Christiane Mielck-Retzdorff

Es kann jeden treffen



 
Endlich fand der pensionierte Geschichtsprofessor Zeit, sich einen Jugendtraum zu erfüllen. Schon früh träumte er davon, einen Roman zu schreiben, doch sollte dieser sich einst mit Abenteuern in fremden Ländern beschäftigen und sich später in den Zeiten des finsteren Mittelalters abspielen, interessierte sich Götz Schuster nun für ein anderes Genre. Er selbst las mit Vorliebe Krimis und Thriller, in denen es um Mord ging. Es gefiel ihm, in die Abgründe der Seelen der Menschen einzutauchen, die beim Töten anderer eine geradezu diabolische Lust empfanden. Auch vermeintlich emotionslose Täter, wie der berühmte Hannibal Lektor, faszinierten den Professor. Nun wollte er seine eigene Figur schaffen, sie durch die Tasten seines Laptops zum Leben erwecken.
 
Natürlich hatte er dabei das Ziel, einen Roman zu schreiben, der die Leser mit sich riss und die Bestsellerlisten stürmte. In einer durch das Fernsehen abgestumpften Gesellschaft konnte das nur gelingen, wenn in einen spannenden Handlungsstrang hinterhältige Grausamkeiten eingearbeitet wurden. Die Leser sollten sich angstvoll und erschüttert durch die Seiten hecheln, bis sie endlich mit der Ergreifung des Täters erlöst wurden.
 
Als Opfer boten sich vorzugsweise Frauen an. Sie sollten attraktiv und jung sein, arglos und lebensfroh. Nur der Leser durfte ahnen, dass ihr Untergang nahte, ihnen entsetzliche Qualen bevorstanden. Professor Schuster hatte durch seine Lektüre von zahllosen Kriminalromane gelernt, wie allein die Vorstellung von Dunkelheit oder Stille das Unbehagen schürte. Doch auch eine Ansammlung vieler Menschen, die einander nicht kannten, war geeignet, eine Person unbemerkt verschwinden zu lassen. Angstschreie ließen sich von hysterischen Jubel kaum unterscheiden. Wenn sich der Leser an keinem Ort mehr sicher fühlte, hatte der Roman sein Ziel erreicht.
 
Götz Schuster lebte allein in einer Altbauwohnung. Sie lag im Erdgeschoss einer herrschaftlichen Villa und verfügte sogar über einen kleinen Garten. Dass keine Partnerin das Leben des Professors teilte, begründete sich nicht etwa in der Ablehnung seiner Person durch das weibliche Geschlecht sondern dadurch, dass ihm die ständige Anwesenheit einer Frau auf die Nerven ging. Etliche waren schon in die großzügige Wohnung des wohlhabenden Mannes eingezogen und hatten alles versucht, diesen von einer dauerhaften Beziehung zu überzeugen. Doch keine ertrug es lange ertragen, als störend und unzulänglich angesehen zu werden. Manche ängstigte die offensichtliche Ablehnung des Professors sogar, auch wenn er stets die Regeln seiner guten Erziehung einhielt.
 
Nur seine Putzfrau durfte einmal wöchentlich die Zimmer betreten. Sie hatte sich an seine Marotten gewöhnt und wusste genau, welche Gegenstände nicht verrückt werden durften, wie die Wäsche zu falten und zu bügeln war und dass die Fenster und Spiegel stets einen klaren Blick zu liefern hatten. Um den kleinen Garten kümmerte sich schon seit Jahren ein älterer Mann. Dieser wusste, dass der Professor keinen Wert auf Blumenpracht legte, sondern nur eine durch Hecken geschützte Rasenfläche ohne Unkraut wünschte.
 
Dessen Vergesslichkeit führte Götz Schuster nun an einen Ort, den er nach seiner Erinnerung noch nie betreten hatte. Vom Garten aus führte eine brüchige Steintreppe in einen Keller, der früher als Gesindewohnung diente. Doch zwischenzeitlich waren der Zugang zum Haus und alle Fenster zugemauert worden. Als nach starken Regenfällen Wasser in die Räume eindrang, wurde die Holztür durch eine stabile Eisentür ersetzt, hinter der die Geräte des Gärtners lagerten. Da dieser eines davon benötigte und den Schlüssel vergessen hatte, bot sich der Professor an, die Heckenschere zu holen, während der Gärtner weiter den Rasen mähte.
 
