David Schultz

Die Heilige Frau der Hähnchen

Claudio hatte den ganzen Morgen an der Hafenanlage nach Arbeit gesucht, jedoch ohne Erfolg. Wenn er Glück hat, verdient er 100 oder 200 Pesos für eine kurze Besorgung, ein besserer Job wurde nie einem Jungen seines Alters angeboten. Das war wenig Geld, aber jeder Betrag könnte hilfreich sein. Es wurde ihm einst kleine Aufgaben an einer Tankstelle aufgetragen, wo in ihm die Begierde wuchs Autos zu reparieren. Aber nun saß er im Leerlauf, in seiner Hand das kleine Modell eines Ford Mustang, welches er in der Hosentasche immer bei sich trug, als seine stärkste Glücksquelle. Dieser Gegenstand ähnelte der Benedicción, die seine Mutter ihm gab, seinen Kopf berührend, jedes Mal wenn er die Hütte verließ. Aber nun fühlte er sich nutzlos, da er nicht einmal ein Centavo nach Hause zur Mutter bringen konnte.
Als er auf den verlassenen Frachtpaletten saß, schwebte vor ihm, aus dem glänzenden Metall-Schornstein der Hähnchenbraterei, aufsteigender Rauch von gebratenen Hühnchen. Während er die weißen Duftwolken beobachtete und geistesabwesend den neuen Schorf von seinem Bein kratzte, kam ein Auto und blieb unweit von ihm stehen. Ein Mann mit Sonnenbrille saß am Steuer. Plotzlich schrie der Mann eine Person an, die auf dem Rücksitz saß. Die hintere Tür wurde geöffnet und eine Frau stieg aus, schlug die Tür heftig zu, und entfernte sich vom Auto. Sie war in einem weißen anfällligen Brautkleid gekleidet und ging unsicher, als ob sie zu viel getrunken hätte. Sie näherte sich zu einer Telefonzelle aus der das Telefon herausgerissen war. Als sie Claudio bemerkte, lächelte sie, wie die bezaubernde Frau in der Plakatwerbung für Bavaria Bier, und ging auf ihn zu, die Hüften langsam bebend.
"Was machst du da denn, Joven?" fragte sie. Claudio bemerkte, sie nannte ihn nicht "Junge", sondern “junger Mann,” was ihm gut gefiel.
"Ich suche Arbeit", sagte er.
"Es ist jetzt schon zu spät. Keiner ist da."
"Ja, señora." Er war dann den Tränen nahe, da der Tag vorbei war und er würde nichts beruhigendes seiner Mutter erzählen konnen.
"Wie heißt du denn?" fragte die Frau.
"Claudio Botero, señora." Sein Nachname hinzufügen, was ein wohlerzogener Junge tun würde, war ihm der Heiserkeit wegen peinlich.
Die Frau sprach herzlich und sagte ihm, er siehe dünn aus und deshalb sei es wichtig, daß er gut essen müsse, damit er ein hohes und gesundes Alter erreiche, und das außerhalb der verarmten Hütte wo er mit seiner Mutter zu zweit lebte.
Dann bückte sie sich dicht an seinem Ohr und sagte er sei hübsch – - und daß sie ihn zu einem schönem Haus mitnehmen möchte. Ihre Roten Lippen und der Duft ihres Parfüms werwirrten ihn und machten ihn schwindlig.
"Du möchtest sicherlich mit mir kommen ... für eine kleine Weile, nicht wahr, Claudiosito ?"
"Ja," erwiderte er, schwerfallend nein zu sagen, „aber meine Mutter ist krank, und wir brauchen etwas zum Essen. Wir haben nichts."
Sie packte sein Handgelenk und er bekam den Stich ihrer Fingernägel zu spüren.
"Sieh mal, in dieser Hütte röstet man Hähnchen - die gleichen, die am grossen Platz verkauft werden. Sei mutig - zeige mir, daß du es kannst - greife ein Paar Hähnchen. Ich wette, du bist schneller als niemand sonst. Keiner wird dich sehen."
"Aber die Polizei, señora - "
"Sei nicht albern. Du wirst in einem Moment verschwunden sein. Und wenn du genug Hühner kriegst, dann kannst du einige auf dem grossen Platz für gutes Geld verkaufen. Geld , Claudiosito. Geld! Hörst du mir zu?“
Während sie sprach, öffnete sich die Tür der Hütte, aus der ein gebräunter, faltiger Mann mit einem Schlaffen erschien. Er schob einen zweirädrigen Karren voll dampfender, frisch gebratener an Stäben aufgespießte Hähnchen, die in Schichten auf Bananenblättern lagen.
"Schau mal. Läuft dir nicht das Wasser im Mund zusammen?" flüsterte ihm die Frau zu, während sie seine Schulter drückte. "Geh schon, schnell!"
Claudio reagierte schnell. Vorsichtig folgte er dem Mann, die Frau laufend hinter ihm her. Er drehte sich alle zwanzig Schritte um, um sich zu vergewissern, daß sie ihm noch immer folgte. Plötzlich hielte der Mann an. Claudio lief schnell hinter einen Gabelstapler. Der Mann stützte sorgfältig den Karren gegen den Bordsteig und setzte sich auf den Boden, den Rücken an eine Hauswand, die im Schatten eines überhängenden Blechdaches lag. Das Kinn auf der Brust gestützt fing er in wenigen Sekunden an zu schnarchen -- Bienen und Wespen landeten auf den Stapel der gebratenen Hähnchen.
Claudio lief in Richtung des Karren, sein Messer bereithaltend. Mit schnellen Stichen schnitt er die Seile von den zwei Stäben -- jedes von ihnen drei kleine Hähnchen trug. Er sammelte die sechs Vögel ein und lief in Richtung des Bohrturms, weiter unten bei den Docks. Er dachte, er hörte einen Schuß, jedoch im nächsten Moment war er mit den Hähnchen um die Ecke verschwunden.
Nun sah er sich nach der Frau im weißen Kleid um, sie war nirgends. Er kauerte in die Tür eines Gebäudes und wartete dort. Es war ihm schier eine lange Zeit, die warmen Hähnchen an seine Brust festhaltend. Er fragte sich, ob er ihre Wärme so stark fühlte, weil sein Körper so dünn war.

Er sah die Frau nie wieder. Oft aber erinnerte er sich an ihre TV- Novelle schauspielerischen Stimme und Gesicht, aber erzählte niemandem seinen Abenteuer mit ihr. Ab und zu, erinnerte er sich an ihr Kleid mit den Spitzen am Hals und an den Handgelenken genäht, ein Kleid von einem Styl, den seine Mutter einst trug,. Er fragt sich oft, warum die Frau ohne irgendwelche Hähnchen mitzunehmen verschwunden war. Er nannte sie Heilige Frau der Hähnchen und erzählte seiner Mutter den Wunder, als sie zusammen aßen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.11.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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