Andreas Vierk

Die Legende von den Xiongnu


 
 
 
Die Ereignisse nahmen ihren Anfang um das Jahr 165 v.Chr. im Steppengebiet der Mongolei nördlich der chinesischen Mauer. Eine bis heute nicht ganz geklärte Allianz verschiedener Völker und Stämme, die Xiongnu, erhoben sich – nicht zum erstenmal – gegen die chinesische Grenze. Man ist sich nicht völlig sicher, wer die Xiongnu waren, ob es sich wirklich nur um Völker mongolischer Rasse handelte, oder ob bereits die im Nordwesten Chinas ansässigen Ili-Türken mit im Verband waren. Sicher ist indessen, dass die gegen China gerichtete Welle nach Südwesten umschlug. Große Völkerverschiebungen griffen bis nach Indien, ja bis ins griechische Baktrien (heute Afganistan) hinein. Im Zuge dieser Eroberungen kamen die fünf Stämme der Yüe-Chi nach Indien und errichteten in Afganistan, Beludschistan, dem Indus- und Gangesgebiet und dem Punjab ihre Herrschaft. Einer der fünf Stämme waren die Kushanas, und ihr bedeutendster Herrscher, Kanishka, regierte bis 123 n.Chr. in Indien. Unter diesem König blühte die wundervolle buddhistische Gandhara-Kunst, deren Werkleute griechicher Herkunft waren, und die die indischen Gesichter ihrer Statuen mit europäischen Zügen vermischten. Im Jahr 99 n.Chr. besuchte eine Gesandtschaft der Yüe-Chi Kaiser Trajan in Rom. Spätestens zu dieser Zeit müssen die ehemals nordchinesischen Steppenvölker auf den Westen aufmerksam geworden sein. Die Politik des chinesischen Kaisers Guang-wu, des Gründers der Dynastie „Spätere Han“ (25 - 57 n.Chr.) sah zwei Möglichkeiten vor, sich die Xiongnu vom Hals zu halten: Yi yi zhi yi, Barbaren mit Barbaren kontrollieren, was auch die Einbeziehung der Xiongnu in die chinesische Innenpolitik bedeutete, und Yi yi fa yi, mit Hilfe von Barbaren gegen Barbaren Krieg führen. Eine Parallelität zu den späteren Ereignissen der europäischen Völkerwanderungszeit ist nicht zu übersehen. Zur Zeit Guang-wus waren die Xiongnu bereits in Südliche und Nördliche Xiongnu gespalten. Der südliche Zweig verlor sich bald im chinesischen Völkergemisch, ein Schicksal, das auch Gruppen der Ili-Türken mit ihnen teilten.
Die sich später dem Westen nähernden Hunnen beriefen sich selbst auf die Xiongnu, ja stellten sich ihnen gleich. Heute weiß man allerdings, dass Xiongnu und Hunnen nicht homogen waren. Unklarheiten herrschen auch über die Zusammensetzung der hunnischen Verbände und der mit ihnen in Bewegung geratenen Völker, wie den Sarmaten, von denen die Alanen ein Teil waren. Sarmaten kämpften bereits 268 mit den Goten gegen Byzanz. Jordanes und Ammianus Marcellinus zeichnen die Hunnen in den schrecklichsten Farben, während den Sarmaten ein eher germanisches Aussehen beigelegt wird. Genaues weiß man aber nicht.
 
Im Winter des Jahres 394 fror die Donau zu, und die Hunnen strömten über den vereisten Fluss ins westgotisch besetzte Thrakien. Ein halbes Jahr später überquerten weitere große Hunnenscharen den Don und den Kaukasus und fielen in Persien ein. 397 begann die Invasion in die oströmischen Reichsteile Kleinasiens und riss die im heutigen Moldavien ansässigen Ostgoten mit sich. König Alarich und seine Westgoten konnten Thrakien gegen die Hunnen nicht mehr halten und zogen sich bis nach Makedonien zurück.
Währenddessen hatte im Donaugebiet eine Veränderung stattgefunden: die meisten der vormals auf eigene Faust marodierenden Hunnen hatten sich unter einem Khan zusammengefunden. Unter Uldin, den ersten großen Fürsten der Hunnen auf europäischem Boden, wurden den Hunnen auch germanische Stämme angegliedert. So wurden nun auch die Ostgoten in den Strudel der Völkerwanderung hineingezogen. Im Jahr 401 wurde ein Vertrag zwischen Uldin und dem oströmischen Kaiser Arkadius aufgesetzt und die Hunnen wurden zu Föderaten von Byzanz. Uldin war ein Mann, der die damalige politische Lage, die Reibereien der beiden römischen Reichshälften und die unterschiedlichen Strukturen (mühsame Bewahrung des Reiches in Byzanz und Zersetzung im Westen) geschickt für sich ausnutzen konnte. In Ost und West war er an den Brennpunkten der Geschichte zu finden gewesen. Gleichzeitig aber brach er 408 kühn den Foedus mit Byzanz und fiel plündernd in Thrakien ein. Allerdings ist ein allmähliches Auseinanderbrechen der hunnischen Gruppen zu bemerken. Die Historiker sind völlig ratlos, was es mit dem Verschwinden Uldins im Jahr 409 auf sich hat. Ist er in Thronstreitigkeiten verwickelt gewesen? Wurde er von den immer wieder aus dem Osten nachrückenden Hunnen nicht anerkannt, oder wurde seiner eigenen Schar zu mächtig? Dankte er ab? Wurde er ermordet oder starb eines natürlichen Todes? Man weiß nichts. Uldin verschwindet aus dem Tagesgeschehen wie aus der Geschichte, als hätte es ihn niemals gegeben. Für zwölf Jahre, bis mit Rua ein weiterer großer Hunnenführer erscheint, existieren zwar noch die alten Föderationen der beiden römischen Reiche mit den Hunnen, gleichsam werden die Nomaden jedoch wieder unberechenbarer.
 
Der Feldherr Flavius Konstantius heiratete Galla Placidia, die Schwester des Kaisers Honorius, im Jahr 417 und wurde nach dem Tod des Honorius und einem kurzen Zwischenspiel unter einem gewissen Usurpator Johannes 425 weströmischer Kaiser. In der Affäre um diesen Johannes begegnet uns ein Mann, von dem wir noch öfters hören werden: es ist der römische Feldherr Aëtius, der als junger Mann als Geisel an Uldins Hof gelangte. Eine hochgestellte Geisel war damals nicht einfach ein Gefangener –: Aëtius war römisch und hunnisch ausgebildet. Er galt als fundierter Kenner alles Hunnischen. 421 fielen die Hunnen unter ihrem neuen Khan Rua erneut in Thrakien ein. Aëtius hat Rua damals möglicherweise begleitet. Im selben Jahr finden wir ihn in der oströmische Armee, die er gegen die Perser führte. Aëtius war auch einer der Würdenträger am Hof des Johannes. Als solcher reiste er wiederum nach Osten an Ruas Hof, um hunnische Unterstützung gegen Flavius Konstantius zu werben. Angeblich sollen 60000 Hunnen unter Aëtius nach Ravenna marschiert sein. Aber Aëtius kam zu spät: Galla Placidia hatte den Usurpator beseitigen lassen können und ihr Mann wurde noch im selben Jahr Kaiser von Westrom. Er starb jedoch schon im selben Jahr 425, und sein und Galla Placidias Sohn, der noch unmündige Valentinian III., wurde unter der Schutzherrschaft seiner Mutter Princeps. Man fragt sich, wie diese Frau wohl ihr Leben gemeistert haben mag. Mehrmals von ihrem eigenen hühnerzüchtenden Bruder verbannt oder gleichgültig fallen gelassen, musste sie zwei erzwungene Ehen über sich ergehen lassen. Sie wurde als Schachfigur in einem erbarmungslosen Spiel um Macht hin und hergeschoben, verraten und verschachert. Nun aber, da sie für ihr Kind Valentinian als Kaiserin herrschte, wusste sie selbst diese Macht zu gebrauchen. Aëtius war der Gegenspieler ihres Mannes gewesen. Sie schützte ihn nun, aber sie misstraute ihm auch stark. Er stand im Verdacht, mit den Hunnen gemeinsame Sache gegen Rom zu machen, und das Odium des Doppelagenten sollte fortan wie ein Schatten über all seinen Aktivitäten liegen. Galla Placidia bot ihm die Statthalterschaft über Gallien an. Wieder begleitete den „Letzten Römer“ Aëtius ein bunt zusammengewürfeltes Heer aus verschiedensten Germanen, römischen Legionären und vor allem – Hunnen. Im Jahr 425 zog Aëtius gegen die Westgoten und auch gegen die immer mächtiger werdenden Franken. Er siegte, die Unterworfenen kehrten in ihre Grenzen zurück und Aëtius wurde zum Heermeister des weströmischen Reiches erhoben.
 
Im Jahr 430 zogen hunnische Truppen unter Octar, dem Bruder Ruas, an den Rhein, um die sich dort ausbreitenden Burgunden zu bekämpfen. Ob Aëtius die Hunnen angefordert hatte, ob und warum Rua seinen Bruder auf dieses so weit entfernte Schlachtfeld schickte, oder ob Octar gar auf eigene Faust handelte, weiß man nicht. Die erste Theorie scheint plausibel, denn Aëtius operierte oft und gern mit den Hunnen. Die beiden anderen Annahmen widersprechen der ersten nicht, stellen aber die Frage nach der Machtverteilung im hunnischen Reich. Rua hat außer Octar noch zwei weitere Brüder gehabt. Dass sich die beiden ältesten Brüder die Macht und die eroberten Gebiete teilten scheint allgemeine Gepflogenheit bei den Hunnen gewesen zu sein. Dabei ist auffällig, dass immer einer der Brüder das Reich östlich des Don hielt, der andere die aktive Expansion nach Westen betrieb, wobei hier die Donau eine Grenze bildet, jenseits derer keine wirkliche Reichsausdehnung geschah, jedenfalls nicht bis zur Ansiedlung der Hunnen in Gebiet des heutigen Österreich durch Aëtius. Octars Zug an den Rhein endet fatal: es gelingt den Burgunden, das Hunnenheer zu schlagen. Octar selbst findet in den Kämpfen den Tod. Die Vakanz im Westen verschob die Macht bei den rheinansässigen Germanenvölkern. Die Burgunden breiteten sich weiter aus. Auch sie überquerten den Rhein in Richtung Westen und nahmen in Gallien Gebiete ein, deren Statthalter Aëtius war. Wir werden noch sehen, dass der „Letzte Römer“ die Landnahme bestraft. Allerdings geht Aëtius nicht sofort gegen die Burgunden vor. Zum einen nimmt in den Jahren von 431 bis 435 der von den Vandalen erzwungene Foedus mit Rom Gestalt an, und fordert das diplomatische Können Aëtius’ heraus. Zum anderen verschiebt sich mit dem Tod Ruas 434 nochmals die Machtbalance im hunnischen Reich. Ruas Neffe, der kluge und vorsichtige Hunnenkhan Bleda, der Blödelin des Nibelungenliedes, festigt die Macht im Reich nördlich und südlich der Donau. Zu dieser Zeit muss die Stadt Wien einen merkwürdig uneuropäischen Charakter gehabt haben. Sie war allerdings nicht die wirkliche Hauptstadt des westlichen Hunnenreiches. Diese befand sich vermutlich in der Nähe des heutigen Budapest, kann aber nicht mehr genau lokalisiert werden, da diese Stadt zur Gänze aus Holz gebaut war. Weiter östlich von ihm sitzt Bledas jüngerer Bruder, von dem wir nicht einmal seinen wirklichen Namen wissen, obwohl der Schrecken, den dieser Eroberer verbreiten wird, noch bis in die heutige Zeit nachhallt. Der Don wird für ihn auch damals schon keine ernstzunehmende Grenze gebildet haben.
In den frühen Jahren dieser Dekade musste Aëtius gegen die Expansionsbestrebungen der Westgoten mehrmals militärisch vorgehen, wobei er die Hilfe Bledas oft und gern in Anspruch nahm. Aëtius’ Rolle war einmal mehr ein doppeltes Spiel: er musste die Westgoten im Zaum halten, durfte sie sich jedoch nicht zu Todfeinden machen, sondern musste sich im Gegenteil mit ihnen eine künftige Armee heranziehen. Erschwerend kam noch hinzu, dass Aëtius zwar römische Interessen zu vertreten hatte, in Galla Placidia aber gewiss keine Freundin besaß. Auf Bleda schien sich Aëtius verlassen zu können. In seiner Jugendzeit, als er Geisel bei den Hunnen war, waren Aëtius und Bleda gute Freunde gewesen. Aëtius war auch mit Bledas Bruder gut bekannt, und eben dies wird ihm wohl große Sorgen bereitet haben. Aëtius musste möglichst schnell einen Schulterschluss der Westgoten mit den Vandalen zustande bringen, bevor das gegen den Westen ausschlug, was da im Osten brütete.
