Helmut Wurm

Sokrates, der IS und die Rache der Geschichte


 
Sokrates schlendert eine belebte Straße einer mitteleuropäischen Großstadt entlang, eine ausgeprägte Multi-Kulti-Straße. Vor den Restaurants, Cafés und Geschäften sitzen und stehen Menschen verschiedenster Religionen und Herkunft. Aus der Menge ruft ihm jemand zu:
 
Ein Rufer: Ist das nicht Sokrates, der nicht sterben muss, weil er uns zum Nachdenken bringen soll? Was sagst Du, Sokrates, zum IS-Kreuzzug gegen alle nicht Islam-Gläubigen und gegen Europa und überhaupt zum IS-Terror? Hast Du so etwas schon mal im Verlauf der Geschichte erlebt? Was sollen wir dazu bedenken?
 
Sokrates (bleibt stehen): In der Geschichte wiederholt sich das meiste, nur mit anderen Menschen, unter anderen Namen und an anderen Orten. So etwas wie der derzeitige IS-Kreuzzug hat es in der Geschichte schon öfter gegeben, ausgelöst durch Religionen, die behaupteten, dass sie die alleinige Wahrheit vertreten, dass ihr Gott das selber so gesagt habe und dass ihre Lehre über ihre Nachbarn oder sogar über die ganze Welt verbreitete werden müsse. Religiös so tolerant wie die Römer waren die meisten Staatengebilde nicht.
 
Der Rufer: Kannst Du für diese Behauptung einige Beispiele nennen?
 
Sokrates: Die Juden haben bei ihrer Einwanderung in Palästina die Vorbevölkerungen mit anderen religiösen Vorstellungen unterworfen, häufig vertrieben, bekämpft, ausgerottet... Eine dauerhaft sichtbare Entschuldigung, z.B. in Form eines um Vergebung bittenden Monumentes, hat es aber dafür bisher nicht gegeben…
 
Ein Zwischenrufer: Die jüdische Religion ist die wirklich wahre Religion. Das hat Jahwe in seinen Verkündigungen und seinen Geboten deutlich mitgeteilt… Die Juden haben mittlerweile nur verstanden, dass es klüger ist, die Strafe für die Nichtannahme des jüdischen Glaubens Jahwe beim Jüngsten Gericht zu überlassen.
 
Sokrates (fährt fort): Die Katholiken haben im Mittelalter und in der Neuzeit in Europa und Südamerika Millionen Andersgläubige bekämpft, vertrieben, getötet, zwangsmissioniert… Der Vatikan hat in den letzten Jahrzehnten kurze Entschuldigungen dafür ausgesprochen. Aber eine dauerhaft sichtbare Entschuldigung, z.B. in Form eines um Vergebung bittenden Monumentes, hat es bisher noch nicht gegeben…
 
Ein Zwischenrufer: Die katholische Religion ist die einzige wirklich wahre Religion. Das hat Gott in seinen Verkündigungen und seinen Geboten deutlich mitgeteilt… Die Katholiken haben mittlerweile nur verstanden, dass es klüger ist, die Strafe für die Nichtannahme des katholischen Glaubens an Gott beim Jüngsten Gericht weiter zu geben…
 
Sokrates (fährt fort): Die Calvinisten haben in Irland und Nordamerika Andersgläubige und Indianer bekämpft, vertrieben, getötet, zwangsmissioniert… Eine dauerhaft sichtbare Entschuldigung, z.B. in Form eines um Vergebung bittenden Monumentes, hat es bisher aber nicht gegeben…
 
Ein Zwischenrufer: Die calvinistische Religion ist die wirklich wahre Religion. Das haben die Interpreten des Alten und Neuen Testamentes klar herausgearbeitet… Die Calvinisten haben mittlerweile nur verstanden, dass es klüger ist, die Strafe für die Nichtannahme des calvinistischen Glaubens Gott beim Jüngsten Gericht zu überlassen…
 
