Manfred Bieschke-Behm

Zeiten-Verschiebung




Markus braucht nicht lange darüber nachdenken, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass sein Fehlverhalten ein Nachspiel haben würde. Wer unentschuldigt der Arbeit fernbleibt muss mit Konsequenzen rechnen. Zu sich selbst sagt er: ‚Hinterher ist es zu spät sich Gedanken über ein Fehlverhalten zu machen. Aber so ist es nun einmal: Wenn der Hafer sticht bleibt der Verstand auf der Strecke und hat in aller Regel ungewollte Folgen.’
 
Markus sitzt im Büro auf seinem Stuhl und fühlt sich äußerst unwohl. Sich auf die Bearbeitung unerledigter Akten zu konzentrieren fällt ihm schwer. Laufend schaut er auf den dicken schwarzen Zeiger der sich gnadenlos im Sekundentakt vorwärts springt. Noch nie zuvor war ihm die große runde weißeingefasste Uhr die über der Eingangstür im Großraumbüro hängt so unangenehm wichtig. Wenn er könnte, würde er den Zeiger anhalten im Glauben Zeit zu gewinnen.
„Warum schaust du ständig auf die Uhr“ fragt sein Kollege der am Schreibtisch neben ihm sitzt und Markus schon eine Weile sorgenvoll beobachtet .
„Ich denke nach“ lügt Markus und starrt weiterhin die Uhr an.
„Und dazu musst du andauernd auf die Bürouhr starren?“
‚Lass mich in Ruhe’, denkt Markus und tut so, als hätte er die Frage nicht gehört. Stattdessen schaut er demonstrativ auf die vor ihm liegende Akte ohne in ihr zu lesen. Er ist nicht fähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ohne es zu wollen hat er ein starkes Bedürfnis wieder auf die Uhr zu starren. Er lässt es. Er möchte nicht noch einmal von seinem Kollegen schief angesprochen werden, deshalb zwingt er sich, es nicht zu tun.
 
 „Herr Schneider, Herrn Direktor Klobisch möchte Sie sprechen“, erklärt die Chefsekretärin, während sie sich mit einem süffisanten Lächeln vor Markus aufbaut. Er schaut sie von unten nach oben an und findet, dass sie wieder einmal unvorteilhaft gekleidet ist.
„Jetzt gleich?“
Ja. Jetzt gleich Herr Schneider. Der Direktor erwartet Sie“
Die Sekretärin dreht sich um und bewegt sich Richtung Ausgangstür über die, die Bürouhr hängt. Markus folgt ihr im gebührenden Abstand. Gleich vorne am ersten Schreibtisch sitzt Frau Plöger-Ungenau. Sie hat nicht besseres zu tun als ihm zuzuraunen: „Vielleicht bekommen Sie eine Gehaltserhöhung. Ich würde mich freuen für Sie.“ Markus schielt rüber zu Frau Plöger-Ungenau, ringt sich ein Lächeln ab und denk: ‚Ganz bestimmt nicht.’ Bevor Markus die von der Sekretärin offen gehaltene Tür nutzt, schaut er zum letzten Mal auf das Zifferblatt der gehassten Bürouhr und merkt das sich der Zeiger noch immer gnadenlos vorwärts bewegt.