Im Jahr 436 rief Aëtius Bledas Hunnen gegen die Burgunden zu Hilfe und konnte sie unter König Gundokar schlagen, dessen Machtzentrum damals Worms am Rhein gewesen sein muss. Gundokar, der in der Schlacht fiel, ist der Gunther des Nibelungenliedes. Die verbliebenen Burgunden wurden von Aëtius im Jahr 443 am Genfer See angesiedelt, wo sie römische Föderaten wurden.
 
Im Jahr 445 wird Bleda von den Häschern seines eigenen Bruders ermordet. Kurze Zeit später steht dieser an der Donau und hat bereits jene namenlose Siedlung zu seiner Hauptstadt gemacht, die wir nur mit Mühe in der Nähe der heutigen Stadt Budapest lokalisieren können. 447 dringen die Hunnen – wieder einmal – in Thrakien und Griechenland ein. Den Namen ihres neuen Khans kennen wir nicht. In der Sprache der von den Hunnen unterworfenen Ostgoten wird er „Väterchen“ – Attila – genannt. Über hundert Städte werden verwüstet. Noch im selben Jahr stehen die Hunnen vor Konstantinopel. Byzanz zahlt ihnen horrende Summen. Gleichzeitig berät sich der oströmische Senat, wie man Attila gewaltsam aus dem Weg schaffen könnte. Attila zwingt den Byzantinern einen Vertrag auf, in dem jährliche Tributzahlungen festgelegt werden. Mit den Feinden der Hunnen – so diktiert Attila – hat Ostrom künftig nicht mehr zu handeln, noch ihre Heere zu unterstützen. Gleichzeitig mit den Hunnen nimmt auch der Druck der Perser auf die Hauptstadt zu. Im Schicksalsjahr 447 trifft den Bosporus ein schweres Erdbeben. Die Stadtmauern Konstantinopels – berühmt und uneinnehmbar unter Theodosius dem Großen errichtet – stürzen ein. Im byzantinischen Reich brechen Hungersnöte und Epidemien aus. Wenn man die Häufung der Ereignisse in den Jahren 447 bis 450 aus der Sicht der Betroffenen sieht, versteht man den Beinamen Attilas und den Ort seiner Entstehung – die „Geißel Gottes“. Dieser Mann schien selbst einigen unter den Hunnen zu gefährlich zu sein. Ständig laufen Einzelne nach Byzanz über und ersuchen um Asyl. Allein daher war Attila eine Friedensmission unter dem Konsul Maximus lieb, der sich 449 in seine Donaustadt – die „Etzelburg“ des Nibelungenliedes – begab, natürlich auch, um die Lage zu sondieren.
 
Am 28. Juli 450 stirbt der byzantinische Kaiser Theodosius II. an den Folgen eines Reitunfalles. Im selben Jahr heiratet seine Schwester Pulcheria, die meist als fromm bis zur Weltentsagung geschildert wird, den Centurio Marcian, einen jungen Aufsteiger, den diese Ehe mit einem Schlag zum Kaiser des oströmischen Reiches macht.