Sokrates (fährt fort): Und dann kam die anglikanisch-englische Religion in Verbindung mit dem englischen Kolonialismus und Rassismus. Diese Allianz erklärte, dass die Engländer die beste Rasse der Welt wären und dass Gott wolle, dass möglichst viele Gebiete der Welt als Kolonien unter britische Herschaft gestellt würden. Und das haben sie mit allen Mitteln, auch mit Krieg und Unterdrückung verwirklicht. Das hat natürlich viel Verbitterung bei den dortigen Bevölkerungen hinterlassen. Die großen Kolonialmächte versuchen zwar, ihren ehemaligen Kolonialismus herunterzuspielen. Eine dauerhaft sichtbare Entschuldigung, z.B. in Form eines um Vergebung bittenden Monumentes, hat es für die koloniale Unterjochung bisher noch nicht gegeben…
 
Ein Zwischenrufer: Der britische Kolonialismus war das wirklich richtige, gottgewollte  Kolonialsystem… Wegen des beängstigend Bevölkerungswachstums in den afrikanischen und asiatischen Kolonien hat England klugerweise diesen Kolonien die Freiheit gegeben, aber die Bevölkerungen werden noch feststellen, dass sie als britische Dauer-Kolonien eine bessere Entwicklung genommen hätten…
 
Sokrates (fährt fort): Die strenggläubigen Muslime haben im Mittelalter und in der Neuzeit Millionen Andersgläubiger unterdrückt, bekämpft, vertrieben, getötet, zwangsmissioniert… Der moderne gemäßigte Islam hat zwar Erklärungen des Bedauerns dafür ausgesprochen. Eine dauerhaft sichtbare Entschuldigung, z.B. in Form eines um Vergebung bittenden Monumentes, hat es aber bisher noch nicht gegeben…
 
Ein Zwischenrufer: Die islamische Religion ist die wirklich wahre Religion. Das hat Allah durch Mohammed verkündigt… Die meisten Muslime haben mittlerweile nur verstanden, dass es klüger ist, die Strafe für die Nichtannahme des muslimischen Glaubens Allah beim Jüngsten Gericht zu überlassen…
 
Sokrates (fährt fort): Der radikale Islam holt jetzt zum Gegenschlag aus, besonders gegen Europa und die USA. Er befindet sich in der Phase der "Islamischen Kreuzzüge", des Dschihads gegen alle Nicht-Muslime und gegen gemäßigte Muslime. Er will die Bestrafung nicht Allah beim Jüngsten Gericht überlassen, sondern die Bestrafung soll jetzt schon erfolgen…
 
Ein Zwischenrufer: Der radikale Islam ist die wirklich einzige wahre und konsequente Religion.
Sie überlässt nichts Allah in einem fernen Gericht, sondern handelt. Sie begeistert islamische Jugendliche, die nach einem Lebenssinn suchen, den sie im westlichen Spaß-Leben nicht finden… Der radikale Islam ist die Rache der Geschichte für die Arroganz der christlichen Religionen und für die kolonialen Unterdrückungen…
 
Sokrates (zu den Zuhörern): Ich hoffe, meine Beispiele zeigten, dass sich religiöse oder religiös verbrämte Verbrechen an den Menschen bis in die Zeit des Altertums und noch weiter zurück verfolgt lassen. Aber das hilft jetzt bei den aktuellen Bedrohungen nicht weiter. Man kann nur hoffen, dass der radikale Islam nicht mehrere Jahrhunderte benötigt um sich zu mäßigen, so wie das bei den verschiedenen Strömungen der Christen und beim Kolonialismus der Fall war, sondern dass ihm diese Einsicht bald kommt. Dann wäre er, historisch gesehen, nicht so schlimm wie die radikalen Christen und der Kolonialismus…
 
Die Christen, vor allem die Katholiken und Calvinisten, und die ehemaligen Kolonialmächte sollten sich also nicht so entsetzt zeigen über die Verbrechen und den Terror des radikalen Islam. Sie waren teilweise noch schlimmer… Die Geschichte schlägt jetzt auf sie zurück.    
 
Damit geht Sokrates weiter. Er lässt nachdenkliche Gesichter zurück.
 
(Niedergeschrieben vom discipulus Sokratis, der zusammen mit Sokrates die Multi-Kulti-Straße entlang geschlendert ist)
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.11.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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