Irene Beddies

Die alte Frau und das Bettelkind


 
 

Die alte Frau hielt das kleine Mädchen fest an der Hand.
Sie liefen querfeldein, weg von der Stadt. Sie hörten noch, wie die Stadttore geschlossen wurden, dann war es still ringsum.
„Wohin nimmst du mich mit?“, fragte das Mädchen ängstlich.
„Ich bringe dich an einen Ort, wo es dir gut gehen wird, das habe ich dir doch schon versprochen vor der Kirche.“
„Ja. Aber wohin? Meine Füße tun weh.“
„Das musst du noch ein wenig länger aushalten. Wenn wir erst da sind, kannst du deine Füße in warmem Wasser aufwärmen.“
Das Kind verstummte wieder und stolperte neben der Frau weiter.
Je weiter sie sich von der Stadt entfernten, umso dichter wurde der Nebel. Zuerst war er noch dünn gewesen und hatte nur über dem Boden gelegen, jetzt aber verdichtete er sich zu einer dicken Suppe.
„Wohin bringst du mich?“, begann das Mädchen wieder, „ich kann gar nichts mehr sehen. Ich möchte zu den anderen Kindern zurück in die Stadt, da sind Lichter, auch wenn es neblig ist.“
„Es dauert nicht mehr lange“, tröstete die alte Frau, „wir müssen nur in den Wald kommen.“
„Da sind wilde Tiere“, hauchte das Kind furchtsam und Tränen liefen über seine verschmutzten Wangen.
„Hab keine Angst. Nur noch ein kleines Stückchen Weg.“  Die alte Frau strich dem verängstigten Mädchen im Weitergehen beruhigend über das Haar und summte ein kleines Liedchen.
 
Nicht lange danach blieb die Frau stehen und tastete in ihrer Tasche nach einem Schlüssel. Sie hatte den Weg trotz des Nebels sicher gefunden und stand nun vor dem kleinen Haus. Sie schloss die Tür auf, zündete eine Kerze an und führte das Kind in die Küche. Sie setzte es auf einen Stuhl und zündete weitere Lichter an und machte Feuer im Herd.
Das Mädchen sah sich ängstlich und zugleich neugierig um. In einem Haus hatte es schon lange nicht mehr geweilt, nur in Verstecken in Schuppen, an unzugänglichen Ecken neben den  Straßen und nahe der Gräber auf den Friedhöfen. Sein Essen musste es erbetteln, die Kleidung irgendwo stehlen, wenn sich eine Gelegenheit bot.
Da saß es nun, baumelte ein wenig mit den Beinen und betrachtete müde dieTätigkeit der unbekannten Alten.
„Wie heißt du?“, fragte schließlich die Frau, während sie heißes Wasser in eine große Schüssel füllte.
„Maria“, antwortete das Kind leise, „sie haben mich immer Maria genannt.“
„Nun, Maria, jetzt ist das Wasser für deine Füße fertig. Später kannst du dich auch noch waschen. Aber erst deine Füße, sie sehen schon ganz blau vor Kälte aus.“
Sie schob Maria die Waschschüssel vor einen niedrigen Hocker und half dem Mädchen, sich zurechtzusetzen. Offenbar hatte es noch nie ein Fußbad genommen. Dann betrachtete sie nachdenklich die zerlumpte Kleidung, den Schmutz und die verfilzten Haare.
 