Im westlichen Teil des Reiches hatte Galla Placidia das Kaisertum in die Hände ihres Sohnes Valentinian III. gelegt. In die Zeit dieser Jahre – chronologische Angaben damaliger Schriftsteller divergieren stark – fällt ein Skandal, halb Realität, halb Hofklatsch, der weite Kreise im gesamten römischen Reich zog, und der vermutlich eine der schlimmsten Schlachten der damaligen Geschichte nach sich ziehen sollte:
Angeblich war die Tochter Galla Placidias, Justa Grata Honoria, in eine Liebesaffäre verwickelt gewesen. Nun wollte ihr Bruder sie gegen ihren Willen an einen römischen Senator verheiraten. Justa Grata Honoria soll sich dagegen gewehrt haben und wurde nun deshalb zu ihren byzantinischen Verwandten Pulcheria und Marcian in „Zwangsurlaub“ geschickt, um sie vorerst aus Ravenna zu entfernen. Die römische Prinzessin wagte nun – sei es aus Trotz oder Verzweiflung – einen halsbrecherischen Schritt: kaum in Konstantinopel angekommen, schickt sie Attila dem Hunnenkhan einen Ring und bietet ihm ihre Hand zur Ehe an. Attila ergreift die Chance und schreibt nach Ravenna einen Brief, in dem er öffentlich um Justa Grata Honoria wirbt. Natürlich lehnt Valentinian sofort ab. Gleichzeitig stellt Marcian in Konstantinopel die Tributzahlungen an die Hunnen ein. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Attila rüstet zum Kriegszug auf. Eine damals umlaufende Geschichte, soll veranschaulichen, wie Attila „das Kriegsbeil ausgräbt“:
Ein hunnischer Rinderhirt soll beim Weiden seiner Herde bemerkt haben, dass eines seiner Tiere an einer Schnittwunde lahmte. Als er die Blutspuren zurück verfolgte, soll er ein uraltes, noch halb in der Erde steckendes Schwert gefunden haben. Der Hirt brachte es dem Khan, worauf Attila ausrief, dass er zum Herrn der Welt bestimmt wäre.
Diese Geschichte und die Werbung um Justa Grata Honoria verdeutlichen gut den kulturellen Zwiespalt, in dem sich die Hunnen, und in besonderem Maße Attila, befanden: Die Hunnen standen bereits in der dritten Generation in Europa. Es muss unter ihnen viele junge Leute gegeben haben, die die Gebiete der Mongolei nur noch aus den Geschichten ihrer Großväter kannten. Sie konnten sich kaum etwa chinesische oder Yüe-Chi-Sprachen an den Brennpunkten ihres Landes vorstellen – hier an der Donau, wo man außer hunnisch meist Latein sprach, abgesehen von der dem Deutschen nahen Sprache der Ostgoten. Gleichzeitig lebte man, wenn auch nicht mehr in Jurthen, so doch noch immer in hölzernen Dörfern, wo doch die Pracht der byzantinischen Städte den Hunnen sichtbar vor Augen stand. Attila selbst lebte diesen Zwiespalt bis in sein innerstes Wesen hinein: er wird oft als kluger Politiker geschildert, dem die Verhältnisse im Osten und im Westen von seinem Onkel Rua her und aus eigenen Anschauungen gut bekannt gewesen gewesen sein mussten. Die Notiz im Nibelungenlied, dass er sogar bereit gewesen wäre, zum Christentum zu konvertieren, darf vor diesem europolitischen Horizont ernst genommen werden. Dieselben Gewährsleute – Jordanes und Priscus – kennzeichnen Attila jedoch oft in einem Satz als besonnenen Diplomaten und von barbarischem Stolz getragenen Asiaten, der abtrünnige Landsleute eigenhändig köpfen, in Tiersehnen das Schicksal lesen, und ein rostiges Schwert als Zeichen seiner Berufung zum Herrn der Welt sehen konnte. Wir müssen diesen kulturellen Zwiespalt vor dem Horizont der nun folgenden Geschehnisse bis zu Attilas Tod immer vor Augen behalten.
 
Den Historikern bereitet Attilas großer Kriegszug einiges Kopfzerbrechen. Nach den oben geschilderten Geschichten läge ein Feldzug gegen Konstantinopel nahe. Dort befand sich Justa Grata Honoria. Die Mauern der Stadt dürften nach dem Erdbeben 447 nur notdürftig wieder aufgebaut worden sein. Byzanz hatte zudem die Tributzahlungen an Attila eingestellt. Der Khan lässt allerdings überlaut im ganzen römischen Reich verkünden, dass er vor hat, nach Gallien zu ziehen. Warum Gallien? Wenn schon nicht Byzanz, warum dann nicht Ravenna, wo man den Bruder Justa Grata Honorias mit Waffengewalt zur Zustimmung der Heirat mit Attila zwingen konnte? Attila selbst brachte den gallischen Feldzug immer mit Justa Grata Honoria in Verbindung, aber hatte er nicht eher mit seiner angeblichen Berufung zum Weltherrscher zu tun? Der Vandalenkönig Geiserich hatte ja mit ihm schon geheime Kontakte aufgenommen, um die Hunnen gegen das Reich der Westgoten aufzuwiegeln. Ein solcher Feldzug lag also durchaus in beiderseitigem Interesse. Außerdem war Gallien die letzte wirkliche Provinz Westroms. Wurde nicht dort die wirkliche Politik Westeuropas gemacht, statt in Ravenna? Sollte Attila tatsächlich den Süden Galliens – Tolosa (Toulouse) – gewinnen und die immer mächtiger werdenden Franken im Norden unter seine Kontrolle bringen, dann den Schulterschluss mit Geiserich vollziehen und sich schließlich über Justa Grata Honoria mit beiden Kaiserhäusern Roms verbinden – wäre er dann nicht wirklich der Herr der Welt? Allerdings brachte ein solcher Feldzug auch Probleme mit sich: Die Hauptmacht aller in Osteuropa ansässigen Hunnen und der mit ihnen verbündeten oder von ihnen unterworfenen Stämme würde nach Westen geschleppt, ihre Frauen und Kinder im byzantinischen Reich praktisch allein gelassen werden. Dass Ostrom dies ebenfalls so sah, und diese Chance auch nutzte, werden wir noch sehen.
