Walerij Unger

Rauschgift

Jetzt (1)
 
Jeder hat es schonmal erlebt: Nach einer durchzechten Nacht wacht man auf
- egal ob man ohnmächtig war oder geschlafen hat - und denkt sich: Was zur
Hölle ist passiert? Diese Demütigung. Diese Schmerzen. Wieso tue ich mir
das an?
Die Augen verkrustet und verklebt. Der Magen randvoll mit saurer Galle. Im
Mund der Geschmack nach Tod. Und dein Kopf am pochen, als hätte ihn
Jack Daniel höchstpersönlich, mit einem Hammer bearbeitet.  
Man fragt sich, war die Feier das wirklich wert? Wie habe ich mich gestern
benommen? Erinnerungen an gestern gleichen Puzzleteilen, die erst zusammen
gesetzt werden müssen. Stück für Stück, wobei ungefähr ein dutzend Puzzleteile
fehlen, und Gedächtnislücken hinterlassen. Ein Kumpel hilft ihnen schließlich
nach. Er erzählt ihnen zum Beispiel, dass Sie eine Frau belästigt hätten, oder
sich in die Hose gepisst haben. Vielleicht ist sogar beides gleichzeitig
passiert. Scheiße gelaufen, was Kumpel? Haha! Aber keine Sorge, es gibt
schlimmeres.
Zum Beispiel, gab es da mal ein Mädchen in unserer Stadt, dass nach einer
einer Ecstasy Pille und einer Flasche Korn ohnmächtig wurde. Als sie K.O
ging, war sie noch Jungfrau. Als sie später aufwachte war sie es nicht mehr,
und hatte - als netten Bonus - Scheiße in den Haaren kleben. (Später stellte
sich heraus dass sie ganze drei mal entjungfert wurde)
Aber glauben sie mir, das ist noch gar nichts. Es geht noch viel schlimmer.
Was mir passiert ist, war derart entsetzlich, dass ich mir wünschte gar nicht
wach geworden zu sein. Im Vergleich zu dem was ich erlebt habe, ist eine
wunde Möse und etwas Scheiße in den Haaren rein garnichts.
 
Es passierte im Mai 1999. An einem Tag, der nicht nur mein Leben zerstörte,
sondern auch das meiner Mutter und Schwester. Gott, wie gerne wäre ich
bloß damals an der Überdosis krepiert! Oder wenigstens an meiner Kotze
erstickt, und nie wieder wach geworden! Aber selbst wenn ich abgekratzt
wäre, was hätte es gebracht? Wahrscheinlich gar nichts. Doch das ist nicht
mehr wichtig. Ich werde mich sowieso bald umbringen. (Und dann heißt es
für mich: Fahr direkt zur Hölle, gehe nicht über Los, ziehe keine 4000€ ein!
Haha, darauf könnt ihr Gift nehmen!)
Die folgenden Seiten könnt ihr als Abschiedsbrief betrachten. Oder als
moderne Horrorgeschichte - Je nachdem wie ihr wollt.
Ich war zwanzig Jahre alt, als es passierte. Eine Menge Drogen waren im
Spiel. Methamphetamine, MDMA, und vor allen Halluzinogene. Ich war
vollgepumpt damit und verlor komplett die Kontrolle. Ich habe an unvorstellbaren
Halluzinationen gelitten, die mich immer tiefer in einen Abgrund rissen,
aus dem ich nie wieder herauskam. Wenn ihr denkt, dass ihr schon mal
im Rausch Scheiße gebaut habt, dann kann ich euch versichern, dass es
nichts im Vergleich zu meiner Aktion war! Haha, oh ja! Hat echt schlimm
ausgesehen zum Schluss, das kann ich euch sagen!
Ich saß danach ein Jahr lang im Gefängnis. Schließlich meinte jemand, ich
wäre in der Geschlossenen besser aufgehoben.  
Mein Psychologe meint, ich wäre kein böser Mensch: Der Vorfall damals,
wäre eine ‘Verkettung unglücklicher Ereignisse‘ gewesen, und ich wäre
alles andere als ein Monster.

Zum Teufel mit ihm. Sein Gelaber geht mir richtig auf den Sack. Er kann
sich nicht vorstellen wie das ist. Niemand kann das. Lesen Sie mit, Dr. Klemens?
Sie haben unrecht! Notieren Sie sich folgendes: Matthias Jens Weißmann ist
ein Monster. Fragen sie seine Schwester!
Unterstreichen Sie Schwester am
besten doppelt. Danke. Achja und noch was: Fahren Sie zur Hölle!
Wenigstens sind die Pillen gut die er mir verschreibt. Echt gutes Zeug! Nicht
Vergleichbar mit dem Stoff den ich damals genommen habe. Ohne die Dinger
wäre ich gar nicht in der Lage, das alles aufzuschreiben.
Meine Mutter schluckt übrigens die gleichen. Sie sitzt auch in der Klapse,
jedoch in einer anderen Stadt. Es ist meine Schuld, dass sie dort gelandet ist.
Das letzte mal als ich sie besuchen war, hat sie wirres Zeug geredet. Später
bekam sie einen Heulkrampf, und ich musste daraufhin gehen. Dabei wollte
ich ihr nur von Katharina erzählen. Sie besucht mich nämlich manchmal. Ob
ich auch nur wirres Zeug geredet habe? Ich weiß es nicht.
Die Zeit in der Klinik vergeht unglaublich langsam. Ich fühle mich als wäre ich
in einer anderen Zeitdimension gefangen - Eine in der der Tag hundert Stunden
dauert. Es ist kaum auszuhalten. Erst jetzt verstehe ich, was Newton mit der
Relativität der Zeit meinte. Oder kam das von Einstein? Ich weis es nicht
mehr. Ich bin ziemlich vergesslich geworden in letzter Zeit. Neulich ist mir
sogar der Name meiner Schwester nicht mehr eingefallen. Dr. Klemens
musste mich erinnern. Daraufhin schrieb ich ‘Katharina‘ in Großbuchstaben
auf einen DIN A4 Zettel, und hang ihn über mein Bett. Bei Gott, ich werde
ihren Namen nie wieder vergessen.
Genug. Das wars fürs erste.
Was nun folgt, ist meine Geschichte. Ich werde sie euch erzählen und dabei
nichts auslassen.
Es ist nicht in Worte zu fassen, wie leid mir das alles tut. Niemand wird mir
jemals verzeihen können.
Ja, nicht einmal Sie, lieber Leser. Den schon bald werden Sie erfahren, wie
ich zu einem Monster wurde...
 