Während die kleine Maria ihre Füße im warmen Wasser vorsichtig hin und her bewegte, machte sich die Frau am Herd zu schaffen, um eine Mahlzeit zu kochen. Sie legte reichlich Speck und viel Gemüse in einen großen Topf, füllte Wasser auf und hielt die eingeweichten Linsen bereit. Als es im Topf brodelte, wandte sie sich wieder Maria zu.
„Bitte, Maria, wasch dir die Hände und das Gesicht,  wir wollen bald essen.“ Sie deckte  den Küchentisch.
Als die Suppe fertig war, war das Kind einigermaßen sauber, und sie konnten sich an den Tisch setzen. Maria schaute auf den gefüllten Teller, wagte aber nicht anzufangen, denn sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Die Frau bemerkte, dass Maria wohl schon eine Ewigkeit nichts Gekochtes zu sehen bekommen hatte, sondern nur von hartem Brot und Käseresten gelebt haben musste. Vielleicht hatten ihr die größeren Kinder gelegentlich eine über offenem Feuergebratene Ratte geschenkt, die sie dann aus der Hand gegessen hatte.  Also machte die Frau ihr vor, wie sie den Löffel halten konnte, um die Suppe zu essen.
„Kind, hat dir niemand beigebracht, wie man Suppe isst?“
„Nein“, antwortete Maria verwirrt, „wir lebten alle nur auf der Straße. Da gab es nichts, wo wir kochen konnten. – Wie heißt du denn?“
„Ich bin die alte Martha. Ich wohne ganz allein in diesem Häuschen fern der Stadt. Allmählich werde ich zu alt, um allein zurechtzukommen. Da habe ich in den Straßen nach einem Mädchen gesucht, das mir gefällt und das ich alles lehren kann, was ich weiß. Das Kind soll mir allmählich ein wenig helfen und mir Gesellschaft leisten. Meine Wahl fiel auf dich. Du scheinst Verstand zu haben und bist nicht so wild und gemein wie die anderen. Du scheinst von Eltern aus besseren Verhältnissen zu stammen, was immer dir auch nach deiner Geburt geschehen ist. Das kannst du später erzählen, wenn du magst. Jetzt ist erst einmal wichtig, dass du lernst, dich sauber zu halten und keine Angst mehr zu haben.“
Maria sah sie mit großen Augen an, verstand aber nicht alles, was Martha sagte. Sie war zu überwältigt von der kräftigen Mahlzeit, müde von dem langen Weg und der Wärme im Haus. Sie wurde schläfrig, und Martha musste einsehen, dass an ein gründliches Bad für heute nicht mehr zu denken war. Sie öffnete eine Tür, die in eine kleine Kammer führte, und brachte Maria zu Bett. Die schlief gleich ein, warm zugedeckt mit einer Pferdedecke.
 
In den nächsten Tagen wurde das Bad nachgeholt, wurden die Lumpen, soweit sie überhaupt noch etwas taugten, gewaschen und  einfache neue Kleider aus Marthas Stoffvorrat genäht.
Maria war still und schüchtern, sie konnte das Wunder, als das sie das Geschehen betrachtete, nicht ganz glauben und hatte Angst, alles wäre nur ein Traum: das sauber bezogene Bett, das so ganz anders war als ihre üblichen Schlafstätten im Heu oder Stroh oder auf der nackten Erde. Die Pferdedecke der ersten Nacht war verschwunden.
Martha ließ das Mädchen erst einmal in Ruhe, stellte keine Fragen, erklärte geduldig, wozu Reinlichkeit gut war, und kümmerte sich um die zerschundenen Füße des Kindes, indem sie Salben auftrug und Maria die ersten Tage nur in Filzpantoffeln im Hause herumlaufen ließ.
Mit der Zeit fand sich Maria zurecht und konnte Martha schon ein wenig entlasten bei der Hausarbeit. Auch fasste sie Vertrauen und beobachtete ihre Gönnerin aufmerksam, um noch mehr zu lernen. Sie wunderte sich nur, dass Martha in Vollmondnächten das Haus verließ und erst am frühen Morgen zurückkehrte.
 
