzen Augen, das blauschwarze Haar. So unverkennbar die Erinnerung an ihn. Zeitweilig konnte Ellen keinem alten Mann begegnen, ohne sich zu fragen, ob da nicht Ähnlichkeiten waren. Lange glaubte auch sie an seine Rückkehr, zumal sie immer mehr in die Illusion eintauchte, dass allein dieser Mann ihre Seele hätte heilen können. Die verletzliche Seele, die im Laufe der Jahre immer mehr Risse bekam. Weil sie als so anders galt. Als zu mitfühlend, zu gerecht, zu unangepasst. So wie er. Später siegte die Vernunft.

Er war tot, er musste es sein.

Der Brief machte ihr Angst. Ganz plötzlich fürchtete sie sich vor der Wahrheit, die in diesen Zeilen stecken musste. Dennoch machte sie sich daran, diesen Brief zu lesen und kam nur sehr mühsam voran. Einzelne Wörter musste sie regelrecht entziffern, so ungewohnt war für sie diese altdeutsche Handschrift. Aber irgendwann glaubte sie, diesen Schreibstil zu kennen, glich er ihrem doch auf so unsagbare Weise. Und so konnte sie schon seine Gedanken zu Ende führen, obwohl ihr das Lesen der Schrift noch immer so schwer fiel. Zwanzig Seiten von Leid und Elend, von Tod und Verderben. Und mittendrin der junge Mann, der all dies nicht gewollt hatte und doch nichts dagegen tun konnte.

Dann die Mitteilung, dass man ihn degradiert hatte, da er es doch einmal gewagt hatte sich zu widersetzen. Unerheblich in Ellens Augen, aber er war untröstlich und kam nicht darüber hinweg. Er schrieb von Schande und Scham und davon, dass er durchaus Verständnis dafür habe, wenn sie ihn dafür verachte. Er aber dennoch hoffte, dass ihre Liebe zu ihm stärker sei und alles überwinden könne.

Ellen weinte, sie verstand seine Bedenken. Großmutter war eine gute Frau, die jedoch unerbittlich sein konnte, wenn es darum ging den aufgestellten Normen der Umgebung zu entsprechen. Die Normen, von denen Großmutter immer glaubte, dass nur sie unauffälliges Leben ermöglichten. Ellen selbst hatte es als Kind oftmals zu spüren bekommen, ihr aber letztlich immer wieder verzeihen, indem sie es als gegeben hinnahm. Noch heute empfand sie es als anmaßend das Verhalten von Großmutter zu kritisieren.

Sein Brief endete mit den Worten: „Wenn du schreibst, dann schreibe bald. Wenn du dich meiner schämst, schicke ein leeres Kuvert.“ Sie glaubte nicht was sie da las.

„Was tust du da?“, fragte sie leise. „Mein Gott, sie wird es nicht verstehen!“

Die Tränen liefen wieder. Es tat ihr alles so leid. Er war so verzweifelt und sie ahnte, dass sein Hilferuf nicht erhört worden war.

 

Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ sie die Wohnung, die sie nie wieder betreten würde. Nachdenklich betrachtete sie den Brief und war entschlossen endgültig das Schicksal des Mannes zu klären, der sie auf so sonderbare Weise ihr bisheriges Leben begleitet hatte. Endlich das zu tun, wogegen Großmutter sich zeitlebens gewehrt hatte.

Tage verbrachte sie damit, Adressen zu erfahren. Adressen von Institutionen, die über Unterlagen verfügen mussten, die ihr helfen konnten. Sie schrieb Briefe dorthin, wo man die Akten der Gefallenen aufbewahrte und an die ihr unbekannten Adressen die sie in Großmutters Notizbuch fand. Viel wusste sie nicht zu berichten, weder von der Waffengattung, noch von der Feldpostnummer. Aber sie hoffte, dass irgendjemand etwas wusste.

 

Unerwartet zügig erhielt sie Antwort. Bedrohlich lag der amtlich aussehende Brief vor ihr, und sie fragte sich was wohl darin stehen würde. Nichts wünschte sie sich so sehr wie ein Datum. Den Tag seines Todes, gefallen im Krieg, amtlich bestätigt.

Das Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals und sie suchte nach Ausreden, den Brief noch nicht öffnen zu müssen. Das Telefonklingeln erschien ihr wie eine Erlösung. Noch immer den Brief in der Hand, hörte sie nur vage, dass ein Mann sie gern sprechen möchte und ob ihr jetzt sein Besuch passen würde.

Sie murmelte nur: “Ja ja“, und nachdem sie aufgelegt hatte musste sie sich eingestehen, dass sie nicht verstanden hatte warum dieser Mann zu ihr wollte. Flüchtig räumte sie ihre Wohnung auf, in der es eigentlich nichts aufzuräumen gab und wehmütig erinnerte sie sich daran, dass Großmutter es auch immer getan hatte. Als es endlich an der Tür klingelte musste sie sich beherrschen nicht sofort zu öffnen.

„Sie wünschen?“, fragte sie mit einem aufgesetzten Lächeln.

„Wir haben miteinander telefoniert“, erklärte der Jüngere der beiden.

„Ja, kommen Sie doch herein.“

„Mein Name ist Brandt“, sagte der Jüngere, „es geht um ihren Großvater Robert Frenz.“

Er zeigte auf einen alten Mann, der neben ihm stand. „Das ist Herr Wied, der ihnen nähere  Auskünfte geben kann.“

„Verzeihung, aber wer sind Sie?“

Fragend sah Brandt sie an: „Brandt, Michael Brandt. Sie hatten mir geschrieben. Mein Vater, Michael Brandt senior, hat nach dem Krieg so eine Art Interessengruppe aufgebaut, die die Mitglieder des Grenzbataillons  fünfhundertund.....“

„Natürlich“, unterbrach ihn Ellen. „Ich vergaß.“

Sie führte die Männer in das Wohnzimmer und nachdem sich alle gesetzt hatten herrschte langes Schweigen. Der alte Mann sah sie mit seinen schwarzen Augen an. Trauer lag darin und gleichzeitig Erleichterung. Dann wurde sein Blick geradezu herausfordernd und er lächelte ein wenig.

„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, begann er leise, „es fällt mir schwer.“

„Das macht nichts“, erklärte Ellen und lächelte zurück. „Wissen Sie, ich kann schon verstehen, dass es Ihnen selbst nach so vielen Jahren schwer fällt über den Tod meines Großvaters zu sprechen. Ganz furchtbar muss es wohl sein, wenn jemand dabei war. Waren Sie dabei?“

Sein Lächeln verschwand und er senkte seinen Kopf. Ganz leise, fast unhörbar sagte er: “Ja.“

Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie fragte: „Wann ist er gestorben?“

Der alte Mann schwieg lange und räusperte sich dann: „Im Januar `44, in Litauen.“

„Ging es schnell?“ Ellen vermied es, ihn anzusehen. Er hatte Tränen in den Augen und sie konnte es nicht ertragen.

„Ja, er hat nicht gelitten?“

Wieder entstand ein Schweigen und Ellen durchbrach es dann. „Es macht Ihnen doch sicherlich nichts aus, wenn Sie mich jetzt allein lassen?“

Der alte Mann sah sie lange an. Doch Ellen wagte noch immer nicht seinen Blick zu erwidern und so erhob er sich: “Natürlich nicht.“

Schweigend verabschiedete sie die Herren. Der alte Mann stand schon an der Tür, als sie ihn fragte: „Hat sie ein leeres Kuvert geschickt?“

Ohne sich umzudrehen, antwortete er: „Ja, das hat sie.“

„Sie hat es nicht verstanden?“

„Nein.“

Brandt sah ungläubig zu Ellen, hob fragend die Schultern und schwieg ergeben.

„Warum hat er ihr nicht verziehen?“ fragte Ellen den alten Mann, der noch immer mit dem Rücken zu ihr stand.

Er machte eine lange Pause: „Weil sie es nicht gewollt hat.“

Er drehte sich zu ihr um und sah sie flehend an.

„Vielleicht hätte ich es aber gewollt“, flüsterte sie.

Seine Tränen liefen und er schluchzte leise. Der alte Mann tat ihr leid. Soviel Trauer, es würde für ihn nie enden. Sie gab ihm die Hand und sah ihm nun fest in die Augen: „Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Mühe gemacht haben mit mir persönlich zu reden, Herr  Wied.“

Dann streichelte sie sanft sein Gesicht und wischte ihm behutsam die Tränen aus seinen Augen. Armer alter Mann. Nie würde er all dieses Leid vergessen können.

Sie aber hatte endlich ihre Ruhe gefunden. Der Brief, der noch immer ungeöffnet auf dem Küchentisch lag, war nicht mehr so wichtig.

Großvater war tot, gefallen im Krieg, im Januar 44.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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