Marion Metz

Wenn Jesus empfängt



 
Anna wohnte mit ihrer Familie in einem beschaulichen Dorf. Sie hatte das Glück in einem Drei-Generationen-Haus zu leben, wo die Enkelkinder mit ihren Großeltern unter einem Dach aufwuchsen. Opas letzter Gang begann im Herbst, als ihm seitens der Ärzteschaft eröffnet wurde, er sei unheilbar an einem äußerst aggressiven Lungenkrebs erkrankt. Opa befand sich im achtzigsten Lebensjahr und er nahm sein Schicksal so gut es ging an. Doch in seinen Augen loderte die Angst.
In einem besonderen Gespräch unter vier Augen fand Anna heraus, wovor sich Opa am meisten fürchtete. Seine größte Sorge war nicht unbedingt der Tod, seine größte Angst war der Schmerz, die Atemnot und das Siechtum, dass der Lungenkrebs verursachen konnte.
So begann Anna für ihn zu beten, in einfacher und schlichter Art:
„Lieber Jesus, bitte hilf unserem Opa, nimm ihm seine Angst, sei ihm der Gefährte an seiner Seite, schenke ihm Kraft und erlöse ihn aus seiner Ohnmacht. Er ist so ein guter Mensch und hat sein Leben lang an dich geglaubt, jeden Sonntag war er in der Kirche und hat für dich gebetet. Bitte, Jesus, hilf!“
Was Anna zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war, war die Tatsache, dass dies das Gebet eines kleinen, bedürftigen grauen Wurms war, der aus der Not heraus um Hilfe bittete und bettelte.
Opas Zustand verschlechterte sich langsam aber beständig und Anna hatte nicht das Gefühl, dass ihre Gebete viel bewirkten.
An einem Freitag war abermals der Arzt des Palliativ-Teams da und fragte ihn unumwunden, ob er sich schon darüber Gedanken gemacht hatte, ob er zu Hause oder auf einer Palliativstation sterben möchte. Beim hinaus begleiten teilte er Anna im Vertrauen mit, dass es sich beim Opa vermutlich nur noch um Wochen statt Monate handeln würde.
Nachdem der Arzt gegangen war, lag Opa wie ein Häufchen Elend auf der Couch, so fasste sich Anna ein Herz, setzte sich neben ihn, streichelte sanft seine Hand und eröffnete das Gespräch:
„Opa, glaubst du eigentlich an Jesus?“
„Ja mei, Anna, ich bin mein Lebtag lang in die Kirche gegangen. Sagen tun sie es, die Pfarrer, dass es an Herrgott und an Jesus gibt. Ich hoffe, dass sie recht behalten. Beweisen kann es niemand.“
„Wenn ich dir sag, Opa, dass ich WEIß, dass es den Jesus gibt und er sich schon auf dich freut, könntest du mir glauben?“, fragte Anna sanft.
„Wie kann das sein? Du gehst doch fast nie in die Kirche?“, fragte Opa stirnrunzelnd.   
„Man muss nicht in die Kirche gehen um Jesus nah zu sein. Ich habe am eigenen Leib schon Erfahrungen mit Jesus gesammelt, so dass ich dir aus tiefstem Herzen versichern kann, dass es ihn wirklich gibt und er sich auf den Augenblick freut, wenn er dich wieder in seine Arme schließen kann.“
Opa begann leise zu weinen und flüsterte:
„Anna, was mich am meisten freut, ist, dass du so einen tiefen Glauben hast. Das hätte ich nicht gedacht!“
„Schön, dass dich mein Glauben freut. Ich kann dir versichern, dass ich dich gut zum Jesus bringen werde. Vertraust du mir, Opa? Ganz und gar?“
„Ja, Anna, ich vertraue dir! Ich weiß, dass du nicht lügen kannst!“, flüsterte Opa und versuchte sich an einem missglückten Lächeln.
„So machen wir es. Du vertraust mir und ich vertraue Jesus, dann schließt sich der Kreis und alles wird gut. Damit du ihn dir besser vorstellen kannst, bring ich dir ein Bild von Jesus“, sagte Anna und holte kurz aus ihrer Wohnung ein schönes Bild. Eine Zeichnung des Kopfes, auf dessen Stirn ein goldener Kreis strahlte.
„Es darf aber auf gar keinen Fall kitschig sein!“, sagte Opa eindringlich.
„Nein, es ist nicht kitschig, betrachte es, hier ist es. Blick ihm einfach in die Augen und stell dir vor, wie sehr sich Jesus auf dich freut!“
Auch Oma betrachtete das Bild und meinte:
„Nein, das ist nicht kitschig Opa, das ist nur … ein bisschen modern!“
Opa betrachtete eingehend das Bild und fragte:
„Was ist das für ein goldener Kreis auf seiner Stirn? Was soll der bedeuten?“
„Der bedeutet, dass er um dich weiß, dass er all deine Ängste und Nöte kennt und dass er für dich da ist. Jesus liebt die Menschen und auf dich freut er sich schon ganz besonders!“
Opa begann wieder zu weinen und schluchzte:
„Sag, Anna, ich bin doch gar kein schlechter Mensch. Warum nur muss ich so leiden? Warum nur kann ich nicht einfach sterben?“
