Petra von Breitenbach

die Abreise

Sie hatte die Nacht länger wachgelegen.
Der Wecker stand auf halb sieben, seit 2 Uhr konnte sie nicht mehr schlafen und nun war es halb vier.
Der Zug würde  9.49 Uhr abfahren. Der Bus, der etwa 3 Minuten von ihrer Wohnung entfernt abfuhr, ging tagsüber alle 7 Minuten. Also wäre sie spätestens um 9 Uhr an der Haltestelle.
Wenn sie ihn  verpassen würde, würde der nächste auch noch reichen. Sie könnte dann eine frühere S-Bahn nach Mainz nehmen. Um 10.17 Uhr Abfahrt nach München. Sie hatte eine Platzkarte. Merke: Wagen 270, Platz 52 Großraum, Fenster. Der Wagenstandsanzeiger gab Auskunft, wo man sich am Bahnsteig aufhalten sollte.
Sie musste raus aus der Enge - ihrer Uninspiriertheit. Die Fenster ihres Hauses waren seit Wochen von einer zementgrauen Plane umhüllt:  Fassadenreinigung.
Eigentlich gehörte es immer zum Abreisen: das Ritual – alles klar Schiff. Wer weiß, ob sie zurückkäme. In ihrer Fantasie hatte sie sich schon oft ausgemalt, wie die nächsten Angehörigen schweigend ihre Wohnung betreten, die ein Schlüsseldienst geöffnet hatte. Da sollte es respektabel  aussehen!
Sie verließ aber diesmal Wohnung, ohne vorher die silberne Teekanne in die Küche zu bringen und auszuleeren und kurz durchzusaugen. Entschuldbar, denn sie wäre ja um Mitternacht wieder zu Hause, aber unlogisch, denn die Zeitlänge der Abwesenheit entschied ja nicht über diese Frage.
Dafür hatte sie sich um ihren Reiseproviant gekümmert:   Die Thermoskanne mit schwarzem Tee gefüllt und zwei Eier gekocht. Dazu Butterbrote geschmiert.
Vielleicht konnte sie an der Post noch ein bisschen Bargeld abheben.
Sie lief behangen mit Umhängetasche, Rucksack und Regenmantel zur  Bushaltestelle.
Zeit genug, egal wann der Bus käme, beruhigend. Sie war dann eine halbe Stunde vor Abfahrt am Bahnhof. Zeit zum Geld holen und Milchkaffee, ein Rosinenkringel am Biobäckerstand. Der Kaffee tat seine wohlige Wirkung. Nun endlich konnte sie loslassen.
Auf der großen Infotafel war ihr Zug ausgewiesen, ein Laufband zeigte an: Klimaanlage defekt Wagen 276. Das war zum Glück nicht ihr Wagen.
Sie ließ ihre Gedanken passieren und  rekapitulierte ihren Start von zu Hause: sie hatte den Stecker des Wasserkochers herausgezogen. Sie hatte am Herd gestanden, wegen der kochenden Eier und des Teewassers.
Ihr fiel ein, dass sie nicht nachgeschaut hatte, ob der Schalter am Herd auf null stand. Neulich hatte sie ein seltsames Erlebnis: der leere Topf stand auf der Ceranplatte, die rot glühte. Sie hatte es bemerkt, weil sie wegen des Regens noch einmal in die Wohnung gegangen war um einen Schirm zu holen. Da hatte es seltsam nach Metall gerochen, ein ihr völlig fremder Geruch. Damals hatte sie sich eigentlich   vorgenommen, ein Schild an die Wohnungstür zu machen: Herd aus?
Aber eines war für heute klar: der Topf stand nicht mehr auf dem Herd, denn die Platte glüht immer noch eine Weile nach und sie hatte das heiße Wasser im Spülbecken ausgeleert.
Wenn sie die Herdplatte nicht ausgeschaltet hätte, wäre ihr das ja aufgefallen, weil sie, nachdem sie die Eier gekocht hatte, erst das Teewasser heiß gemacht hatte.
Sie hätte es gerochen – diesen heißen metallischen Geruch. Nein, der Topf stand ja nicht darauf. Sie hätte die rotglühende Platte bemerkt.
Nicht unbedingt, denn sie schalten sich ab einer bestimmten Temperatur wieder herunter, um sich dann wieder auf die Höhe der Schaltereinstellung zu erhitzen.
Sie beobachtete die Reisenden. Alle diese Menschen – hatten sie zu Hause alles ausgemacht?  Sie versuchte in der Mimik einzelner Reisender eine gewisse Unruhe festzustellen. Ungläubig konstatierte sie: sie waren für die Reise sorgfältig angezogen und frisiert, wirkten gelassen bis fröhlich und absolut sorglos.
Sicher hatten sie sich auch die Zeit genommen, zu Hause alles aufzuräumen.
Woher nahmen sie sonst diese Gelassenheit?
Sie entsorgte ihren Kaffeebecher im Papiercontainer. Es wäre noch knapp Zeit gewesen, per Taxi nach Hause zu fahren, um nachzusehen. Dazu konnte sie sich nicht entscheiden.
Die Kochplatte würde wahrscheinlich durchbrennen. Sicher gab es da eine Sicherheitsabschaltung. So wie bei der Waschmaschine: sie hatte schonmal vergessen, den Wasserzulaufhahn zu öffnen, da hat sich der Motor automatisch abgestellt. Wunderbar diese moderne Technik.