 
Mai 1999 (1)
 
Als ich mein Zimmer betrete, kommt mir der Geruch von billigen Deo,
schmutzigen Socken und kaltem Zigarettenrauch entgegen. Ich verziehe das
Gesicht, den der Geruch erinnert mich an gestern. Gestern war ein echt
beschissener Abend gewesen. Dabei hatte er ziemlich gut angefangen: Ich
lernte Johnnys Cousine Christine kennen und wir flirteten ein wenig miteinander.
Sie war echt hübsch gewesen: Lange Beine; straffer Busen; glänzendes
blondes Haar; vielleicht etwas zu breite Schultern, aber das war schon okay.
Sie war einer der schönsten Mädchen die ich je gesehen habe. Unglaublich,
dass sie mit unserem pickeligen und fetten Johnny verwandt war.
Unglaublich war auch die Tatsache, dass sie gestern nicht meine, sondern
Fabians Zunge im Hals hatte. Anscheinend hatte sie zuviel getrunken und
musste zum Schluss echt besoffen gewesen sein - anders kann ich es mir
nicht erklären. Hatte sie den nicht gemerkt, dass Fabian eine Abtreibung auf
zwei Beinen war? Oder dass ich in  vielerlei Hinsicht, einfach besser war als er?  
Ebenfalls unglaublich war, dass Christine die Finger von Drogen ließ. Und
dass, obwohl sie Johnnys Cousine war! Stell sich das mal einer vor! „Ich würde
total abhängig werden, und untergehen.“, hatte sie gekichert. „Ich betrinke mich
lieber bis zur Besinnunglosigkeit und lutsche anschließend Pimmel, als wäre
es eine olympische Disziplin!“ Haha! Okay, zugegeben, so hatte sie es nicht
ausgedrückt, aber wen interessiert das? Ich war stinksauer! Hatte sie nicht
Fabians Tellergroße Pupillen bemerkt? Wusste sie nicht, dass er ebenfalls
zugedröhnt war? Was für eine blödes und besoffene Flittchen sie doch war!
Ich schließe die Tür hinter mir und setze mich auf mein Bett. Wir haben Freitag
der 14. (Zum Glück nicht den 13. - sonst würde mir noch irgendein Unheil
passieren, haha!) Die Uhr an meiner Wand zeigt sieben Uhr zwanzig an. Die
Sonne ist vor zwei Stunden aufgegangen. Sonnenstrahlen dringen durch mein
Fenster und sorgen für helle Lichtflecke auf meiner Tapete. (Auf der noch
tanzende Zootiere abgebildet sind. Echt peinlich, ich weiß.)
Von draußen dringen die fernen Geräusche von vorbei fahrender Autos in
mein Zimmer. Hin und wieder hört man spielende Kinder oder einen bellenden
Hund.
Ich wisch mir mit meinen kalten und verschwitzten Händen übers Gesicht und
seufze. Gestern waren wieder bei Joel (Johnny) gewesen. Johnnys Zuhause
ist eine stinkendes Loch, ohne Musik und Fernseher. Dafür aber mit einer
Menge Drogen. Er hat immer Stoff parrat, und wenn nicht, besorgt er was in
Nullkommanix. Er scheint eine schier unversiegende Quelle zu besitzen.
(Wo er das Zeug herbekommt, weiß nur Gott allein)
In letzter Zeit sind wir immer öfter bei Johnny. Drogen machen abhängig,
wissen Sie?
Gestern habe ich mir zum Beispiel Crystal Meth durch die Nase gezogen.
Und später, als ich Christine und Fabian zufällig beim gegenseitigen ablecken
sah, nahm ich zwei Ecstasy Tabletten zu mir. Ich wäre sonst geplatzt vor Wut
und Eifersucht!
Als die Ecstasytabletten schließlich mit ihrer Zauberei anfingen, legte sich
eine beruhigende Gleichgültigkeit über mich und brachte mich sofort auf
andere Gedanken. Ich, wütend oder eifersüchtig? No sir! Nicht die Spur!
Auf Ecstasy ist man vergleichbar mit einem Roboter, der auf Glücklichkeit
programmiert ist. Jemand könnte dir vom Tot deiner Mutter berichten, und
du würdest weiter feiern, dabei grinsen, und „Wo ist die Party!?‘‘ rufen.
Jetzt, da sich die künstlich hervorgelockten Glückshormone verzogen haben
und mein Dopamin-Spiegel im Keller ist, könnte ich sämtliche Chemiker
dieser Welt verfluchen, den ich fühle mich ausgelaugt und depressiv. Mein
Schädel dröhnt und pocht, und das simple nachdenken fällt mir unwahrscheinlich
schwer. Es fühlt sich an, als hätten Ecstasy und Co mein Gehirn mit einem
Baseballschläger aus Endorphinen windelweich geprügelt.
Das schlimmste war jedoch, dass mir Christine einfach nicht aus dem Kopf
ging. Meine Gedanken waren wie kleine Fische, die sich in einem Ozean
aus Eifersucht vor sich hin trieben: Ihre langen blonden Haare; ihr Lächeln;
ihre Zunge in Fabians Mund...
Scheiße! Wenn die nur wüsste was Fabian
schon alles im Mund gehabt hatte! Fuck!
Aber moment mal, verspüre ich da etwa wieder Eifersucht?
Ich greife in meine Hosentasche und krame ein Tütchen heraus. Eine rote
Tablette in Form eines Superman Emblems befindet sich darin - Meine letzte
Ecstasy. Die wird mir helfen dieses Flittchen zu vergessen.
Ein vertrauter bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, als
ich das Ding auf meine Zunge lege. Ich greife zu der Flasche neben meinem
Bett, und spüle es mit drei Schlücken runter. Das Wasser war warm und hatte
einen abgestanden Geschmack, der mich fast zum Würgen brachte.  
Das einzige, was mich noch mehr anmacht als Ecstasy, war Methamphetamin,
kurz Crystal Meth. Das Zeug ist der Wahnsinn! Eine Line reicht aus, um dir
drei Tage lang die Energie eines Rennpferdes zu verschaffen! Gestern habe
ich es zuletzt geschnieft. Seitdem bin ich wach und durchlebe ein körperliches
Hochgefühl, dass mich denken lässt, ich wäre Superman. Kopfschmerzen hin
oder her, ich könnte jetzt hundert Liegestützen hinbekommen, und dass ohne
