Christine Wolny

Der Zipfel vom Glück (1)



Es war Krieg. Der Vater war nicht zu Hause. Die Mutter von Wattinchen starb 1943. Sie ließ zwei Mädchen zurück, Wattinchen war noch nicht einmal drei Jahre alt, die Schwester gerade sechs. Wer sollte sich nun um die beiden kümmern? Die Verwandten hatten selbst sehr wenig, eins würden sie ja gerade noch durchfüttern können, aber zwei kleine Kinder?

So teilte man sie auf. Wattinchen kam zu einer Familie, die selbst zwei Mädchen hatten. Zum Glück wohnte Oma nicht weit von Wattinchens neuer Bleibe.

Sie war eine herzensgute Frau, und Wattinchen besuchte sie, so oft es ihr in den Sinn kam. Oma hatte dicke Knie und tat sich beim Treppensteigen sehr schwer. Sie wohnte im dritten Stock eines großen Hauses. Im Erdgeschoss war eine Bäckerei. Wattinchen stattete meist erst einmal darin einen Besuch ab, schnupperte herum, denn der Geruch von frischen Brötchen und Brot tat ihrer Näslein so gut, und dann erst sprang sie die Treppen zu Oma hinauf.

Oma hatte immer etwas für sie. Wattinchen fand an diesem Ort einen Zipfel vom Glück.

Sie plapperte ununterbrochen auf Oma ein. Schließlich hatte sie ja auch viel zu erzählen.

Oma war so gütig, und das tat Wattinchen gut. Dort zog es sie es immer wieder hin.

Hinter einem dicken, roten Vorhang im Treppenhaus, verwahrte Oma ihre Vorräte. Bevor Wattinchen an Omas Zimmertüre klopfte, schaute sie meist hinter den Vorhang und wusste dann schon, was Oma für Schätze daheim hatte.

Oma wohnte in einem Zimmer, in dem gekocht, geschlafen und gewohnt wurde.


Wie oft bereitete sie liebevoll für ihren Besuch Palatschinken mit Marmelade. Dazu musste sie erst einmal den Kohleofen anheizen, denn einen elektrischen Herd hatte Oma nicht. Wattinchen setzte sich dann meist an den großen Tisch, baumelte mit ihren kurzen Beinchen herum und sah Oma beim Teigrühren und Ausbacken zu. Der angenehme Geruch erfüllte das Zimmer. Wattinchen dauerte es zu lange, und Oma sagte schon manchmal: “Du musst noch Geduld haben.“ Am liebsten hätte sie sie halb roh gegessen, doch Oma verstand es, ihre Ungeduld zu zügeln. So ließ sie sie erzählen, fragte verschiedene Dinge, lächelte manchmal dabei und strich ihr über das honigblonde Haar. Dann holte Oma ihre selbst gemachte Marmelade aus dem Küchenschrank, verteilte sie auf den heißen Palatschinken und rollte dieses hauchdünne Köstlichkeit zusammen. Jetzt konnte Wattinchen aber schmatzen. Sie stopfte eilends einen nach dem anderen in sich hinein.


Oma meinte, sie käme gar nicht mit dem Backen nach. Doch bald war der kleine Magen voll. Oma war zufrieden, es mal wieder geschafft zu haben, das kleine Wattinchen satt zu bekommen.

Irgendwann wurde Wattinchen krank. Also packte sie ihre „Sieben Sachen“, mehr waren es damals bestimmt nicht und stand vor Omas Tür. Oma merkte gleich, dass sie Fieber hatte und steckte Wattinchen in ein riesengroßes Bett. Im Zimmer von Oma standen zwei Betten, und das war jetzt ein großer Vorteil.

Im gesunden Zustand mied Wattinchen dieses Eisengestell mit Decken und Polstern. Sie ging eigentlich gar nicht so gerne ins Bett, aber jetzt.......

Ihre Backe wurde über Nacht ganz dick, und es stellte sich heraus, dass es Mumps war. Wattinchen ging es schlecht, sie schwitzte und fieberte und jammerte. Oma tat ihr Bestes. Sicher war sie froh, wenn Wattinchen einmal schlief. Da konnte sie sich auch etwas erholen.

Es muss im Jahre 1945 gewesen sein.

Wattinchen kann sich noch an diese Begebenheit erinnern.

Plötzlich klopfte es an Omas Tür. Oma erschrak fürchterlich als sie die fremden Männer sah, die sich als Amerikaner entpuppten. Sie wollten das Haus besetzen, und Oma sollte ihre Wohnung verlassen. Doch sie jammerte fürchterlich, zeigte auf Wattinchen, die sich vor Angst unter die Bettdecke verkroche hatte.. Doch die Neugierde war größer, und so sah sie plötzlich in ein freundliches Gesicht eines jungen, dunkelhäutigen Mannes, der sie mit seinen weißen Zähnen anlachte.

Oma durfte in der Wohnung bleiben.

Es kam noch besser. Der Amerikaner brachte häufig für Klein-Wattinchen Apfelsinen und Schokolade mit. War es ein Zipfel vom Glück, welches sie da zu fassen bekam? Als es ihr besser ging und sie schon aufstehen konnte, nahm sie der Amerikaner in den angrenzenden Wohnblock mit. Dieses große Haus hatten die Amerikaner voll besetzt. Wo die Leute, die vorher darin wohnten, in der Zwischenzeit eine Bleibe gefunden haben, weiß Wattinchen nicht.

Auf jeden Fall stopfte ihr der liebe Mann die Manteltaschen mit guten Sachen voll. Wattinchen rannte dann so schnell sie konnte davon, denn ein bisschen Furcht hatte sie immer, und auch Oma war glücklich über die Geschenke, die in dieser Zeit eine Kostbarkeit waren.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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