Das Chefbüro befindet sich eine Etage höher. Markus hätte genügend Zeit sich eine glaubhafte Ausrede auszudenken. Leider wird er abgelenkt. Seine Augen verfolgen jeden Schritt der vor ihm laufenden Sekretärin. ‚Tolle Figur’, urteilt Markus, ‚aber unmöglich gekleidet’. Er stellt sich die Sekretärin in einem knapp unter dem Hintern endenden Rock vor und darüber eine figurbetonte Bluse tragend. Seine Fantasie lässt ihn für den Moment den Ernst der Lage vergessen. Die Sekretärin, die ahnt das Markus jeden ihrer Schritte fixiert, holt ihn in die Wirklichkeit zurück indem sie, ohne sich zu ihm umzudrehen, sagt: „Sie haben hoffentlich eine gute Ausrede parat“,                                                                          
  „Wieso Ausrede?“, erkundigt sich Markus. Er verkürzt, im dem er etwas schneller läuft, den Abstand zu ihr weil er befürchtet das nachfolgende Konversation unnötig laut ausfallen könnte. Die Sekretärin kontrolliert mit ihrer rechten Hand den Sitz ihrer Frisur und reagiert nicht auf „Wieso Ausrede?“. Dazu hätte sie auch gar keine Zeit, denn beide stehen vor der Bürotür. Die Sekretärin klopft an, hört ein „Ja bitte.“ Sie drückt die Türklinke hinunter, öffnet die Tür, lässt Markus eintreten und folgt ihm so nahe, dass er ihren Atem im Nacken spürt. Markus wartet artig wie ein gut erzogener Schüler, bis er auffordert wird näher zu treten. Während Markus sich dem großen Schreibtisch nähert, verschwindet die Sekretärin in ihrem Büro, nicht ohne nochmals mit der rechten Hand ihre Frisur zu überprüfen. ‚Scheint eine Macke von ihr zu sein’, denkt Markus. Nun sind Markus und sein höchster Vorgesetzter allein im großzügig ausgestattetem Büro.
Nach einer einladenden Geste und einem „Setzen Sie sich Herr Schneider“, setzt sich Markus auf den ihm zugewiesenen Stuhl, den er als eine Anklagebank empfindet.
„Herr Schneider, ich stelle mir vor, dass Sie wissen, weshalb ich Sie zu mir gebeten habe.“
Markus überlegt ob er ja oder nein sagen soll. Er entschließt sich für ein „Ja“.
„Na gut. Dann wäre diese Frage schon mal geklärt “, stellt der Betriebsleiter fest und schaut Markus fragend an.
Markus weiß, dass er die Wahrheit über sein Fernbleiben gestern nicht erzählen will. Gleichzeitig weiß er nicht, welche Lüge er auftischen sollte. Sein Herz schlägt im bis zum Hals. Wahrscheinlich würde er sich erschrecken, würde er seinen Pulsschlag messen. Auf seiner Stirn bildet sich ein leichter feuchter Film. Ob sein Gesicht rot angelaufen ist, kann er nicht abschätzen. Sein Gefühl sagt ihm ja. Er weiß nur, dass, wenn er das hier überstanden hat mehr als drei Kreuze macht.
„Vielleicht erzählen Sie mir den Hintergrund für Ihr unentschuldigtes Fernbleiben gestern?“
Markus, der am liebsten panikartig das Büro verlassen würde hat das Gefühl auf dem Stuhlsitz festzukleben. ‚Flucht nicht möglich’, schießt es ihm durch den Kopf. Nur mit großer Mühe kann er seine Füße still halten. ‚Wenn sie könnten was sie wollten, würden sie mit mir weglaufen’, denkt Markus. Seine Hände umklammern krampfhaft die Stuhllehnen, dabei lösen sie im Schulterbereich einen stechenden Schmerz aus. Er könnte schreien. Könnte!
Der Firmeninhaber, der keine Lust hat länger auf eine Antwort zu warten, fordert mit einem scharfen, ernsten Blick, eine Erklärung. Nicht demnächst, sondern jetzt. Jetzt sofort.
Markus stammelt: „Also das war so. Eigentlich war ich am Samstag mit meiner Freundin verabredet. Doch leider kam es nicht zu der Verabredung. Ihr Vater hatte bestimmt, dass die Familie etwas gemeinsam unternimmt. Meine Freundin hatte keine Chance sich dagegen aufzulehnen. Sie liebt ihre Eltern, vor allem ihren Vater. Und wenn der etwas bestimmt, dann ist das Gesetzt für sie“
„So, so. – Und weiter?“
„Ja und deshalb konnten wir uns erst am Sonntag treffen, den wir für einen Samstag hielten.“
„Ein bisschen naiv gedacht. Finden Sie nicht auch?“
„Mag sein Herr Klobisch, aber wenn man verliebt ist, dann kann so etwas schon mal passieren.“
„Und was hat dieses um die Ecke denken mit Ihrem gestrigen Fernbleiben zu tun?“
„Na ja – weil wir den Sonntag für einen Samstag hielten, war der Montag für uns ein Sonntag? – Man könnte sagen: Ungewollte Zeitenverschiebung“
STILLE
Der Direktor sieht Markus mit weit aufgerissenen Augen an. Über die ganze Breite seiner Stirn haben sich Falten gelegt. Seine Lippen sind geformt als wolle er jemanden küssen. Die Brille, so scheint es, hat in diesem Moment nicht genügend Platz in seinem Gesicht. Er nimmt sie ab und spielt mit ihr indem er sie mit seinen Händen hin und her bewegt und letztendlich auf der großen Teakholzschreibtischplatte ablegt.