zusammenzubrechen! Wenn das nicht geil ist, oder?
Jede Line ist wie ein weißer Torpedo, der dir die Nase hochschießt, und dein
Gehirn mit Explosionen der Empfindungen bombadiert.   Mein Gehirn müsste
mittlerweile eine einzige Kraterlandschaft sein. Ich frage mich, wie lange mein
Körper das noch aushält...
Vor vier Monaten verkaufte mir Johnny das erste Gramm. Seitdem komme ich
nicht mehr los von dem Zeug. Immer wieder frage ich mich, wie ich in so kurzer
Zeit, derart abhängig werden konnte.
Meine Mutter weiß noch nichts von meiner Methamphetaminsucht. Früher oder
später wird sie an der Erkenntnis regelrecht verzweifeln. Das hat sie auf keinen
Fall verdient und ich hasse mich dafür, ihr das antun zu müssen. Doch es gibt
keinen Weg zurück. Crystal ist wie ein Dämon, der sich an dir festbeißt und
deine Gier nach Gift ins unermessliche treibt. Letztenendes ist es egal wie
stark dein Verlangen nach einem normalen Leben ist - es ist nichts im Vergleich
zu dem Verlangen nach Crystal Meth.
Ich bin alleine in der Wohnung. Meine Mutter arbeitet in der Wäscherei nebenan.
Sie fängt immer um sieben Uhr an, und kommt um siebzehn Uhr - mit schrumpeligen
Händen und noch schrumpeligerer Laune - wieder.
Vor der Arbeit fährt sie aber noch Katharina zur Schule.
Schwesterchen geht jetzt in die zweite Klasse. Sie ist ziemlich schlau für ihr Alter.
Mit ihren sieben Jahren hat sie schon jetzt, mehr Gehirnzellen als ich je haben
werde, da bin ich mir sicher.
Kathi ist eine kleine Künstlerin. Sie ist ständig am zeichnen, entweder im
Unterricht oder in der Pause. Und wenn die Hausaufgaben fertig sind, zeichnet
sie zuhause weiter. Besonders gerne zeichnet sie das Schulgebäude oder
den Stadtpark nebenan. Die Bilder wirken noch etwas abstrakt, doch die
Auswahl der Farben und der dabei entstehende Kontrast, lassen ihre Bilder,
wie von einem jungen Picasso wirken. Ihr Talent ist einfach unverkennbar!
„Das sieht aus, als hätte jemand auf dein Papier gekotzt, Kathi.“, hänselte
ich sie neulich, als sie mir ihr neuestes Bild präsentierte. Was sie daraufhin
erwiderte werde ich niemals vergessen.
Das ist Fantasie, versuch das zu kapieren“, antwortete sie und boxte mich
in die Schulter. Das ließ ich mir nicht gefallen, und kitzelte sie daraufhin, bis
sie vor lachen Tränen in den Augen hatte. Sie ist das niedlichste Mädchen
dass ich kenne, echt wahr!
In der Schule passt sie auf und schreibt gute Noten. Ihre Klassenlehrerin ist
ganz begeistert von Schwesterchen. Beim letzten Elternabend erzählte sie,
wie wichtig es sei, Katharina zu fördern. „Man muss diesem Talent Aufmerksamkeit
schenken, sei es mit einer Kunst- oder einer Musikschule“, sagte sie.
Leider kann sich Mutter sowas nicht leisten, und das ist wirklich deprimierend.
Fast so deprimierend wie die Tatsache, dass unser Vater seit sechs Jahren
tot ist.
Er war ein Säufer gewesen.
Eines Tages - nach einem Streit mit Mutter - gab er sich die Kante und
beschloss einen Freund zu besuchen. Kurz darauf fuhr er mit 100 km/h
gegen einen Baum, und starb auf der Stelle.
Der Unfall hatte meine Mutter schwer mitgenommen, dabei war sie schon
immer eine sehr schwache und verletzliche Frau gewesen. Sie hatte sich
damals jeden Tag in den Schlaf geweint. Jetzt tut sie das nur alle zwei
Wochen mal. Meine Mutter hat viele Sorgen, wisst ihr? Ich bin eine davon.
(Sie scherzte neulich, dass ich sie irgendwann in die Klapse bringen würde!
Haha, typisch Mütter, oder?)
Schwesterchen kann sich an unseren Vater nicht mehr erinnern. Ich dagegen
umso mehr.
Er arbeitete am Fließband in einer Keksfabrik am anderen Ende der Stadt.
(Bei dieser Arbeit ist es wirklich kein Wunder, dass er sich betrank.)
Nach der Arbeit brachte er mir jede Woche frische Kekse mit. Ganz oft auch
saftige Lebkuchenmänner, mit großen weißen Augen und einem dicken roten
Grinsen aus Zuckerguß im Gesicht. Oh man, wie viele ich davon gegessen
habe! Und wie ich mich immer gefreut habe wenn er welche dabei hatte!
Egal wie betrunken er war, er brachte mir jedesmal welche mit. Sie waren
sogar noch warm gewesen, und so süß!
Obwohl meine Mutter oft das Gegenteil behauptete, war mein Vater kein
schlechter Mensch gewesen. Das kann ich euch versichern. Klar, er hatte
innere Dämonen gehabt, mit denen er täglich zu kämpfen hatte, aber die
hat jeder von uns, nicht wahr?  
Kurz nach seinem Unfall lernte ich Johnny und seinen besten Freund den
Drogenkonsum kennen. Ein Alkoholiker starb, ein Junkie kam auf die Welt
- so kanns kommen. (Übrigens verabscheue ich Alkohol über alles)
Seitdem ich Drogen konsumiere höre ich meine inneren Dämonen immer
öfter, und je größer mein Verlangen nach Rauschgift ist, desto lauter und
girieger melden sie sich zu Wort.
Gestern bei Johnny, kurz bevor ich mich unterwegs nachhause machen wolte,
sprachen sie zuletzt zu mir: Ey Matze, bevor du gehst, schleich dich vorher
in Johnnys Zimmer und schau mal in die eine Schublade! Du weißt schon
welche! Die eine, mit dem Geheimfach, in der Johnny immer das gute
Crystal lagert! Komm schon! Du weißt wie geil das Zeug ist, oder? Du bist
grad unbeobachtet. Niemand wird etwas merken, wenn du es dir holst.
Nur ein paar Gramm! Bitte!