 
Im Winter 450 brach das riesige Heer der Hunnen und Germanen nach Westen auf. Man marschierte die Donau entlang. Marschieren ist hier wörtlich zu nehmen, denn die hunnische Reiterei machte nur einen geringen Prozentsatz aus. Auch diese Tatsache bereitet den Historikern Probleme. Das Reitervolk der Hunnen war in Asien und auch in Europa berüchtigt gewesen. Sein schnelles Zuschlagen aus dem Nichts und das sofortige Verschwinden in die unwegsame Steppe hatte für chinesische und osteuropäische Verhältnisse den Charakter des Dämonischen. Je mehr sich die Hunnen allerdings auf europäische Dimensionen eingerichtet hatten, in desto stärkerem Maße trat die Reiterei in den Hintergrund. In Asien ritten die Hunnen die genügsamen Steppenpferde einer kleinen eselsohrigen Urrasse, in Europa war man längst auf die Pferde aus römischer Zucht umgestiegen, die zwar hochbeiniger aber weniger ausdauernd und im Futter anspruchsvoller waren. Mit dem Zurücktreten der hunnischen Reiterei hatten sich auch die Waffen geändert: statt des berüchtigten kleinen Kompositbogens, der leicht zu handhabenden Waffe des Reiters, dominierten jetzt die langen Wurfspieße, die den Germanen ihre Namen gegeben hatten, und die typischen kurzen Hüftschwerter der Römer. War sich Attila klar darüber, ob dies ein Feldzug sein sollte, oder eine Invasion?
Attilas Heer setzte sich aus den verschiedensten Völkern und Stämmen zusammen. Außer Hunnen zogen die unterworfenen Ostgoten unter ihren Königen, den Brüdern Valamir, Theodemir und Vidimir mit ihnen, die Gepiden unter Ardarich, ferner Skiren, Rugier, Heruler und Familien der Alanen.
Das Heer zieht quer durch Europa und verbreitet auf seinem Weg Angst und Schrecken. Städte werden in Schutt und Asche gelegt, Dörfer geplündert und verbrannt. Attila bog, als er auf den Rhein traf nach Nordwesten ab und überquerte den Rhein schließlich bei Neuwied. Trier wird geschleift, schließlich, schon Anfang April, fällt Metz und sein Bischof wird ermordet. Erst Mitte Juni nähert das Heer sich Orleans. Von Metz bis Orleans hatte der Heerwurm über zwei Monate gebraucht. Als Grund für diese Langsamkeit kann man vor allem die Größe des Heeres sehen, aber auch taktische und psychologische Erwägungen mögen eine Rolle gespielt haben. Vielleicht hat Attila bis zuletzt mit einem Einlenken des westgotischen Königs gerechnet. Es kann aber auch sein, dass sich Attila auf seinem Weg nach Westen zunehmend verunsichert fühlte. Es würde gut zu seinem Wesen passen, den Feldzug nun erst recht geradezu zu zelebrieren.
Während Attila in Gallien einrückt, geht Kaiser Marcian in Ostrom gegen die dort verbliebenen Hunnen nördlich der Donau und in Österreich vor. Wir wissen, dass der Kaiser dort große Erfolge zu verbuchen hatte. Das Ausmaß der Zerstörung bei Attilas Rückkehr ist unbekannt.
Von all dem weiß Attila nichts. Quälend langsam schiebt sich der Heerwurm durch Frankreich und nähert sich nun Paris. Nur die Gebete der heiligen Genoveva können das Unheil von der Stadt abwenden. Warum die Hunnen tatsächlich Paris verschont haben und scharf an der Stadt vorbeizogen, bleibt eines der ungelösten Rätsel dieses Heerzuges.
Währenddessen hatte auch Aëtius mit einiger Mühe sein Heer zusammenstellen können. Außer römischen Verbänden ist auch dieses Heer ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Aëtius konnte die Franken für seine Sache gewinnen und natürlich die Westgoten. Angeblich soll Theoderid ausgerufen haben: „Römer, ihr habt euer Ziel erreicht. Attila ist nun auch unser Feind!“
In der Champagne auf den Katalaunischen Feldern stellt sich Aëtius am 20. Juni 451 seinem Jugendfreund Attila entgegen. Es kommt zum Kampf Hunnen gegen Römer, Ostgoten gegen Westgoten und – Alanen gegen Alanen. Dieses Volk war erst kürzlich in den Wirren der Völkerwanderung auseinandergerissen worden. Die Alanen zogen in einen Kampf Familie gegen Familie. Auf beiden Seiten mussten sie dazu gezwungen werden. Das Gefecht gilt bis heute als eines der größten in der Geschichte Europas. Angeblich kämpften auf Attilas Seite 30.000 Mann. Als Grenzscheide zwischen den beiden Heeren diente ein kleiner Bach, der sich im Lauf des Gefechtes so sehr mit Blut füllte, dass er überquoll. Der Kampf zog sich bis in die Nacht hinein. Der westgotische Prinz Thorismund suchte in der Dunkelheit und den Wirren des Kampfes seinen Vater, König Theoderid, und war so irritiert, dass er sich ins Lager der Hunnen verirrte, aus dem er nur mit knapper Not entkommen konnte. Attila und Aëtius wären sich in dem nächtlichen Durcheinander beinahe in die Arme gelaufen. Erst gegen Morgen endete die Schlacht. Das Feld der Toten und Schwerverwundeten war schier unübersehbar. Noch immer suchte Thorismund seinen Vater und fand ihn schließlich in einem Leichenhaufen. Theoderid wurde vermutlich von seinem eigenen Pferd zu Tode getrampelt. Während die Westgoten trauern, übersieht auch Attila auf der anderen Seite das ganze Ausmaß der Zerstörung. Er weiß jetzt: er hat die Schlacht verloren. Aber er gestaltet selbst seine Angst vor Übergriffen in sein Lager noch zu einer großen Geste: er lässt sich einen Scheiterhaufen aus Sätteln bauen, um sich darauf zu verbrennen, denn niemand sollte sagen können, er wäre Attilas habhaft geworden. Aber es kommt zu keinem Suizid. Aëtius hatte kein Interesse an der totalen Vernichtung seines Feindes. Er lässt Attila mit den Resten seines Heeres abziehen, was ihm später wieder einmal als Konspiration ausgelegt und ihm das Leben kosten sollte.
Der Rückzug nach Osten geschah viel schneller, als der Anmarsch. Eine der vielen ungelösten Fragen im Umfeld dieses Feldzuges ist, wo sich Attila zwischen der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern und seinem Zug nach Italien aufgehalten hat.
Jedenfalls marschiert Attila wenige Monate später, im Jahr 452, in Italien ein. Dieser italienische Feldzug hat, trotz der Zerstörungen die er anrichtete, keine solche Schreckensspur im Bewusstsein der Zeitgenossen und Nachgeborenen hinterlassen, wie der gallische Feldzug. Die Stadt Aquileia allerdings wurde von den Hunnen fast vollständig zerstört. Das Schicksal dieses Ortes ist deshalb bedeutungsvoll, weil seine Bewohner in die Sümpfe nach Osten flohen, wo sie später mitten in der ungesunden Lagune die Stadt Venedig gründeten, eine Stadt ohne deren spätere Macht das Mittelalter anders verlaufen wäre.