„Jesus weiß welch großartiger Mensch du bist. Deswegen freut er sich auch so sehr auf dich. Nur deine Seele, die braucht noch ein wenig Zeit um sich hier von allem zu verabschieden. Wenn deine Seele bereit ist, geht es ganz schnell, Opa, ganz sicher!“
„Wirklich?“
„Ja. Wirklich! Ich bin da für dich. Ich bring dich gut zum Jesus auf die andere Seite, wenn es so weit ist. Versprochen, Opa!“    
In einer stillen Minute betete Anna erneut für Opa, allerdings war es dieses Mal das Gebet eines leuchtend bunten, strahlend schönen Schmetterlings:
„Lieber Jesus, ich fühle deine Vorfreude auf Opa und darauf, ihn mit einer tiefen Berührung von all den Ängsten und Zweifeln zu erlösen. Ich freue mich so sehr für den Opa und dass er bald bei dir sein darf. Behütet, geliebt und geheilt.“
Die unermessliche Freude durchstrahlte Anna, sie schien in Anbetracht der menschlichen Umstände nicht angemessen, doch Anna vertraute ihrem Gefühl.
Am Sonntag spendete der Pfarrer im Kreise der Familie eine Krankensalbung. 
Opa fragte Anna, welcher Tag heute sei und Anna antwortete ihm, es sei Sonntag. Er lehnte sich entspannt zurück und murmelte: „Sonntag … ist ein guter Tag zum sterben.“
Seine Kräfte bauten rapide ab. Am Montag wurde das Krankenbett geordert und im Wohnzimmer aufgebaut. Ab Montag nachmittag war Opa nicht mehr ansprechbar. Der Palliativ-Doktor, der zu Hilfe gerufen wurde, teilte mit, dass die Sauerstoff-Sättigung im Blut gut sei und dass Opa eventuell noch Tage in diesem Zustand verbringen könnte.
Opa befand sich im Sterbeprozess, sein Atem ging schwer und rasselnd. Er reagierte auf nichts mehr. Doch jedes Mal, wenn sich Anna zu ihm beugte und ihm ins Ohr flüsterte:
„Opa, Jesus freut sich schon so sehr auf dich!“, riss er die Augen auf, starrte in die Luft und machte sie nach wenigen Momenten wieder zu.  
Anna unterhielt sich noch mit ihren Lieben bis weit in die Nacht hinein, doch gegen Mitternacht gingen alle ins Bett.
Morgens um sieben ging Anna mit ihrer Tochter in das Wohnzimmer. Opas Atem war der Atem eines gesunden Menschen. Ohne Gerassel, ohne Aussetzer, ohne Angst. Er atmete sanft und leise wie ein schlafendes Kind. Ganz im Gegensatz zur ärztlichen Vorhersage. Anna ging an seine rechte Seite und Opas rechtes Auge öffnete sich ein wenig. Sie nahm seine rechte Hand und legte gemeinsam mit der Tochter ihre andere Hand auf Opas Herz. Beide sendeten ihm gute Energie.
„Hallo Opa, ich bin wieder da!“, flüsterte Anna ihm ins Ohr.
Die Tochter nahm Abschied und ging zur Schule. Anna begleitete sie an die Haustüre. Kaum war sie geschlossen, rief Oma:
„Er atmet nicht mehr!“
Anna eilte ins Wohnzimmer, nahm wieder Opas rechte Hand und beobachtete ihn. Das Blut in der Hand pulsierte noch warm, doch es war kein Atem mehr da. Da eröffnete sich in Anna eine andere Dimension. Sie wurde von einer weichen, zärtlichen Energie erfüllt und in dieser Dimension war Jesus da, umgeben von einer Heerschar von Engeln. Opa wurde nicht mit Pauken und Trompeten empfangen, auch nicht mit lieblichem Engelsgesang und Harfenspiel. Der Herzschlag Jesu, vereint mit den vielen pulsierenden Herzschlägen der Engel erfüllte die Seele und es erklang voller Frieden ein vollkommener Ton. Anna übergab die Hand Opas in Jesu Hand und kaum hatte dieser ihn berührt, fiel alle Last und Angst von Opa ab, der Schleier lüftete sich und Opas Herzschlag fügte sich in den vollkommenen Ton ein.
Dieser Augenblick dauerte eine Ewigkeit und war doch nicht länger als ein Wimpernschlag.
Opas Hülle lag friedlich da mit einem seligen Lächeln im Gesicht. Er hatte Anna vertraut und auf sie gewartet.
„Das hast du wirklich gut gemacht, Opa!“, flüsterte ihm Anna zärtlich ins Ohr.
Oma trat neben ihren Mann und beweinte ihn. Anna ging auf die Terrasse hinaus um frische Luft zu atmen und staunte nicht schlecht. Ihre Augen erblickten den wohl kitschigsten Sonnenaufgang, den sie jemals gesehen hatte. Der gesamte Himmel war leuchtend orange mit rosaroten Ausläufern. Anna liebte die Farbe Orange sehr, es war die Farbe der Freude.
Da begann sie lauthals zu lachen und schickte Opa noch einen liebevollen Gedanken hinterher:
„Sieh doch, Opa! So sehr hat sich Jesus auf dich gefreut! Der ganze Himmel ist kitschig orange! Ich danke dir für dein Vertrauen!“       
        
            
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.01.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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