Der ICE würde pünktlich abfahren.
Nun kam die Gewissensfrage: sollte sie die Feuerwehr anrufen? Wie verhielt man sich eigentlich in solchen Situationen? Das konnte doch nicht nur ihr Problem sein? Gab es nicht eine Stelle bei der man anrufen konnte? Eine Art Reiseseelsorge?
Sie wog ab: der Schaden der eigenen Lächerlichkeit, weil ihre Fantasie mit ihr durchging, gegen das Risiko eines Brandes mit beträchtlichem Material - und womöglich Personenschaden.
Sie stellte sich vor: kurz nach ihrem Anruf fahren vor ihrem Haus Löschzüge vor. Einer bricht die Wohnungstür auf -  Fehlanzeige, alles in bester Ordnung. Sie müsste dafür finanziell aufkommen.
Die Tür würde dann bis zu ihrer Rückkehr offen sein, für jedermann zugänglich. Aber dagegen stand  ein möglicher, viel größerer Schaden.
Sie ist inzwischen auf dem Bahnsteig. Der Zug fährt nicht auf Gleis 4a/ b sondern auf 5 a /b. Immer in letzter Minute diese Änderungen sie hasste das.
Sie steigt ein, Großraum Fenster. Nun können die lästigen Gedanken sie verlassen, denn sie hat losgelassen. Sie lässt alles hinter sich, wird nicht auffindbar sein, also auch nicht haftbar. Vielleicht ist das nun Schicksal.
Inzwischen  war sie fast 1,5 Std. von zu Hause weg. Allmählich könnte es Sinn machen, jemanden im Haus anzurufen, denn für den Fall dass es inzwischen zu einem Brand gekommen wäre, würde der Nachbar es zumindest auf Aufforderung riechen. Denn die Herdplatte hätte sich in der Zeit schon mehrmals erhitzt und an der Unterseite des Hängeschrankes wäre inzwischen der Lack des Holzrahmens dabei, zu schmelzen. Sie verwarf den Gedanken, denn der Nachbar, dieser Nachbar würde in jedem Falle etwas riechen, schon aus Pflichtbewusstsein und Sicherheitsbedürfnis.
Der ICE brauste durch die Landschaft, ab Stuttgart kam Sonne und sie saß nun in Fahrtrichtung.
Sie könnte besagten Nachbarn anrufen und ihn bitten, nachzusehen, ob vor ihrer Wohnungstür ein Päckchen abgestellt worden wäre, das sie für diesen Morgen erwartet hatte und dessen Inhalt wertvoll ist.
Dabei würde er  dann den Geruch feststellen. Sie könnte mit diesem Anruf noch ein wenig warten, um sicherzugehen. Inzwischen waren  drei Stunden seit Verlassen der Wohnung vergangen. Sie rief von ihrem handy aus zu Hause an. Alles funktionierte. Im Falle eines Brandes wären die Kabel als erstes in Mitleidenschaft gezogen worden.
Sie sprach etwas auf den Anrufbeantworter, denn dieser wäre das erste was die Feuerwehr oder Polizei untersuchen würden, um Hinweise auf ihren Aufenthaltsort oder Freunde zu finden, die man benachrichtigen könnte. Ihre handynummer würde auf dem Display erscheinen! Sie würde ihr handy in regelmäßigen Abständen abhören.
Am Nachmittag könnnte sie in München in einem Internetcafé die Nachrichten ansehen. Explodierte Wohnhäuser wurden immer sehr effektvoll gesendet.
In München wird sie von ihrer Freundin abgeholt, der sie erzählt, was sie quält. Sie erhält die Absolution – es ist die übliche Paranoia.
Sie betrachtet sich wohlgefällig von außen, so wie sie glaubt, wahrgenommen zu werden: intelligent, gut sortiert, bis jetzt alles im Griff – und sie ist stolz darauf. Das ist das Gute an dieser Situation, dass sie sich das endlich einmal bewusst macht.
Sie genießen gemeinsam München im sonnigen Flair, junge Menschen auf den Wiesen um die Museen, die imposanten Plastiken, die Ausstellung in der Pinakothek der Moderne, den heißen Topfkuchen. Nur die vielen Radfahrer machen sie nervös. Der Tag vergeht wie im Flug.
Nun will sie wieder pünktlich am Bahnhof sein. Der IC nach Wiesbaden steht schon eine  Dreiviertelstunde vor Abfahrt am Bahnhof. Ihre Freundin entführt sie noch in einen Kosmetikladen und sprüht sie mit Bachblütenessenz ein – gegen den Stress.
Sie fährt in den Sonnenuntergang, keine Gedanken mehr an die brennende Wohnung. Sie ruft nocheinmal zu Hause an: der Anrufbeantworter springt nicht an...
 
 
 
 
 
   
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.12.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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