Dort unten herrschte völlige Dunkelheit. Als der Professor einen Lichtschalter bediente, erhellt eine  Glühbirne, die einsam von der Decke hing, den Raum. Sogleich entdeckte er die gewünschte Heckenschere neben anderen Gartengeräten. Ein wackliger Holztisch erinnerte an die einstigen Bewohner. Überall zeigten sich dicke Staubschichten und Spinnen hatten diesen verlassenen Ort erobert.
 
Ein weiterer Raum lockte den Professor. Selbst wenn er wenig erkennen konnte, vermutete er dort das ehemalige Badezimmer. Wanne, Klosett und Waschbecken waren schlampig herausgerissen worden, die Fliesen auf dem Boden teilweise gebrochen. Nur die Tür hatte der Verwesung getrotzt. Als Götz Schuster sie schloss, dachte er, dass dieser Raum einer versteckten Grabkammer glich. Ihn umgab eine unheimliche Stille, in die nur leise aus der Ferne das Knattern des Rasenmähers drang.
 
Mit diesem Kellergewölbe hatte der Autor den perfekten Ort gefunden, um seine morbiden Phantasie auszuleben. Nun galt es, seiner Romanfigur einen passenden Namen zu geben. Er durfte keinesfalls gewöhnlich sein. Als Götz Schuster am nächsten Morgen erwachte, blitzte dieser in seinem Schädel auf. Ignatius Flex. Der ungebräuchliche Vorname war vermutlich seinem Spezialgebiet Mittelalter als Geschichtsprofessor geschuldet. Aber „Flex“ klang modern und erinnerte irgendwie an ein Schneidewerkzeug.
 
Einen Roman zu schreiben bedurfte Fleiß und Disziplin, aber an beidem mangelte es dem Professor nicht. Unermüdlich saß er an seinem Laptop und verschmolz mehr und mehr mit seinem Hauptdarsteller. Dessen Wirken im Verborgenen, wohl durchdacht und doch ohne Sinn faszinierte ihn. Der Entführung und grausamen Folter junger Frauen, die schließlich durch langsame Strangulierung den Qualen nur durch Tod entkommen konnten, erlebte er wie Bilder der Wirklichkeit. Ihre letzte Ruhe fanden die Opfer, mit Löschkalk überstreut, in einer Kellerkammer auf zerborstenen Fliesen.
 
Wenn die Erschöpfung den Professor übermannte, setzte er sich in ein Café und beobachtete Frauen, die vorüber schlenderten. Es war Sommer. Kurze Röcke und tiefe Dekolletés stachelten seine Phantasie an. Manchmal folgte er den Schönen, um ein wenig mehr über ihr Leben zu erfahren. Ihm war bewusst, dass nur die Nähe zur Realität seinem Werk Glanz verleihen konnte.
 
Nach einem Jahr war der Roman fertig. Götz Schuster hatte das Ende offen gelassen, also den Serientäter nicht hinter Gefängnisgitter verbannt. Er wollte in einem zweiten Buch fortführen, was er begonnen hatte. Schon der erste angefragte Verlag erklärte sich freudig bereit, das rund 800 Seiten umfassende, grausame Werk zu veröffentlichen. Zwar zierten sich die Verantwortlichen etwas, als der Professor erklärte, nicht als Autor in Erscheinung treten zu wollen. Er bestand darauf, sich hinter einem Pseudonym zu verstecken. Aber die Überzeugung, mit dem Roman einen Bestseller auf den Markt zu bringen, ließ die Bedenken des Verlags schnell schwinden.
                                                                           
 
***
 
 
Der Versicherungsmathematiker, den alle Natz nannten, schlich mit betrübter Miene in sein Büro. Seine Gedanken kreisten um Julia, jene schöne, fünfzehn Jahre jüngere Frau, mit der er den Rest seines langweiligen Lebens teilen wollte. Sie war einfach verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Weder ihre Eltern noch ihre Freunde schienen sich deswegen zu sorgen, aber Natz war vollkommen verzweifelt. Alle sagten ihm, Julia hätte ihn einfach verlassen, und er solle das akzeptieren.
 