Mein Crystal ist mir gestern ausgegangen, und das Verlangen nach mehr
war kaum auszuhalten. Ich hatte plötzlich nichts, außer dieser bekloppten
Schublade im Kopf gehabt.
Johnny war zu dem Zeitpunkt nicht zuhause gewesen und die anderen, hatten
den Morgen mit Schlafen verbracht.
Also nutzte ich meine Chance und schlich mich leise in sein Zimmer. Was ich
dort erblickte, ließ meine Eifersucht erneut auflammen: Christine und Fabian
schliefen gemeinsam in Johnnys Bett - In Löffelchen Stellung natürlich! Ich
hätte fast laut geflucht!
Plötzlich hatte sich die Stimme wieder gemeldet, diesmal etwas energischer:
Scheiß auf die! Die schlafen tief und fest und werden schon nichts merken.
Hol dir jetzt den Inhalt der Schublade und zisch ab!

Doch als ich die Schublade öffnete und das Geheimfach zur Seite schob,
erblickte ich kein Crystal Meth, sondern ein buntes rechteckiges Stück Papier.
Vorsichtig nahm ich den Papierfetzen in die Hand und betrachtete ihn genauer.
Er war unterteilt in vier Quadrate; auf jedem waren knallbunte Zeichentrickfiguren
abgebildet. Ich erkannte einen lachenden Donald Duck und eine bedrohlich
grinsende Mickey Maus. Was auf den anderen abgebildet war, konnte ich nicht
erkennen - Die Abbildungen waren zu abstrakt.
Das sind bestimmt LSD Tickets, Matze. Auch gut! Nimm sie mit und gönn
dir zuhause einen Trip! Bei all den Substanzen, die Johnny bei sich rumliegen
hat, wird er wohl nicht merken das ihm ein paar Tickets fehlen, oder? Komm,
nimm es an dich!  

Ich hörte auf die Stimme und steckte das LSD ein.
Und hier bin ich nun: Schlecht gelaunt und ohne Crystal - dafür aber mit vier
Fahrkarten in Richtung Zauberland. Wenn ich mir heute kein Crystal Meth
geben kann, genieße ich eben einen ordentlichen Trip! Das wird mich auf
andere Gedanken bringen. Manchmal muss man die Realität doch einfach
hinter sich lassen, oder? Scheiß auf Christine und Fabian; Und vor allen
Scheiß auf Johnny, diesen Cousin einer Hure!
Vorsichtig trenne ich das Ticket mit der Donald Duck Abbildung ab und lege es
auf meine Zunge.   
Das wars? Nur eins? Das ist fast gar nichts, und das weißt du. Komm sein
keine Pussy, du machst doch sonst keine halben Sachen!

Nach kurzem zögern, reiße ich mir noch eins ab, und lege es auf meine Zunge.
Die restlichen zwei verstaue ich unter meinem Kopfkissen. Wer weiß? Vielleicht
brauche ich sie später noch.
Danach greife ich mir die Wasserflasche mit dem geschmackvollen Wasser,
und spüle beide Tickets runter.
(Und das meine Damen und Herren, war der Anfang vom Ende. Ich wusste
es nur noch nicht.)
In ungefähr einer halben Stunde müsste der Stoff anfangen zu wirken.
Wahrscheinlich schon in zwanzig Minuten, weil ich einen leeren Magen
hatte. Wann habe ich, das letzte mal überhaupt etwas gehaltvolles gegessen?
Beziehungsweise: Wann habe ich das letzte mal Appetit verspürt? Ich wusste
es beim besten Willen nicht mehr. Das war wieder einer der vielen Momente,
an denen ich mich selber verfluchte, jemals Crystal Meth probiert zu haben.
(Habe ich Ihnen eigentlich schonmal erzählt, was für ein Teufelszeug Crystal
ist? Es nimmt Ihnen alles weg: Zuerst ihr Hungergefühl; zum Schluss ihr Leben.)
Später werde ich etwas essen müssen, das steht fest. Vielleicht verspüre ich
zum Abend hin, wieder etwas Appetit.
(Stunden später, als mein Rausch seinen Höhepunkt erreicht hatte, und
ich nicht mehr wusste wo oben und unten war, bildete ich mir ein, einen
übergroßen Lebkuchenmann zu essen. Verrückt, oder? Aber dazu kommen
wir noch, nur Geduld!)

