Thomas Klein

Bahnhof der Zeit

Der Zug hielt und ich wartete darauf, daß er weiterfuhr. Doch meine Gefährtin sagte: „Deine Karte gilt nur bis hier, Du mußt jetzt aussteigen!“

Ich verstand nicht, doch, um mir keine Blöße zu geben, verließ ich den Waggon mit gespielter Selbstverständlichkeit.

Auf dem Bahnsteig war es stockdunkel. Wie diese Station hieß, war nicht zu erkennen.

So machte ich mich auf den Weg zu einem erleuchteten Gebäude. Dort wollte ich mich orientieren und nach einem vorläufigen Quartier fragen.

Wider Erwarten ging es hier, im Gegensatz zu draußen, recht lebhaft zu. Irgendwie war dieses Gebäude teils eine große Empfangshalle, teils Bibliothek.

Die merkwürdigsten Gestalten gingen ihren Geschäften nach. Ratlos blickte ich mich um.

Eine bohnenstangenlange Frau, die aussah, wie von der Bahnhofsmission, beugte sich zu mir herab.

„Ich suche nach einem Quartier für diese Nacht.“ sagte ich.

„Ach so, Sie sind ein Neuankömmling.“ meinte sie nachdenklich . „Um diese Uhrzeit werden Sie nichts mehr bekommen. Ich werde Sie in unserer Durchgangsstation unterbringen.“

Dies war eine Halle mit einigen Dutzend Betten. Einige waren belegt. Manche Reisende hatten sich schon zur Ruhe begeben, während andere noch gedankenverloren dasaßen.

Auch ich nahm Platz auf meiner Bettstelle und wunderte mich noch eine Zeitlang über meine merkwürdige Situation. Mit dem Vorsatz, morgen gleich den ersten Zug nach Hause zu nehmen, schlief ich ein.

Als ich aufwachte, leuchtete immer noch das schwache Neonlicht von der Decke. Keine Ahnung wieviel Uhr es sein mochte. Trotzdem wollte ich gleich zum Bahnhof, um mich nach einem Zug zu erkundigen.

Draußen war noch rabenschwarze Nacht. Der Bahnhof befand sich in eiskalter Finsternis. Ein Frösteln ergriff von mir Besitz, das immer stärker wurde. Bald klapperten meine Zähne hörbar aufeinander. Es wollte aber kein Morgen werden, der diesen unheimlichen Ort belebt hätte. In der Dunkelheit knirschte eine Weiche, Eisen schlug auf Eisen. Aus dem Nichts raste eine Lok heran und donnerte mit ohrenbetäubendem Kreischen wie eine gigantische Faust an mir vorbei. Schlagartig war es wieder totenstill.

Ich stand noch wie betäubt, da tauchte eine Laterne auf, die ein Bahnhofswärter mit sich führte.

„Werter Herr, hier können Sie nicht bleiben. Diese Finsternis hält niemand lange aus.“

„Kommt denn nicht bald ein Zug, mit dem ich nach Hause fahren kann?“

Der Wärter leuchtete mir ins Gesicht und auch ich konnte sein besorgtes Gesicht erkennen.

„Das ist kein gewöhnlicher Bahnhof, hier wird mit den Weichen die Zeit verstellt. Der Zug mit Ihrer Gefährtin ist in einer anderen Zeit unterwegs. Ihre Welt ist für Sie nicht mehr erreichbar.“

Meine Seele war inzwischen zu Eis gefroren und zerschellte in diesem Moment wie unter einem Hammerschlag in tausend Stücke.

Der Wärter brachte mich zurück zur großen Halle.

Schlotternd vor Kälte stand ich unschlüssig da. Die große Frau beugte sich wieder hilfsbereit zu mir herab. Wie sich herausstellte, war sie die Bibliothekarin. Ihr freundliches Gesicht war ein gewisser Trost.              
„Sie sollten sich jetzt für Ihr neues Leben entscheiden.“

Sie hakte mich unter und führte mich die hohen Bücherregale entlang.    „Wissen Sie was, ich werde Ihnen was Passendes raus suchen.“

Für diesen Job hatte sie die besten Voraussetzungen. Mit ihren langen Armen zog sie aus der obersten Reihe ein Buch hervor.     „So, und jetzt schön lesen“ ordnete sie an.“

Mein neues Leben schluckte ich dann auch widerstandslos wie einen Löffel Medizin.

Das erste, was ich dachte, war: Auf den ersten Blick scheint er hier ganz erträglich zu sein. Ein kleines Gehöft inmitten frühlingshafter Natur. Eine Wiese sanft abfallend mit Obstbäumen. Unten schimmerte ein See. Auf dem Hof gab es einige Milchziegen, Hühner und ein Pony. Ein großer Garten versorgte die Leute mit Gemüse, Obst und Kräutern.

Ich versuchte mich gleich nützlich zu machen. Auch die anderen Mitbewohner schienen in ihrem früheren Leben vom Lande zu sein. Die Gartenarbeit und die Versorgung der Tiere wurde mit der größten Selbstverständlichkeit erledigt. Dabei wirkte jeder in sich gekehrt, als wäre dies für alle hier nur eine kurze, unerklärliche Episode. Auch in der Freizeit versuchte jeder auf seine Weise, sich mit dieser rätselhaften Welt zu arrangieren.

Eine junge Frau beschäftigte sich meistens mit dem Pony. Eine andere Mitbewohnerin strickte und spann Wolle. Dabei summte sie leise vor sich hin. Ein älterer Mann saß abends immer auf der Veranda und rauchte in Gedanken versunken, sein Pfeifchen. Ich hielt mich am liebsten am Bienenstand auf. Wenn ich den Immen zusah, wie sie geschäftig ein und aus flogen, dachte ich für eine Weile nicht an Zuhause.

So verging der Sommer und es nahte der Herbst. Nun wurde geerntet und eingekocht.

Zum Erntedank machten wir einen Ausflug. Wir freuten uns über diese Abwechslung und packten unseren Reiseproviant. Als wir in in der kleinen Regionalbahn saßen, war uns allerdings etwas mulmig zumute... Um uns Mut zu machen, sangen wir zaghaft:

bunt sind schon die Wälder...“

Die Bummelbahn zuckelte so durch die Herbstlandschaft und weil wider Erwarten nichts Ungewöhnliches passierte, nickte ich irgendwann ein...

Als ich die Augen wieder aufschlug, klappte meine Lebensgefährtin gerade ihr Buch zu.

Sie schaute mich vergnügt an und sagte: „Na, es schläft sich wohl nicht so bequem im Sitzen, so wie Du aussiehst. Mir war es jedenfalls ganz recht, so konnte ich mein Buch in Ruhe zu Ende lesen. Das würde Dir auch gefallen. Es handelt von einer Gruppe junger Leute, die einen kleinen Bauernhof betreiben. Mit einem Pony, Milchziegen, Hühnern, einem großen Gemüsegarten und Bienenvölkern...

 

Der Zug hielt, und wir stiegen gemeinsam aus. Noch etwas unsicher begleitete ich sie nach Hause.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Thomas Klein).
Der Beitrag wurde von Thomas Klein auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.10.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Thomas Klein als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Komm, ich zeige dir den Weg! von Gudrun Zydek



Durch Träume und Visionen wurde ich zu einer ganz besonderen und geheimnisvollen Art des Schreibens hingeführt: Dem Inspirierten Schreiben! Eine „innere Stimme“ diktierte, was meine Hand aufschrieb, ohne eine einzige Silbe zu verändern! Nie wusste ich vorher, welches Thema an der Reihe sein würde.
Das Buch "Komm, ich zeige dir den Weg!" gibt ungewöhnliche Antworten auf die ewig uralten und doch immer wieder neuen Fragen der Menschen nach ihrem Woher und Wohin, nach dem Sinn des Lebens und seiner zu Grunde liegenden Wahrheit.
Was inspiriertes Schreiben ist und wie mein persönlicher Weg dorthin voller spiritueller Erfahrungen ausgesehen hat, beschreibe ich ausführlich im Vorwort als "Chronik meines Weges".

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Phantastische Prosa" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Thomas Klein

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Räucherstäbchen von Thomas Klein (Wahre Geschichten)
Meine Bergmannsjahre (vierzehnter und letzter Teil) von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen