Christiane Mielck-Retzdorff

Rachlust



Fortsetzung der Erzählung "Es kann jeden treffen"
 
Ignatius Flex war sich bewusst, dass zu schweigen und abzuwarten seine einzige Möglichkeit war, der mehr als unerfreulichen Situation zu begegnen. Durch eine Namensgleichheit, sorglos erfunden von einem Autor, musste er sich nun gefallen lassen, als bestialischer Mörder angesehen zu werden.  Ignatius, den alle Natz nannten, versuchte im Internet herauszufinden, welcher Person er diese missliche Lage  zu verdanken hatte. Bald drängte sich ihm der Verdacht auf, dass der Schriftsteller ein Pseudonym benutzte. Das war auch nur zu verständlich, denn allein die Inhaltsangabe über das Werk zeugte von grausamen Folterungen junger Frauen.
 
Es fiel Natz schwer, den Unbeteiligten zu spielen, während seine Mitmenschen ihm mit Angst, Ablehnung oder offener Verachtung begegneten. Selbst Männer, die er für seine Freunde gehalten hatte, verweigerten den Kontakt zu ihm. Wenigstens erklärte sich nun Julias Verschwinden. Vermutlich hatte sie das Buch gelesen und sich zu Tode erschreckt. Nur dass sie glauben konnte, Natz sei tatsächlich so eine Bestie, beleidigte ihn.
 
Um wenigstens in seiner Wohnung Ruhe zu finden, baute er die Namensschilder an Klingel und Briefkasten ab und legte sich ein Postfach zu. Dabei ließ es ihn durchaus nicht unberührt, mit welcher Abscheu die Beamtin hinter dem Schalter ihn betrachtete. Im Büro bei der Versicherung verkroch er sich ganz in seine Arbeit. Zahlen waren so angenehm neutral. Doch seine Vorgesetzen, die einzelne Fälle früher oft und gern mit Natz besprachen, zogen es vor, nur noch per E-Mail mit ihm zu verkehrten.
 
Er musste einige Wochen warten bis er in der Bäckerei, wo er sich jeden Samstag seine Brötchen holte, feststellen konnte, dass die Verkäuferin ihn wieder lächelnd empfing. Die Sensationspresse hatte sich anderer Themen zugewandt, und der Mörder Ignatius Flex geriet in Vergessenheit. Auch seine Nachbarin grüßte ihn gewohnt freundlich. Beim Mittagessen in der Kantine saß er wieder mit seinen Kollegen zusammen, und die E-Mails seiner Chefs wichen vertraulichen Gesprächen.
 
Dann klingelte es eines Abends an der Tür, und eine äußerst beschämte Julia stand vor ihm. Sie stammelte etwas von Bedauern und eigener Dummheit. Dabei flehten ihre Augen um Vergebung. Natz war überglücklich, seine Liebste wieder in die Arme schließen zu können. Doch er wollte vorerst  nicht mit ihr über das Erlebte sprechen und auch nicht über seine Enttäuschung, was ihre Person anging. Diese Zeit der Demütigungen, der ungerechtfertigten, stummen Anklagen und seiner ungläubigen Verzweiflung sollte so schnell wie möglich in Vergessenheit geraten.
 
Doch in Natz wütete ein, ihm bisher fremdes Gefühl, das ihn nicht mehr los ließ. Der Wunsch nach Vergeltung! Während der Alltag ihn mit Harmonie umschmeichelte, schrie sein Herz nach Rache. Auch wenn er äußerlich ruhig geblieben war, hatte das Verhalten seiner Umwelt tiefe Narben bei ihm hinterlassen, die immer noch schmerzten. Sein Name war für immer beschmutzt. Was half es ihm, ein ehrbares Leben geführt zu haben, wenn er damit rechnen musste, dass die Menschen, wenn er seinen Namen nannte, stets an den mörderischen Hauptdarsteller eines Erfolgsthrillers erinnert wurden?
 