Ich gehe zu meinem Schrank, krame eine Marlboro heraus und zünde sie an.
Genüsslich atme ich den Rauch ein, und spüre wie meine Lunge mit einer
wohligen Wärme durchflutet wird. Es gibt nichts schöneres als die erste
Zigarrette am morgen! Obwohl... Nein, etwas Crystal Meth wäre jetzt aufjedenfall
schöner... fuck it.
Ich lege mich rauchend auf mein Bett und denke nach.
Ich war sechzehn Jahre alt, als ich meinen ersten richtigen LSD Trip hatte.
Seitdem habe ich dutzend weitere gehabt, wobei ich jede Reise als einzigartig
und wunderbar empfunden habe. Dieses Gefühl, der Realität zu entkommen,
und die spirituelle Welt der Halluzinogene zu betreten, ist einfach unglaublich!
Man kann seine Sorgen und Gedanken - wie zum Beispiel, Blondinen, die
einen nicht wollen- einfach hinter sich lassen. Was bleibt ist ein Gefühl von
Losgelöstheit, dass nur sehr schwer zu beschreiben ist: Es ist, als würde
man mit der Raumzeit verschmelzen; Als würde man eins mit dem Universum
werden. Viele behaupten sogar, dass es sich wie eine Erleuchtung anfühlen
würde; Als hätte man die Vollkommenheit des Geistes erreicht und dass,
ohne jahrelang unter einem Feigenbaum zu hocken und zu meditieren!
Manchmal frage ich mich, was Buddha wohl von bewusstseinserweiternden
Drogen halten würde. Ob sie vielleicht schon damals in irgendeiner Form
erhältlich waren?
Alles schön und gut, mein Freund, meldete sich wieder die Stimme in
meinem Kopf. Was ist, wenn das Zeug vorhin überhaupt gar kein LSD
war? Was ist wenn ...

BBRRRT...
Eine Vibration an meinem Oberschenkel, lässt mich aufschrecken - Es war
mein Nokia.
Hastig ziehe ich ein letztes mal an der Zigarette und drücke sie im Aschenbecher
unter meinem Bett aus.
Vielleicht ist es ja Johnny, der mir bescheid sagen will, dass er neues Crystal
geholt hat. Das wären mal gute Neuigkeiten.
Stirnrunzelnd ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche. Auf dem rechteckigen
Display steht:
 
 1 Kurzmitteilung
eingegangen

 
Als ich sie öffne, erscheint folgender Text:
 
Von: Johnny
du behinderter
junkie hast mich
wieder bestohlen

 
„Scheiße!“, fauche ich. Woher weiß er dass ich es war? Jeder von uns kennt
sein geheimes Versteck in der Schublade! Jeder hätte es sich nehmen können!
Was für eine Scheiße! Nicht zu fassen!
Aber okay, jetzt geht es um Schadensbegrenzung. Ich leugne alles indem ich
folgenden Text in mein Handy tippe:
 
An: Johnny
Ich weiß nicht
wovon du
redest. ich war
es nicht

 
Meine Hände waren nass und zitterten.
Du bist viel zu nervös. Entspann dich, Matze. Heute ist dein Tag, vergiss
das nicht!

Nein, ich lasse mir auf keinen Fall die Laune verderben. Vor allen weil es
langsam losging. Die Substanzen in meinem Körper machten sich langsam
bemerkbar: Ich spürte wie eine wonnige, wohltuende Wärme meine Brust
durchflutete.
Mein Handy vibrierte erneut. So schnell kann Johnny die Nachricht gar nicht
getippt haben, fällt mir auf. Der Wichser muss sie schon vorher geschrieben
haben, als hätte er gewusst wie ich antworten würde.
Seine Nachricht war diesmal folgende:
 
Von: Johnny
meine cousine
hat dich dabei
gesehen. Sie hat
nicht geschlafen
als du an der
Schublade warst.

 
Christine hatte mich also beobachtet. Scheiße. Aber was macht das schon?
Irgendwie interessierte mich das gar nicht mehr so richtig. Ich wurde von einer
Schlampe beim klauen erwischt. Na und? Irgendwie finde ich das gar nicht
mehr so schlimm.
Scheiß auf die. Die sind jetzt nicht mehr wichtig, Matze.
Ich fühlte mich immer mehr und mehr als würde ich auf einer schwebenden
Wolke sitzen. Dieses Gefühl einzufangen und zu genießen; Es erleben und zu
kosten, als wäre es eine seltene Frucht, darum geht es grad. Der Rest war einerlei.
Ich lege mich auf mein Bett und schließe die Augen. Ich fühle mich plötzlich so
entspannt, wie seit langen nicht mehr - irgendwie befreit und fern von Problemen.
Kaum vorstellbar, dass ich mich gerade noch über Johnny aufgeregt habe. Der
Typ ist jetzt Vergangenheit. Hoffentlich werde ich den fetten Bastard nie
wiedersehen. Ich werde mir mein Crystal schon wo anders...
BBRRRT...
Noch eine Sms. Fuck.
Leicht benommen öffne ich meine Augen. Die Farben um mich herum wirkten
auf einmal anders; als hätte jemand ihren Kontrast hochgeschraubt. Ich blicke
nach oben und sehe kurzzeitig linienförmige Muster, die sich wellenförmig in
verschiedene Richtungen auf meiner Decke ausbreiteten. Ich musste Grinsen.
Durch LSD hervorgerufene visuelle Wahrnehmungen haben mich schon immer
aufgeheitert.  
Der Stoff ist spitzenmäßig, Johnny. Wirklich, Kompliment. Aber was zur
Hölle kannst du noch von mir wollen?
 
Genervt setzte ich mich auf und schaute auf mein Handy. Wegen meinen
erweiterten Pupillen, erschien mir die Nachricht zunächst verschwommen.
Als meine Pupillen sich schließlich anpassten und ich die Sms entziffern
konnte, traf mich jedes Wort, wie ein Schlag ins Gesicht:
 
Von: Johnny
Nimm auf gar
KEINEN Fall ein
ganzes! Das ist
kein LSD! Es ist
viel stärker!
Sonst brings du
Dich noch um du
Spasti!

 
Mir stockte der Atem. Ich konnte nicht glauben was ich gerade gelesen habe.
Auf gar keinen Fall EIN ganzes? Will er mich verarschen? Ich habe ganze
ZWEI Stück geschluckt! Mein Herz fing an zu rasen. Ich bekam es mit der Angst
u tun. Oh Gott, oh Gott, oh Gott…
Ich muss mir einen Finger in den Hals stecken und es auskotzen. Ich stand
ruckartig auf und...
... wurde im nächsten Augenblick ohnmächtig. Mein letzter Gedanke war: Was
zur Hölle habe ich da genommen?
Dann fiel ich bewusstlos auf den Boden.
 
 
Jetzt (2)
 
TempX hieß die Droge (auf der Straße auch ‚fuckfacer‘ genannt).
Es war ein synthetisch hergestelltes Haluzinogen aus Osteuropa. Doppelt so
stark wie LSD oder Mescalin und viermal so gefährlich. Als das Zeug bei uns
auftauchte, gab es allein im ersten Jahr fünf bestätigte Todesfälle. Es zählt
- neben Crystal Meth und der ‚Krokodil Droge‘ - zu einer der gefährlichsten
Drogen der Welt.  
Wenn man bedenkt unter welchen Umständen ich Johnnys Tickets genommen
habe - Schlafmangel, Crystal, Ecstasy im Blut, dazu ein leeren Magen -, fragt
man sich einfach nur, wie um Himmels Willen, ich so gottverdammt dumm und
verantwortungslos sein konnte? Was ich mir wohl dabei gedacht habe?
Wahrscheinlich gar nichts. Damals habe ich mit meinen wenigen Gehirnzellen
selten, bis gar nicht nachgedacht.
Als ich ohnmächtig wurde, hatte ich ungefähr die dreifache Überdosis in mir.
Es war genug um mich umzubringen. 
Die nächsten Seiten sind nichts für schwache Nerven.
Als ich wieder zu mir kam...
 
 
Mai 1999 (2)
 
... befand ich mich in einer anderen Welt.
Der Raum um mich herum, ähnelte meinem Zimmer, mit dem Unterschied,
dass hier alles viel surrealer und abstrakter wirkte: Die Wände bestanden
aus pulsierenden bunten Kacheln, die sich hin und her bewegten. Mein Bett,
mein Schrank und die Kommode wirkten, wie aus einer Kinderzeichnung
entsprungen.

Alles fühlte sich so unglaublich anders an. Sogar mein Körper scheint sich
verändert zu haben: Ich spürte ihn nämlich nicht mehr. Er war wie betäubt.
Das einzige was ich fühlte, war ein nagender, krankhafter Hunger, als hätte
ich tagelang nichts mehr gegessen...

Träume ich etwa? Oder ist dies vielleicht das Jenseits? Was es auch war,
ich verspürte keine Angst. Im Gegenteil: Es war wunderschön! Die bunten
Wände und die tanzenden Farben um mich herum waren faszinierend und
so wundervoll! Es war, als hätte mir jemand einen Farbeimer über den
Kopf geschüttet!

Plötzlich nahm ich ein Geräusch wahr. Es klang wie eine Trommel und
war so laut, dass es die Luft zum vibrierren brachte. Wo kam dieses
Geräunsch her?

Benommen machte ich zwei Schritte Richtung (Zimmertür?). Als ich mich
ihr näherte, sah ich, wie der Türrahmen schlangenlinienförmige Bewegungen
vollführte und die Tür selbst ihre Farbe wechselte: Von rot, zu purpur und
wieder zu rot.

In Zeitlupe hob ich meine rechte Hand um die Tür zu öffnen, als plötzlich
- und ich schwöre es euch - die Tür von ganz alleine aufschwang! Unglaublich,
aber es ist echt passiert! 

Ich ging (schwebte) durch die Tür.
(Unser Flur?) war ebenfalls komplett in Farbe gehüllt. Die Wände wirkten
schief und pulsierten rhytmisch zu dem Trommeln, dass in meinen Ohren
immer lauter wurde. (BUMBUMBUMBUMBUMBUM...)

Unser Kleiderständer hatte sich verändert. In dieser Welt wirkte er regelrecht
verstörend, denn anstatt Jacken, hingen da rote und blaue Schweinekadaver...

Und dann sah ich ihn: Der Lebkuchenmann stand mitten im Flur und grinste
mich mit seinem Mund aus rotem Zuckerguss an. Er war einen Meter groß
und scheinbar frisch gebacken. Seine weißen Knopfaugen aus Zuckerguss
waren auf mich gerichtet.  

„Ess mich Matthias!“, sagte er. „Ich bin sooooo lecker!“
Ohja! Nichts lieber als das! Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Jesus,
wie hungrig ich war! Und dieser übergroße Leckerbissen kam genau zur
richtigen Zeit!

Während ich auf ihn zu ging, wurde mir bewusst wo das Trommelgeräusch
her kam: Es war die ganze Zeit über mein eigener Herzschlag.
(BUMBUMBUMBUMBUMBUM)    

Ich packte den Lebkuchenmann bei den Schultern und spürte warmen saftigen
Lebkuchen an meinen Händen. Er schaute mich erwartungsvoll an.

„Bin so lecker wie nie, willst du mich probieren?“, fragte er. (Doch in meinem
Kopf hörte es sich an wie: Das ist Fantasie, versuch das zu kapieren!)

Ich drückte ihn runter bis er der Länge nach auf dem Boden lag. Dann setzte
ich mich auf ihn.
Er fing an zu kichern: „Hihihi, so lecker wie nie!“

(dasistfantasie!)
Als erstes pulte ich mir eines seiner weißen Knopfaugen heraus, und schluckte
es runter. Das brachte ihn richtig in Stimmung und er fing an, unkontrolliert zu
lachen: „Hahahaha! Hihihihih! Du musst noch mehr probieren!“

(versuchdaszukapieren!)
Sein zweites Auge verschlang ich ebenfalls. Es schmeckte so süß und
nahrhaft! Danach knabberte ich an seinem Gesicht, während er immer weiter
lachte. Er war so saftig, dass mir seine Lebkuchensäfte das Kinn
runterliefen. Es war der beste Lebkuchen den ich jemals hatte!

Als sein brauner Lebkuchenhals an der Reihe war, verstummte sein Lachen.
Doch ich aß immer weiter. Ich knabberte an seinen Armen und aß Teile von
seinem Bauch, bis ich nicht mehr konnte... 

Irgendwann verlor ich schließlich wieder das Bewusstsein. Bis dahin war
der Lebkuchenmann bis zur Hälfte gegessen. Armer kleiner Typ. Der hatte
nichts mehr zum Lachen, das sage ich euch, haha!

 
 
Mai 1999 (3)
 
Dunkelheit. Außer dem insektenartigen Ticken einer Uhr, herrschte Stille.
Wo bin ich?
Langsam kam ich zu mir. Es war, als würde ich aus einer tiefen Narkose
aufwachen.
Was ist geschehen?
Ich lag flach auf dem Bauch und spürte harten Boden unter mir. Mein
ganzer Körper schmerzte. Erschrocken stellte ich fest, dass ich den
eisenhaltigen Geschmack von Blut auf der Zunge hatte...
Mein Gott, was zur Hölle ist passiert? Was habe ich wieder angestellt?
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Johnnys Zeug... Das LSD, was keines war...
Langsam fiel es mir wieder ein: Ich war auf Drogen und habe halluziniert...
da war dieser Lebkuchenmann, den ich mir eingebildet habe... ja genau...

Meine Augen waren verkrustet und verklebt. Mein ganzes Gesicht schien
verkrustet und verklebt zu sein. Der Boden auf dem ich lag war es ebenfalls.
Wahrscheinlich habe ich mich übergeben und bin dann in meiner Kotze
ohnmächtig geworden. Vom Kotzen bekam ich meistens Nasenbluten. Das
erklärte auch den Geschmack in meinem Mund.
Ich lag mit der linken Wange auf dem Boden und als ich meine verklebten
Augen öffnete, erkannte ich verschwommen unseren Hausflur. Entgeistert
stellte ich fest, dass ich alles durch einen roten Schleier sah. War das etwa
Blut an meinen Augen? Habe ich mich etwa am Kopf gestoßen? Wie viel
Blut habe ich verloren? Verdammt... der ganze Flur roch danach! Ich bekam
es mit der Angst zu tun.
Keuchend und ächzend richtete ich mich langsam auf. Dabei fühlte ich mich
immer schlechter und schlechter. Mein Hals war so wund, dass ich bei jedem
Schlucken zusammenzuckte, und der scheußliche Geschmack in meinem
Mund machte es nur noch schlimmer.
Lieber Gott, bitte lass es nicht so schlimm sein...
Als ich es schaffte mich hinzuknien, rieb ich mir die Augen und befreite sie
von dem Schmutz, der mir die Sicht nahm.
Was danach passierte vermag ich kaum zu beschreiben.
Als ich meine Augen öffnete, erblickte ich etwas, was ich nicht begreifen
konnte. Ich sah eine Menge Blut, und noch etwas anderes, doch mein
Verstand wehrte sich dagegen, es als ganzes zu verstehen.
Ich schloss die Augen und fühlte, wie alle Kraft aus meinem Körper wich.
Langsam wurde ich wieder ohnmächtig.
Plötzlich musste an meinen Vater denken. Und an seine Lebkuchenmänner...
Und wie er zu mir sagte: Das ist Fantasie, versuch das zu kapieren!
Aber halt, das stimmt nicht. Dieder Satz stammt nicht von ihm...
Das hat Kathi zu mir gesagt...

Das brachte die Sicherung in meinem Verstand zum durchbrennen.
Oh nein...
Ich öffnete meine Augen und zwang mich wieder hin zuschauen...
Vor mir lag Kathis Leiche auf dem Boden.
Ihre einst so schönen blonden Haare waren blutverschmiert und
teilweise herausgerissen.
Was...
Anstelle von blauen Augen, hatte sie zwei schwarze Löcher im Gesicht.
Ein halbes Auge lief ihr die rechte Gesichtshälfte hinunter.
...habe
Doch sie hatte kein Gesicht mehr; bloß eine blutige Maske. Ihre Nase
wurde herausgerissen; genauso wie ihre Lippen und Wangen. Ihre kleinen
Zähne boten mir ein abscheuliches Grinsen.
...ich
Ihr Hals war komplett zerfetzt. Ihre Arme waren übersät mit Bisswunden
- manche blau und grün, die meisten jedoch rot und feucht.
...getan?
Plötzlich wurde mir etwas bewusst: Der Lebkuchenmann hat nicht gelacht
- Sie hat geschrien!
Oh Kathi, oh liebe kleine Kathi...
Ich wollte aufstehen, weglaufen, schreien; doch ich war wie erstarrt und
konnte meinen Blick nicht von ihr wenden.
Plötzlich nahm ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel heraus wahr.
Ich schaffte es den Blick von den sterblichen Überresten meiner Schwester
zu wenden und blickte erschrocken Richtung Haustür... Dort in der Ecke
- einen Meter neben Kathis Schulranzen - stand meine Mutter. Sie sah
aus wie ein Tier in der Falle: Ihre Lippen waren zurückgezogen; die Arme
hingen ihr schlaff hinunter. Ihre Augen waren aufgerissen und blickten starr
auf Kathis Leiche.
Ich brachte ein klägliches: „Ohmama...“ zustande.
Oh Mama, bitte geh! Schau dir das nicht an, wollte ich sagen. Es tut mir
so leid, bitte schau doch weg! Mama ich wollte das nicht...

Auf einmal wanderte ihr Blick nach oben und wir schauten uns einen
grauenhaften Moment lang in die Augen. Ihre Oberlippe zitterte nervös, als
ich leise und kaum wahrnehmbar fragte: „Mama... wie lange stehst du schon
da?“
Das war der Moment, wo sie sich in die Ecke hockte, die Beine an den
Körper zog und mit dem Schreien anfing.
„AAAAAAAAAAAAIIIIIIIIIH!“
Ihr Geschrei traf mich wie ein Schlag ins Gesicht und ich dachte ich müsste
wieder ohnmächtig werden. Es war das schlimmste was ich jemals hören
musste. Ich hob die Hände und hielt mir die Ohren zu. Es war kaum auszuhalten.
„AAAAAAIIIH! AAAAIH! AAAAAAI!“
Ihr Geschrei; das viele Blut; der Geschmack von Kupfer in meinem Mund...
Ich war auf dem direkten Wege den Verstand zu verlieren.
„Hör doch bitte auf, Mama! Alles wird gut! Ich werde mit den Drogen aufhören!
Ich werde... oh, nein... nein...“

Auf einmal wurde mir schlecht und ich bekam fürchterliche Magenkrämpfe. Ich
lehnte mich nach vorne und hielt mir mit einem schmerzverzerrten Gesicht den
Bauch. Oh nein, nicht jetzt... bitte nicht...
Doch es kam wie es kommen musste: Ein Schwall Erbrochenes schoss mir
den Hals hoch und landete mit einem lauten ‚Klatsch‘ zwischen mir und dem
Leichnahm meiner Schwester. Meinen grausigen Mageninhalt zu sehen, gab
mir den Rest und ich besudelte, den ohnehin schon besudelten Boden, mit
einer weiteren heißen Ladung Erbrochenem.
Und auf einmal konnte ich nicht mehr aufhören mit dem Kotzen. Es kam
immer mehr und mehr, während meine Mutter immer weiter und weiter
schrie...
 
Ein paar Minuten später drangen zwei Polizeibeamte in unsere Wohnung
ein - die Armen Schweine! Ihr hättet ihre Gesichter sehen sollen! Denen
habe ich ebenfalls den Tag versaut, dass könnt ihr mir glauben!
 
 
Jetzt (3)
 
Die Sonne geht langsam auf.
Meine Geschichte ist fertig geschrieben und ich fühle mich verdammt müde.
Es wird Zeit, dass ich mich schlafen lege.
Sie halten mich auch für ein Monster, nicht wahr? Keine Sorge, ich nehme
es Ihnen nicht übel. Doch Sie sollen wissen, dass ich meine Schwester
geliebt habe und ihr niemals etwas zu Leide tun wollte. Ob sie mir jemals
verzeihen wird? Ich weiß es nicht.
Neulich war sie wieder in meinem Zimmer.
„Kathi, Schwesterherz, kannst du mir bitte verzeihen?“, fragte ich sie. Doch
ich bekam keine Antwort. Ich bekomme nie eine. Vielleicht findet sie einfach
keine passenden Worte.   
In letzter Zeit besucht sie mich immer öfter. Meistens nachts.
Manchmal taucht sie vor meinem Bett auf (was mir zutiefst zuwider ist, weil
sie ja schließlich kein Gesicht mehr hat) Es kommt aber auch vor, dass sie
mitten im Zimmer auftaucht und mir die ganze Nacht über, den Rücken zukehrt.
Es gibt auch Nächte, in denen sie gar nicht auftaucht. Das sind die Nächte, in
denen ich mir ausnahmsweise mal nicht ins Bett pisse.
Einmal - das war vor etwa zwei Monaten gewesen - sah ich sie meine
Zimmerdecke entlang marschieren. Irgendwie war das zu viel für mich und
ich verlor die Beherrschung. Ich stieg von meinem Bett und fing an, sie
anzuschreien: „Komm da runter und lass mich verdammt nochmal schlafen
du Drecksstück! Wieso lässt du mich nicht in Ruhe?!“,
beschimpfte ich sie.
Was folgte, war eine unmittelbare Beruhigungsspritze und zusätzliche
Sitzungen bei Dr Klements.
Sie können sich ja danken, was er mir erzählt.  
Was du in deinem Zimmer siehst, ist nicht Katharina. Deine Sinne spielen
dir einen Streich. Bla bla bla, du hast bleibende Wahrnehmungstörungen,
et cetera...
Und zum Schluss erzählt er mir immer von seinem Lieblingsthema,
der ‚substanzinduzierten Psychose‘. Was immer das auch sein mag.
Er erzählt sowieso nur Unsinn, denn ich weiß was ich sehe! Ich kann sehr wohl,
real von unreal unterscheiden! Ich habe mich noch nie getäuscht. Wirklich!
Obwohl... nein. Ach Scheiße, lassen wir das...
Doch eine Frage hätte ich noch an Sie, Dr. Klements: Wenn sie nur eine
Einbildung ist, wie kommt es, dass mir bei jedem ihrer Besuche, der
Geschmack von Blut in den Mund schießt?

 
Danke für Ihre Zeit, lieber Leser. Machen Sie es gut und passen sie auf sich
auf. Und wenn ich Ihnen noch einen Rat mitgeben darf:
Lassen sie die Finger von Drogen! Die machen nämlich mehr kaputt als sie
glauben.
 
 ... stimmt’s Schwesterchen?
 

Ende

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.02.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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