„Also so was Dämliches habe ich noch nie gehört. Glauben Sie selbst, was Sie sagen?“
„Ja, das glaube ich.“
Markus weiß nicht wohin er schauen soll. ‚Nur nicht auf die alte Standuhr schauen die rechts vom Schreitisch majestätisch in ihrer ganzen Pracht ihren Platz hat. Nicht schon wieder Uhrenkucken’, denkt er. Aber wohin sonst sehen? Markus versucht seinem Boss ins Gesicht zu schauen. Mehr oder weniger gelingt es ihm. Dabei glaubt er, dass sich sein Wimpernschlag verdreifacht haben muss.
„Sind Sie nervös Herr Schneider?“
„Kann man wohl sagen“
„Weil Sie mich anlügen?“
„Ich lüge Sie nicht an. Es ist die Wahrheit. Ich wollte Sie anlügen, aber es fiel mir keine plausible Ausrede ein.“ 
„Wissen Sie was ich komische finde? – Ich finde komisch, dass mir meine Tochter heute Morgen eine fast identische Geschichte erzählt ha nachdem ich Sie gefragt hatte warum sie gestern nicht nach Hause gekommen ist. –  Ja das finde ich komisch, - Sie auch?“
Jetzt entgleiten Markus die Gesichtszüge. Was soll er sagen? Was?
„Ist es Zufall, dass zwei Personen die gleiche Geschichte erzählen?“, erkundigt sich Herr Klobisch.
„Ich glaube nicht“, stammelt Markus und erklärt ohne Umschweife, dass es sich bei der Freundin um seine Tochter handele.
„Habe ich es mir doch gedacht“, erwidert der V und lächelt verhalten um anschließend gleich wieder ein ernstes Gesicht zu machen.
„Herr Schneider Ihr Verhalten kann natürlich nicht ohne Folgen bleiben. Ich muss Sie abmahnen und hoffe, dass das ein einmaliger Ausrutscher war.“
Markus bleibt nichts anderes übrig, als die Abmahnung entgegen zu nehmen.
„ Übrigens weiß ich schon seit längerem das Sie und meine Tochter ein Paar sind. - Was mich freut, ist, dass Sie mir die Wahrheit gesagt und mir nicht eine blöde Ausrede aufgetischt haben. – Sie können jetzt zu Ihrem Arbeitsplatz zurückgehen.“
Markus, sich von Kopf bis Fuß steift fühlend, hat Mühe aufzustehen. Schließlich gelingt es ihm. Er geht in Richtung Bürotür. Er öffnet sie, um sie möglichst schnell und geräuschlos hinter sich wieder schließen zu können.
„Übrigens Herr Schneider ich begrüße es sehr dass Sie mit meiner Tochter ...“
Markus, sich an der Türklinke festhaltend, lässt seinem Vorgesetzten nicht die Gelegenheit den begonnenen Satz zu Ende zu bringen. Er dreht sich um und sagt voller Dankbarkeit: „Das freut mich Herr Klobisch.“ 
Auf dem Flur kommt ihn Frau Plöger-Ungenau mit hochrotem Kopf entgegen.
„Wo wollen Sie denn hin“, erkundigt sich Markus.
„Ich habe einen Eilttermin beim Direktor“ erklärt sie und läuft hastig an Markus vorbei.
„Und warum?“, ruft Markus ihr hinterher.
„Irgendetwas mit Zeitenverschiebung“ erfährt Markus.
‚Ach was?’, denkt Markus. ‚Das Thema hatten wir doch gerade.’
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.12.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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