Als Natz eines Abends gemütlich bei einem Glas Wein mit Julia zusammen saß, fragte sie ihn plötzlich versonnen, ob er nie an Rache gedacht hätte. Damit stieß seine Partnerin eine Tür zu seinem Gemüt auf, aus der geradezu befreit die Gedanken sprudelten. Natürlich wünschte er sich, dass auch der fremde Autor einmal das durchleiden müsste, was ihm wiederfahren war. Doch ihm wollte nicht einfallen, wie dieses gelingen konnte. Wut über die eigene Hilflosigkeit mischte sich mit dem Eingeständnis seiner tiefen Verletzungen. Und Julia verstand ihn. Zum ersten Mal sprachen sie ehrlich und schonungslos über ihre Gefühle. Dabei entstand eine Nähe zwischen beiden, die sie mit einer leidenschaftlichen Nacht krönten.
 
Schon am nächsten Morgen schmiedeten sie einen Plan. Zuerst musste die wahre Identität des Autors ermittelt werden. Da traf es sich günstig, dass der Verlag, in dem der Thriller erschienen war, zu den Kunden der Versicherung gehörte. Es müssten sich Hinweise finden lassen, wenn es gelang, in den Computer des Verlags einzudringen. Julia verfügte nicht nur über ungewöhnliche Kenntnisse auf diesem Gebiet, sondern gab nun zu, einen Freund zu haben, der bei so einer Mission hilfreich sein konnte. Fortan waren beide nicht nur ein Liebespaar sondern auch Verbündete.
 
Als angebliche Mitarbeiterin der Versicherung erschlich sich Julia Zutritt zu den Räumen des Verlags und installierte auf einem Computer eine Spionagesoftware. Damit konnte sie unerkannt die Festplatte und den E-Mail-Verkehr durchstöbern. Aber offensichtlich ging der Verlag sehr vorsichtig mit sensiblen Daten um. Doch überraschend stieß Julia auf eine, gerade erst eingetroffene E-Mail, in der ein Götz Schuster mitteilte, dass der zweite Teil seines Romans voranschritt, diesmal aber kein offenes Ende geplant sei. Er wolle mit Ignatius Flex abschließen.
 
Die junge Frau erschrak. Es sollte also ein zweites Buch über den grausamen Mörder erscheinen, was ihrem geliebten Partner erneut Qualen bescheren würde. Ihre Körpersäfte gerieten in Wallung. Nun wusste sie, wer sich hinter dem Pseudonym verbarg. Die Rachegelüste hatten ein Ziel. Kaum in seiner Wohnung angekommen, erfuhr Natz von Julias Erfolg. Um ihn nicht zu beunruhigen, verheimlichte sie aber, dass eine Fortsetzung des Romans schon in Arbeit war.
 
Aber wie konnten sie den Autor schmerzhaft treffen? Sollten sie ebenfalls einen grausamen Roman schreiben, in dem nun der Mörder den Namen Götz Schuster trug. Julia traute sich das zwar zu, aber Natz erschien dieser Plan zu gewöhnlich. Er hatte den Beigeschmack von beleidigter Leberwurst. Zwei so intelligenten Menschen musste etwas viel Hinterhältiges, Bösartigeres einfallen. So von den Flammen der Rachsucht entzündet, fielen die Liebenden übereinander her und ließen ihre Leiber bis zur Erschöpfung in Lust erzittern.
 
Den Wohnort von Götz Schuster zu ermitteln war leicht. Natz beobachtete die Wohnung im Erdgeschoss, und als der Professor eines Abends vornehm gekleidet mit einem Taxi den Ort verließ, schlich Natz sich in dessen Garten. Trotz der Dämmerung konnte er gut sehen. Von der Terrasse schaute er durch ein Fenster ins Wohnzimmer, einem mit englischen Antiquitäten eingerichteten, sehr ordentlichen, ja fast unbewohnt wirkenden Raum. Dieser Eindruck stand jedoch im Widerspruch zu dem etwas verwilderten Garten, in dem der Rasen schon seit einiger Zeit nicht gemäht worden war. Vor einer Entdeckung brauchte sich Natz nicht zu fürchten, denn das Grundstück umgaben hohe Hecken. Die Jalousien der oberen Etage der Nachbarhäuser waren, wie an den vorherigen Tagen, heruntergelassen, was für eine längere Abwesenheit der dortigen Bewohner sprach.
 