Aber schon vor Verona und Vicenza zeigt das Heer Erschöpfungserscheinungen. Die Städte werden zwar geplündert, aber die Einwohner erleiden keine allzu schwere Not. Offensichtlich suchte Attila die Unterredung mit Valentinian III., denn er hatte den Plan, Justa Grata Honoria zu heiraten, nicht aufgegeben. Der Kaiser war aus Ravenna nach Rom geflüchtet, denn in der verfallenden Stadt residierte der Papst. Valentinian war mit seinem Hilfeersuchen bei Leo I. an den richtigen Mann geraten. Leo hatte Zeit seines Amtes auf mehreren Synoden gegen Christen zu kämpfen, die die Katholische Kirche als Irrlehrer gebrandmarkt hatte. Zudem war er einer der ersten Päpste, die den Vorrang der Katholischen Kirche vor der byzantinischen proklamierte. Vor den Toren Roms tritt Papst Leo I. dem Hunnenkhan Attila entgegen. In den Bereich der Legende wird der Bericht verwiesen, dass Attila mit Leo zu Pferd verhandelte. Angeblich soll Attila dem Papst die ganze stundenlange Unterredung hindurch verboten haben, abzusteigen. Leo, ein geborener Diplomat, macht gute Mine zum bösen Spiel und hält sich die ganze Zeit gegenüber dem sattelfesten Hunnen auf dem Pferderücken. Es mag eine Legende sein, aber sie illustriert gut die unterschiedlichen Charaktereigenschaften der beiden Männer, von deren Unterredung nichts Wörtliches auf uns gekommen ist. Für Attilas müdes Heer ist die typische Mischung von Hoch- und Großmut seines Führers, der dem Abzug aus Italien schließlich zustimmte, gewiss eine elegante Lösung gewesen, bei der keiner der Parteien das Gesicht verlor. Nach erneuerten Heiratsschwüren und Drohgebärden seitens Attilas, räumt das Hunnenheer die italienische Halbinsel und zieht über die Alpen nach Ungarn zurück. In der „Etzelburg“, jenem hölzernen Dorf an der Donau, heiratet Attila noch im gleichen Jahr die ostgotische Prinzessin Ildiko. (Der Name bedeutet „Hildchen“. Sie ist die Krimhilde des Nibelungenliedes.) Sinnlos betrunken stirbt Attila in der Hochzeitsnacht an einem Blutsturz. Sein Leichnam wird von den trauernden Hunnen in chinesische Seide gehüllt, und in einem dreifachen Sarkophag bestattet, dessen innerste Hülle angeblich aus Gold war, die mittlere aus Silber und die äußere aus Eisen.
 
Die nächsten zwanzig Jahre sehen den langsamen Niedergang zweier völlig verschiedener politischer Gebilde, dem Hunnenreich und dem weströmischen Reich, und bereiteten in beiden Hälften der alten Welt den Nährboden für Neues.
Der Gepidenkönig Ardarich, der mit Attila auf den Katalaunischen Feldern gestanden hatte, konnte die sofort nach dem Tod des Khans ausbrechenden Thronwirren unter den angeblich 150 Söhnen Attilas geschickt für sich ausnutzen. Er verbündete sich mit den Ostgoten gegen die Hunnen. 454 kam es zur Schlacht am Nedao in Ungarn, in der Tausende von Hunnen fielen und auch Ellac, Attilas ältester Sohn, starb. Die Hunnen wurden aus Pannonien (Österreich/Ungarn) vertrieben, und flohen bis zum Dnjepr. In den Gebieten, die den Hunnen einst von Aëtius zugesprochen worden waren, siedelten sich Ostgoten, Gepiden und einzelne Stämme der Sueben an.
Auch im Westen bahnten sich im Jahr 454 Veränderungen an. Aëtius wurde von Kaiser Valentinian III. eigenhändig mit einem Messer erstochen. Er, Aëtius, war einer Einladung nach Ravenna gefolgt, natürlich arglos, denn er wusste zwar, dass ihm das Kaiserhaus permanent misstraute und ihn nach der Schlacht von Katalaunien erneut der Konspiration mit den Hunnen verdächtigte, aber dass der Sohn vollbringen würde, was sich seine Mutter nie getraut hatte, davon ahnte er natürlich nichts. Der Mord an Aëtius kann wie ein Fanal gesehen werden. Spätestens jetzt war den damaligen Menschen klar, dass sich ihr Leben in einer ausklingenden Epoche abspielen musste.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.10.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Andreas Vierk schreibt seit seinem zehnten Lebensjahr Prosa und Lyrik. Er verfasste die meisten der Gedichte des „Septemberstrands“ in den Jahren 2013 und 2014.

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