Aber warum? Der Mann von Mitte dreißig war sich durchaus bewusst, dass er nicht zu den Attraktivsten seiner Gattung gehörte. Er hatte stets wenig Glück mit Frauen gehabt. Doch bei Julia hatte er erstmals Seelenverwandtschaft gespürt. Sie studierte Mathematik. So hatten sich zwei Menschen gefunden, die die Welt mit Verstand und Logik betrachteten. Natz hatte sich zwar Mühe gegeben, mit Blumengeschenken wenigstens etwas Romantik in die Beziehung einzubringen, aber letztlich war ihm klar, dass Julia sich ganz bewusst einen Mann mit gutem und sicherem Einkommen gesucht hatte. Als Paar machten sie zwar einen seltsamen Eindruck, da Julias graziles, wohl gerundetes und liebreizendes Erscheinungsbild wenig zu einem untersetzten Mann mit Halbglatze und Bauchansatz passen wollte, aber Äußerlichkeiten schienen der jungen Frau nichts zu bedeuten.
 
So in seinen Trübsinn verwoben, bemerkte Natz nicht, dass er ganz allein an einem Tisch in der überfüllten Kantine beim Mittagessen saß. Erst später,als seine Nachbarin in dem Mehrfamilienhaus bei seinem Anblick die Wohnungstür zuknallte, schrak er auf. Auch wenn es ihm recht gewesen war, konnte er sich nun erinnern, dass, vollkommen unüblich, kein Kollege in der Versicherung das Gespräch mit ihm gesucht hatte. Auf den Fluren war man ihm geradezu ausgewichen. Sein Verstand diktierte ihm aber, dass dieses sicher nur Einbildung war.
 
Doch als er am nächsten Tag, wie jeden Sonnabend, seine Brötchen beim Bäcker einkaufen wollte, verließen die dort tuschelnd versammelten Kundinnen fluchtartig den Laden. Die Verkäuferin starrte ihn an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Hastig warf sie die Tüte mit den Brötchen auf den Tresen und griff mit zitternden Händen nach dem abgezählten Geld. Natz verstand die Welt nicht mehr.
 
Als er wieder das Mehrfamilienhaus erreicht hatte, in dem er wohnte und die Post aus dem Briefkasten nehmen wollte, stellte er entsetzt fest, dass jemand mit roter Farbe das Wort „Mörder“ darauf gepinselt hatte. In dieser wohlhabenden Gegend kam Vandalismus selten vor. Und was hatte dieses Wort überhaupt zu bedeuten. Hier wohnten keine Mörder. Das konnte nur ein Irrtum sein. Dann trat die sechzehnjährige Tochter einer Familie aus dem Haus in die Eingangstür, erblickte Natz und lief schreiend davon.
 
Verwirrt entnahm Natz die Tageszeitung dem verschandelten Briefkasten und schritt Kopf schüttelnd die Treppe zu seiner Etage empor. In seiner Wohnung schmierte er sich zwei halbe Brötchen mit Erdbeermarmelade, schenkte sich einen Kaffee ein und brachte alles zum Esstisch, wo die neusten Nachrichten bereits auf seine Aufmerksamkeit warteten. Als er jedoch die Schlagzeile las, weiteten sich seine Augen vor Ungläubigkeit:
 
Ignatius Flex – ein bestialischer Mörder schlägt zu

Als sähe er einen Geist, starrte der Versicherungsmathematiker auf diese Worte. Direkt unter der Zeile stand dann in deutlich kleiner Schrift die Erklärung:
 
Grausamer Thriller stürmt Bestsellerlisten in Rekordzeit.
 
Sein gescheiter Verstand setzte blitzschnell die Puzzlesteine zusammen. Zwischen Wut und Ratlosigkeit baute das Erkennen der eigenen Hilflosigkeit einen Kerker. Ignatius Flex, das war sein Name!

Morgen folgt der zweite Teil "Rachlust" 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

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