Florian Brigg

Der Lotse

Ich hatte mir einen freien Tag genommen. Die Osterferien lagen vor mir. Ich setzte mich ans Steuer meines Ford und fuhr in Richtung Süden. Zur Osterfeier war ich in das wunderbare Cottage meiner Freunde in Hunstanton am ‚Wash’ eingeladen. Meine Freunde kannten mich als fanatischen Segler und hatten für mich im Hafen von Skegness eine 29er-Segelyacht für die Osterwoche gemietet. Damit konnte ich – guten Wind vorausgesetzt – die Bucht in weniger als drei Stunden überqueren. Abgesehen vom Segelvergnügen würde ich auch gut drei Stunden Autofahrt rund um den ‚Walsh’ sparen.
 
Gegen 14 Uhr erreichte ich den Hafen und betrat das Büro des Hafenmeisters.
 
„Das Barometer steht zwar etwas tief, aber das ist für diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich“, bedeutete er mir und begleitete mich zur Yacht an der Mole. Es bedurfte keiner großen Anleitung, um mich mit dem Boot vertraut zu machen. Immerhin hatte ich in 20 Segeljahren einiges an Erfahrungen auf verschiedensten Bootstypen gesammelt. Nach einem Check der Betriebssysteme und dem Verstauen der Fender startete ich die Maschine und lenkte den Bug in Richtung Hafenausfahrt.  „... und eine Handbreit Wasser unter dem Kiel!“, hörte ich noch die gewohnten, aufmunternden Worte des Hafenmeisters hinter mir herrufen. Und dann war ich auf See.
 
Ich lenkte das Boot in den Wind, stoppte den Diesel und zog Großsegel und Fock über die Winchen hoch. Danach schaltete ich den Steuerautomaten ein. Was für ein Gefühl, bloß vom Wind lautlos angetrieben zu werden! Nach kurzem Studium der Seekarte und des Kompass gönnte ich mir einen ‚dezenten Schluck’ aus der mitgebrachten Flasche Glenfiddich. Ich drehte das Radio auf und lauschte dem Wetterbericht. Eine Tiefdruck­störung würde sich rasch nähern, und es wäre in meinem Gebiet mit starken Sturmböen und Regenfällen zu rechnen. ‚Na also!‘, sagte ich zu mir selbst, ‚man kann eben beim Segeln nicht immer ruhig Whiskey trinken.‘
 
Ich war bereits eine gute Stunde unterwegs, hatte also bereits ein Drittel meines Cruises hinter mir, als plötzlich der Wind in Minuten­schnelle zum Sturm wurde und der vorher­gesagte Niederschlag auf mich herab prasselte. Das Wasser schoss über das Cockpit, und ich sah mich gezwungen, die Segel zu reffen. Dieses Manöver ist bei Starkwind und glitschigem Deck gar nicht so einfach. Ich drehte das Boot gegen den Wind und versuchte die Segel herunter zu bekommen. ‚Ans Reffen denkt man immer zu spät.’ Dieser – ach so wahre – Satz ging mir durch den Kopf, als ich mit den Fallen beschäftigt war. Da hörte ich das Reißen des Großsegels. Der Riss ging entlang der Naht im oberen Drittel des Stoffes, der nun lose im Sturm flatterte. Nicht die rosigste aller Situationen, dachte ich, während die Gischt  weiter über das Waschbord peitschte. Plötzlich vermisste ich im Tosen des Sturmes ein Geräusch: Das Knacken der Ätherwellen im Radio und die Stimme des Ansagers waren verstummt. Nichts Gutes ahnend stieg ich in die Kajüte hinunter, aus der mir bereits der beißende Geruch von austretender Batterie­säure entgegen schlug.
 
Ein Kurzschluss! Ich legte den Lichtschalter um und fand meine böse Ahnung bestätigt. Kein Strom, kein Licht, kein Radio, kein Radar! Ein kompletter Ausfall der elektrischen Anlage. Ich stieg abermals hinauf ins Cockpit und justierte die Steueranlage, die ja ohne Strom nutzlos war. Unter diesen Bedingungen war eine Weiterfahrt unter Segel unmöglich. Langsam begann die Dämmerung einzufallen und ich musste fürchten, ohne Orientierungs­hilfen entweder auf eine Untiefe aufzulaufen oder die Einfahrt in Skegness komplett zu verfehlen. Also musste ich schnell handeln.
 
 
Ich entschloss mich, unter Motor weiter­zufahren. Motor? Furcht stieg in mir hoch. Wie konnte ich die Maschine ohne Strom starten? Jedoch hat jeder Diesel an Bord eine Kurbel, beruhigte ich mich und öffnete das Schapp zum Dieselantrieb. Dunkel lag der Raum unter mir. Ich erinnerte mich an einen Handschein­werfer in der Kajüte. Diesen musste ich mir suchen, um die Bedienungsaggregate des Dieselmotors gut erkennen zu können. Schließlich war es während der letzten Viertel­stunde richtig Nacht geworden.
 
Ich hatte nicht mit der Änderung der Windrichtung gerechnet. Während ich das Cockpit durchquerte, schlug der Wind plötzlich um. Der Großbaum, infolge des gerissenen Segels lose baumelnd, holte zum Schlag auf meinen Kopf aus. Er traf mich mit voller Wucht an der Stirne. Ich hätte durch Festzurren der Großschot den Baum stabilisieren sollen. Das war mein letzter Gedanke. Die Kurbel für das Anlassen des Diesels hatte ich nicht gefunden.
 
Ich glaube nicht, ohnmächtig gewesen zu sein, aber eine gewisse Erinnerungslücke musste ich mir eingestehen. Blut floss über Augen und Wangen. Mir war klar, eine tiefe Wunde davongetragen zu haben. Heute weiß ich nicht mehr, wie lange ich im Cockpit verweilt, mein Taschentuch an die Wunde gepresst und meine fatale Lage überdacht habe. Das kalte über das Waschbord ins Boot strömende Wasser brachte mich jedoch bald zur Besinnung. Ich kletterte zurück zum Steuer und justierte abermals den Kurs, so gut ich ihn zu erkennen glaubte.
 
In dieser Situation fiel mir das Handy ein. Damit konnte ich meine Freunde erreichen, die dann wieder den Hafenmeister von meinem Ungeschick in Kenntnis setzen konnten. Meine Euphorie war nur kurz. Der Sendeanzeiger stand auf Null! Wie ich nun so über das dunkle Wasser hinweg blickte, empfand ich plötzlich eine Änderung der Wetterlage. Der Sturm hatte sich gelegt. An seiner Stelle zog nun rasch Nebel auf und schränkte die Sicht stark ein. Damit war mein Weiterkommen lebens­gefährlich. Ohne Segel, ohne Motor und nun auch ohne Windantrieb war an eine Weiter­fahrt nicht mehr zu denken. Ich musste ankern, um ein Auflaufen des Bootes an einer Untiefe zu verhindern. Gedacht – getan. Gottlob fasste der Anker sofort Grund, und das Boot drehte sich nach der Strömung. Bei der Rückkehr vom Buganker dachte ich an die Notrakete. Egal ob in Küstennähe oder im Bereich eines vorbei kreuzenden Schiffes, die Not­rakete würde überall wahrgenommen werden.
 
Ich fasste die etwa 20 Zentimeter lange Hülse mit dem schwarzen Kopf, zielte gegen das pechschwarze Fundament und zog die Zündleine. Steil und von der Witterung unbeirrt stieg die rote Kugel in die Nacht. Wie gelähmt verharrte ich beim Anblick dieses Feuerwerks.
 
Das tiefe Brummen eines kraftvollen Außen­bordmotors weckte mich aus der Lethargie. Aus dem Nebel über dem Wasser tauchten die Umrisse eines Schlauchbootes auf. Am Steuer des tarngrünen Gefährts ließ sich ein uniformierter Steuermann erkennen. Merk­würdig, dachte ich, wieso trägt er denn bei diesem Wetter kein Ölzeug? Beim Annähern konnte ich erkennen, dass der Mann eine Kapitänsmütze trug, die er ein wenig schräg auf seinen Scheitel gesetzt hatte, gerade so, also würde er sich zu einem Landgang fertig machen.
 
„Was ist Ihr Problem?“, rief der Mann zu mir herüber.
 
Beide Boote näherten sich einander auf kurze Distanz, womit ein Gespräch möglich war. In wenigen Worten schilderte ich meine Lage.
 
„Werfen Sie mir Ihre Bugleine herüber“, rief der Steuermann vom Schlauchboot. „Ich nehme Sie ins Schlepp. In kurzer Zeit sind wir drüben im Hafen. Wir brauchen ja jetzt nicht zu kreuzen, und mein Motor gibt mehr Fahrt als ein starker Wind. Aber wir haben ja ohnehin Flaute!“
 
Mir stiegen Zweifel auf, wie dieser Mann, so groß seine Kenntnis des Reviers auch sein mochte, in einem ausgedienten, antiquierten, ehemaligen Militärboot offensichtlich ohne moderne Navigationshilfe in dieser Nebel­küche die Hafeneinfahrt von Hunstanton finden wollte. Aber ich tat natürlich, wie geheißen, löste den Anker und warf die Leine.
 
Nach etwa einer halben Stunde hörte ich, wie am Schlauchboot vor mir der Motor gedrosselt wurde. Es fiel in Höhe meiner Yacht zurück, und ich konnte meinen Retter jetzt gut ausnehmen.
 
„Ich mache jetzt los“, rief er zu mir herüber und ließ die Leine im Wurf zurück auf mein Deck klatschen. „Lassen Sie sich von der Strömung einfach treiben. Es ist kein Steuermanöver mehr erforderlich. Sie erreichen die Hafenein­fahrt sozusagen ‚automatisch’.“
 
Mit diesen Worten und einem heiseren Lachen drehte der Seemann ab und fuhr mit zu­nehmender Geschwindigkeit zurück in die Dunkelheit. Ich wollte ihm noch Worte des Danks zurufen, aber er war rasch im Nebel verschwunden.
 
Lautlos glitt meine Yacht auf dem Wasser. Plötzlich konnte ich durch den Nebel hindurch die aufflammenden Lichter der Hafenbe­leuchtung erkennen.
Am Pier begrüßte mich der Hafenverwalter. „Tolle nautische Leistung, die Sie da hingelegt haben“, sprach er mich an. „Bei diesem Wetter, mit kaputten Segeln ohne Radar und Ausfall der Elektrik machen Sie da bei mir eine Punktlandung!“
 
Ich erklärte ihm die Umstände meiner Rettung. Nach meiner Schilderung strich er sich nachdenklich über das Kinn.  „Merkwürdig, diese Sache mit dem Seemann im Schlauchboot“, sinnierte er. „Sie müssen wissen, dass hier in der Wash-Bucht, während der Endphase der Vorbereitung zum ‚D-Day’ am 6. Juni 1944, als die Alliierten dann in der Normandie landeten, eine amerikanische Fallschirmjägereinheit zum Training stationiert war. Die ‚Parayoungs’, wie wir sie hier nannten, trainierten fleißig Absprünge, die häufig im Wasser endeten. Die Jungs mussten natürlich bei jedem Wetter geborgen werden. Also wurden Freiwillige gesucht, die mit Außenbordern diese Aufgabe übernehmen wollten. Da gab es unter anderem einen pensionierten Brigadier, der sich schon im Ersten Weltkrieg einen Orden verdient hatte. Der war immer draußen, auch bei schlechtestem Wetter, und hat die armen Teufel vor dem Ertrinken bewahrt. Aber zu Ostern 1944, da gab es ein besonders intensives Training und viele von den ‚Parayoungs’ gingen baden. Der Wind tobte, die Wellen gingen hoch und die Sicht war auf wenige Meter eingeschränkt. Trotz unserer Warnung legte der alte Brigadier nochmals ab, um nach den letzten Vermissten zu suchen. Schnell verschwand er im Nebel.“
 
„Gerade heute jährt sich der Tag, an dem er nicht wiederkehrte.“
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.02.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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