So ging etwa ein Jahr ins Land, bevor Martha begann, Maria Buchstaben und Zahlen beizubringen. Als sie merkte, dass Maria einen beweglichen Geist und einen ungeheuren Lerneifer an den Tag legte, dauerte es nicht lange, bis Maria Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschte.
Eines Tages forderte Martha sie auf, sich das beste Kleid anzuziehen und in feste Schuhe zu schlüpfen. Sie nahm das Mädchen an die Hand und ging mit ihr den Weg zur Stadt, auf dem sie den Ort einst verlassen hatten. Nun herrschte kein Nebel, die Sonne schien strahlend von Himmel.
Am Stadttor herrsche reges Treiben, denn es war Markttag. Martha kümmerte sich nicht darum, sondern strebte zum Rathaus, während Maria neugierig alles betrachtete, was sie längst verlassen hatte. Die Straßenkinder erkannten sie nicht, sie selbst machte auch keine Anstalten, die ihr Vertrauten zu begrüßen. Sie schämte sich ein wenig ihres Glücks. Sie war froh, dem Elend entronnen zu sein.
Marthas steuerte im Rathaus die Amtsstube des Kämmerers an. Sie hatte etwas wegen des Häuschens zu erledigen. Als der Kämmerer aufblickte, um die beiden zu verabschieden, stutze er und schaute Maria durchdringend an.
„Ist das deine Enkelin?“, fragte er Martha.
„Nein, sie war eines der Straßenkinder. Ich habe sie aufgenommen, um Gesellschaft zu haben, jetzt, da ich richtig alt werde. Sie ist ein gelehriges Kind, kann rechnen und schreiben, weiß in Dingen des Haushalts Bescheid und ist mir sehr ans Herz gewachsen.“
„Weißt du etwas über ihre Herkunft?“, fragte nachdenklich der Amtmann.
„Nein. Sie weiß es auch nicht. Ich nehme aber an, dass sie von Geburt aus besseren Standes ist.“
„Hat sie irgendeinen Gegenstand bei sich gehabt, als du sie aufgenommen hast?“
„Nein, sie war in Lumpen gehüllt, völlig verwahrlost, wie es eben bei Bettelkindern der Fall ist.“
„Maria“, begann der Kämmerer, „erinnerst du dich an irgendetwas aus deinen frühen Kindertagen?“
Maria schaute ihn große an. Sie wusste nichts zu antworten.
Der Mann wandte sich wieder an Martha: „Hat sie irgendein Mal an ihrem Körper?“
„Ja, sie hat ein herzförmiges Muttermal auf der Lende.“
Mehr wurde nicht gesagt an diesem Tag.
 
Beim nächsten Vollmond war Martha wieder die ganze Nacht verschwunden und kehrte erst am Morgen zurück. Tags darauf ging sie noch einmal mit Maria in die Stadt zum Kämmerer, um ein wichtiges Papier abzuholen. Als der Mann ihr das Dokument gab, lächelte sie verstohlen. Und schon kam die Frage des Kämmerers: „Weißt du, wer noch ein solches Muttermal auf der Lende hat?“
Martha schüttelte zwar den Kopf, lächelte aber noch immer.
„Wer denn?“, fragte sie scheinheilig.
„Mein Bruder hatte solch ein Mal. Er ist schon lange tot. Kurz nach der Geburt eines Mädchens starb er unter nicht ganz geklärten Umständen. Seine Frau war eine böse Person. Sie verließ sofort die Stadt. Von  ihrem Kind fehlt seitdem jede Spur. Sie kehrte allein zurück und verlangte ihr Erbe mit der Behauptung, das Kind sei nicht lebensfähig gewesen.“
„Ja, das habe ich gestern Nacht auch erfahren. Es könnte sein, dass…“. Sie schaute auf Maria, die offenbar von der Bedeutung des Gesprächs nichts mitbekommen, sich stattdessen eine hölzerne Christusfigur an der Wand angesehen hatte.
Der Kämmerer nickte. „Wir sollten warten und nichts überstürzen. Das Kind sollte weiterhin bei dir bleiben, bis ich mit höheren Stellen beraten habe, wie wir Nachforschungen anstellen können.“
„Das ist nicht nötig. Ich weiß alles. Ich bin die Tante der Frau deines Bruders. Letzte Nacht war ich bei ihr. Sie hat seit Jahren den Verstand verloren, nachdem sie sich mit einer Gruppe von Hexen eingelassen hatte. Sie lebt bei Leuten, die sie aufgenommen haben und pflegen. In einem ihrer wenigen klaren Momente bei Vollmond konnte ich ihr die Mitteilung über das Muttermal entlocken. Es ist sicher: Maria ist deine Nichte.“
„Das sollte sie erst später erfahren. Mit ihren 9 Jahren würde sie das nicht verkraften können. Sie bleibt bei dir, damit ihre Seele heilen kann. Ich werde euch unterstützen, wenn ihr Unterstützung braucht.“
„Danke, wir kommen gut so zurecht. Ich werde sie zu einer tugendhaften jungen Frau ausbilden. Falls ich vor der Zeit sterbe, dann musst du einen Weg finden, für sie zu sorgen.“
 
 
 
© I. Beddies

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.11.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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