Enttäuscht, nichts Bemerkenswertes entdeckt zu haben, wollte Natz sich auf den Heimweg machen, als er die brüchige Steintreppe zum Keller entdeckte. Er zückte seine Taschenlampe. Verwundert erkannte er die massive Metalltür vor dem Eingang. Was mochte sich dahinter verbergen? Als er sich zum Gehen wandte, streifte ein seltsamer Geruch seine Nase. Er schaute an sich hinab, ob dort unten vielleicht ein totes Tier lag, schob mit seinen Füßen etwas Laub und Schmutz beiseite. Nichts. Schnüffelnd versuchte Natz die Herkunft des Geruchs, der ihn an Verwesung erinnerte, zu ermitteln. Durch die Tür konnte schwerlich etwas nach außen dringen. Aber an ihrer oberen Kante bemerkte er bröckeligen Mörtel. Ein Mauerstein war lose. Als er an diesem rüttelte, verstärkte sich der Geruch. Angewidert wich Natz zurück. Irgendetwas vergammelte dort unten.
 
Julia war eindeutig phantasiebegabter als ihr Partner. So konfrontierte sie Natz mit der Vorstellung, dass der Autor, jener Götz Schuster, vielleicht nicht nur über einen Mörder schrieb, sondern selbst einer war und seine getöteten Opfer in jenem Kellerraum lagerte. Natz war schockiert. Doch dann fragte sein Verstand, ob ein Geschichtsprofessor überhaupt in der Lage war, sich solche brutalen Foltermethoden auszudenken? War es nicht bei allen Wissenschaftlern üblich, ihre Thesen durch Experimente zu stützen? Konnten solch präzise Schilderungen wie in dem Buch allein der Phantasie des Autors entspringen? Verbarg sich hinter dem gebildeten, wohlhabenden Mann eine skrupellose Bestie, die sich köstliche darüber amüsierte, wie sie ihre schrecklichen Taten durch einen Roman vergoldete?
 
Julia und Natz sprachen nun jeden Abend verschiedene Möglichkeiten durch, sich an dem Professor zu rächen. Sie konnten der Polizei den anonymen Hinweis auf einen Mörder geben. Dann würde dieser im Gefängnis landen und sähe sich hilflos den Grausamkeiten seiner Mitgefangenen ausgesetzt. Oder sie konnten die Presse über den tatsächlichen Namen des Autors unterrichten, natürlich nicht ohne den Verwesungsgeruch aus dessen Keller zu erwähnen. Dann würden die sensationslüsternen Journalisten den Mann belagern und jagen, bis sein Leben in Trümmern lag. Oder sie konnten einen Verdacht in den sozialen Netzwerken des Internets äußern, woraufhin das Haus, in dem der Professor wohnte, mit Hassparolen verschandelt werden würde. Dabei wurden aus den einstigen Rachegelüsten des Paares langsam aufregende Spinnereien, die stets in einem heftigen, bisweilen sogar bizarren Liebesspiel gipfelten.
 
Der grausame Mörder Ignatius Flex starb am Ende des zweiten Teils des Romans. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte eine brüchige Steintreppe hinab. Wieder wurde das Buch ein Bestseller, doch da Natz noch ausgesprochen lebendig war, begannen die Leute über die Namensgleichheit zu lachen. Nur mit Julia schmiedete er vergnügt weiter Rachepläne an Götz Schuster, die beide zwar nie umsetzten, aber ihr Sexualleben erheblich bereicherten.
  
 
 
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christiane Mielck-Retzdorff).
Der Beitrag wurde von Christiane Mielck-Retzdorff auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.10.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Christiane Mielck-Retzdorff als Lieblingsautorin markieren

Buch von Christiane Mielck-Retzdorff:

cover

Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (6)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Spannende Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Christiane Mielck-Retzdorff

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Unsichtbare von Christiane Mielck-Retzdorff (Spannende Geschichten)
Bayr. Konjunktiv & Grammatik von Paul Rudolf Uhl (Skurriles)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen