Manfred Bieschke-Behm

Das Glücksbringergrab

Immer wieder ging Charlotte zum Küchenfenster und schaute sich ihr olivgrünes neues Auto an das sie unter der alten blattlosen Kastanie abgestellt hatte. Ihr rotes Auto, das sie über alles liebte, war in die Jahre gekommen. Sie hatte sich von ihm schmerzhaft trennen müssen.
Den Vormittag verbrachte Charlotte mit Hausarbeit. Zwischendurch sah sie immer Mal wieder nach ihrem Auto. Nicht das sie glaubte er würde ihr gestohlen, nein das war nicht der Grund. Sie wollte ihr Auto einfach sehen und sich an ihm erfreuen. Gegen 14 Uhr, noch hell genug, kam ihr plötzlich der Gedanken zum nahe gelegenen Wald zu fahren. Dort gab es eine Stelle an der sie ihren Glücksbringer, der sich die ganze Zeit über in ihrem alten Auto befand, symbolisch zu Grabe getragen hatte. Fred ein alter Jugendfreund, hatte der Beisetzung, wie Charlotte das Ritual nannte, beigewohnt. Er fand die Aktion zwar albern, wollte aber seine Freundin nicht enttäuschen und was deshalb Zeuge der tränenreichen symbolischen Grablegung.
Charlotte überlegte ob sie Fred bitten sollte sie auf der Fahrt zu begleiten. Nach einigem zögern rief sie ihn schließlich an und erfuhr, dass er sie begleiten würde, wenngleich er keinen Sinn darin sah. Schon während der Fahrt erklärte ihr Mitfahrer, dass er nicht mit zu ihrer Kultstätte gehen würde. Charlotte war über diese ablehnende Reaktion enttäuscht, ließ sich die Enttäuschung aber nicht anmerken und fuhr schweigend ihrem Ziel entgegen.
Nach etwa einer halben Stunde Autofahrt erreichten sie den mit wenigen Autos besetzten Waldparkplatz. Noch immer hatte Charlotte die Hoffnung sie müsse nicht allein zur Begräbnisstätte pilgern. Während sie die Wagentür öffnete um aussteigen zu können bekam sie von ihrem Jugendfreund zu hören: „Mach nicht so lange.“ Mit: „Kannst ja mitkommen. Dann wird es nicht so langweilig für dich“, stieg Charlotte aus. Der noch immer Argwöhnende dachte gar nicht daran ihr zu folgen. Demonstrativ verschränkte er seine Arme und machte es sich so gut es ging auf der Hinterbank gemütlich. Charlotte begriff, dass es keinen Sinn hatte weiter um Begleitung zu betteln. Während sie sich Richtung Grabstelle hin bewegte, dachte sie ‚warum er überhaupt mitgekommen ist, wenn er sie letztendlich doch alleine lässt. Übellaunig und etwas ungeschickt wirkend stakste sie über den unebenen zum Teil feuchten fast angefrorenen Waldboden. Durch die veränderte Wetterlage - der Spätsommer hatte seine Macht an den Herbst abgegeben und dieser zeigte sich von einer fiesen fast winterlichen Seite - hatten sich die Bodenverhältnisse verändert. Dunkelgefärbtes Laub, das große Flächen des Bodens bedeckte und allerlei abgeworfenes Geäst erlauben es Charlotte nicht auf Anhieb ihre Kultstelle ausfindig zu machen. Weil sie keine Lust verspürte mit ihren nackten, mittlerweile kalt gewordenen Händen in dem feuchten zum Teil vermodertem Laub herumzuwühlen, hob sie ein Stück Bruchholz auf und stocherte solange im Boden herum bis sie glaubte unter dem Laub die richtige Stelle gefunden zu haben. War es wirklich die richtige Stelle? Charlotte war sich nicht sicher. Irgendwie hatte sie die Gegend anders in Erinnerung. Charlotte wurde fündig. Sie spürte Erleichterung. Teils wegen der anstrengenden Tätigkeit, auch aus Zufriedenheit die richtige Stelle entdeckt zu haben, stieß sie einen tiefen lauten Seufzer aus. Danach schaute sie sich ängstlich um. Es wäre ihr peinlich gewesen, wenn ihr Seufzer andere gehört hätten beziehungsweise jemand ihr Tun beobachten würde. Charlotte blieb nun doch nichts anderes übrig als sich zu bücken und mit den Händen in der kalten Erde zu buddeln. Endlich hielt sie die ihr vertraute kleine Schachtel in der Hand. Noch bevor sie die Verpackung von anhaftender Erde befreite öffnete sie den Deckel und konnte sich davon überzeugen, dass ihr Glücksbringer unversehrt war. Wieder schaute sie um sich. Sie wollte sicher sein, dass sie allein war. Sie konnte sich sicher sein. Sie entdeckte niemanden, der sie beobachte. Das Knacksen, das sie vernahm, rührte sicherlich von einem Tier das sich in Charlottes Nähe aufgehalten hatte.
Schnellen Schrittes, mit der rechten Hand das kleine Kästchen in ihrer Manteltasche festhaltend, eilte sie zurück zu ihrem Wagen. Als sie vor ihm stand sah sie, dass alle Scheiben von innen beschlagen waren. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Von außen ließ sich nicht erkennen ob ihr Begleiter noch im Auto saß. Aber warum sollte er nicht im Auto sitzen dachte sie und öffnete vorsichtig die Autotür und sah hinein. Erleichtert sah sie ihn unverändert mit verschränkten Armen auf der Rückbank sitzen. Neu war, dass er schlief und schnarchte. Charlotte musste bei dem Anblick lachen. Sie stieg vorsichtig ein und ließ die Tür leise ins Schloss fallen. Anschließend steckte sie den Schlüssel in das Zündschloss um zu starten. Vergeblich. Zweiter Startversuch. Dritter Versuch. Endlich sprang der Motor an. Durch das Motorengeräusch wachte der Schlafende auf und wusste im Moment nicht wo er sich befand. Plötzlich klopfte jemand an die Scheibe auf der Fahrerseite. Charlotte erschrak zutiefst. Die Scheiben, noch leicht beschlagen, ließen keine freie Sicht nach draußen zu. Schemenhaft erkannte Charlotte eine männliche Person. Was soll ich tun, dachte sie. Was will die Person von mir, überlegte sie und spürte eine leichte unangenehme Hitzewelle durch ihren Körper strömen. Jetzt war sie froh, dass ihr Freund bei ihr war. Die fremde Person klopfte ein zweites Mal an die Scheibe. Charlotte blickte sich verängstigt um und hoffte Fred würde ihr sagen, was zu machen sei. Er riet Charlotte das Fenster vorsichtig herunterzukurbeln. Charlotte tat, was ihr geraten wurde. Ihre Angst war unbegründet. Sie blickte in ein freundliches Gesicht und sah ein Kästchen, das der Mann in den Händen hielt. „Ich glaube, Sie haben beim Einsteigen etwas verloren.“ Charlotte sah den Herrn ungläubig an. „Ist doch ihr Kästchen, oder?“, wollte er wissen. Charlotte braucht weniger als eine Sekunde um das Kästchen als das ihrige zu identifizieren. „Ja, das ist mein Kästchen.“ Der Finder überreichte das Kästchen und verabschiedete sich und ging zu seinem Wagen. Charlotte bedankte sich, und weil sie von Natur etwas misstrauisch ist, öffnete sie das Kästchen. Tatsächlich lag darin unversehrt das, was sie zu Grabe getragen hatte. Zufrieden fuhr sie mit Fred, der schon wieder eingeschlafen war, und ihrem Glücksbringer an ihrer Seite nach Hause.
Zuhause angekommen tat sie ihren Glücksbringer in das Handschuhfach. Dort wird er liegen so lange Charlotte mit ihrem olivgrünen Auto, manchmal mit Fred, durch die Gegend fährt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.01.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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