Anna Jansen

Spiegelherz

 

Bevor ich Ihnen diese Geschichte erzähle, möchte ich Sie etwas fragen...

Glauben Sie an Schicksal, an Wunder? Glauben Sie daran, dass unerklärliche Dinge mit uns geschehen können?

Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, meine Geschichte. Es ist meine, auch wenn der eigentliche Held dieser Geschichte erst später aufteten wird und ich nicht dieser Held bin. Ich denke, ich bin eher die Prinzessin im Turm, der Drache, der den Turm bewacht und der böse Zauberer, der die Prinzessin im Turm eingesperrt hat. Aber mein Retter -und er war nicht nur mein Retter- erschien mir aus heiterem Himmel, befreite mich von mir selbst und half mir auf eine Art, wie ich es mir bis heute kaum vorzustellen vermag.

Aber ich erinnere mich, ich erinnere mich gut. An jenen Tag vor Jahren, an dem ich seit langem mich wieder selbst gesehen habe.


 

Das Lächeln

Es war März. Die Temperaturen wurden langsam wieder angenehmer und die Tage wieder früher. Wie jeden Morgen ging ich zur Arbeit und mittags zum Essen in ein Cafe, aß ein Brötchen, dasselbe wie immer, ging zurück zur Arbeit und dann am späten Nachmittag wieder nach Hause. Aber an diesem Tag war etwas anders. Die Gesichter der Leute schwammen förmlich an mir vorbei. Die Geräusche schienen dumpfer und unklar zu sein. Zeit als solche erkannte ich schon lange nicht mehr und doch hatte ich das Gefühl, dass die Zeit mir heute davonlief. Eine panische Hektik erfasste mich, wie ich mich auf den Weg nach Hause machte. Mein Innerstes tat mir weh und doch konnte ich den Schmerz nirgendwo zuordnen. Ich kaufte im Supermarkt ein, lächelte die Leute an und sie lächelten zurück. Alles war wie immer. Warum also? Warum hatte ich dieses Gefühl?

Die Zeit, in der ich intensiv gefühlt habe, war vorbei. Das war sie doch, oder? Das vergangene liegt hinter mir. Ich glaube, dass eine Stimme mir etwas zuflüstert, aber hier ist niemand. Die Nachbarn grüßen mich freundlich, ich grüße zurück. Man kennt sich eben so als Nachbarn. Geplauder über das Wetter, die Politik, die Arbeit, die Kinder... Ich gehe ins Haus. Dieses Gefühl lässt nicht nach. Warum bin ich so aufgewühlt? Das Telefon klingelt. Meine Schwester möchte wissen, ob ich zur Feier kommen kann. Nein, leider nicht. Verständnis, liebe Worte, Stille.

Und dann wieder Unruhe. Niemand weiß es. Niemand weiß, dass ich mich in den Schlaf weine. Auch heute wieder. Wie immer. Und doch ist irgendetwas anders. Das spüre ich genau.

Es ist fast Mitternacht, als ich wieder aufwache, die Tränen längst versiegt und innerlich etwas ruhiger. Auf dem Sofa liegend starre ich an die Decke und sehe sie nicht. Ich kann sie nicht fokussieren, es ist als ob ich immer daran vorbei sehe. Warum ich aufstand, weiß ich bis heute nicht. Ich gehe zur Tür, öffne sie, gehe die halbe Straße in meinem Schlafanzug runter und halte direkt auf den Spielplatz an der Kreuzung zu. Man sagte mir später, dass Schlafwandeln eine Möglichkeit wäre, aber ich tat dies bewusst. Ganz absichtlich. Nur was ich damit beabsichtigte, weiß ich nicht. Es ist dunkel, die wenigen Straßenlaternen gaben gerade genug Licht für die Straße ab. Ich hielt genau auf die kleine Rutsche zu. Ein Bild flackerte in meinem Kopf auf. Sonnenschein. Ein Kind in der kleinen Höhle unter der Rutsche. Sandalen mit Blümchen. Ihr Gesicht. Wasser. Und dann war wieder Nacht.

Unter der Rutsche hockte eine kleine Gestalt. Ein Kind. Glatte dunkle Haare. Einfache Kleidung. Er sah mich an. Ich hockte mich neben die Rutsche und fragte was er denn hier tue. Ich lächelte, spürte das Gefühl von meinem Lächeln auf den Wangen.

"Warum weinst du?"

Ich spürte, dass ich lächelte. Keine Tränen flossen, auch das spürte ich genau. Verwirrt sagte ich, dass ich nicht weine.

"Warum weinst du? Bist du traurig?"

Ich sagte, er solle nach Hause gehen, da sonst Mama und Papa traurig sein würden und machte mich auf den Weg zurück zu meinem Haus. Als ich die Tür wieder zumachen wollte sah ich ihn vor der Tür stehen, er war mir gefolgt. Er sah aus wie eine Puppe mit großen glasigen Augen. Sein Gesicht wirkte seltsam starr. Ich wusste irgendwie, dass er dort am Spielplatz auf mich gewartet hat. Dass er der Grund ist, weshalb ich dorthingegangen bin. Mehr als das jedoch wusste ich, dass er allein war. So fragte ich: "Hast du dich verlaufen? Soll ich dir morgen helfen, nach Hause zu finden?"

"Was ist 'nach Hause'?" Seine Stimme war monoton. Sie wirkte aber auch -oder gerade deswegen- traurig und verlassen. Ich hielt ihm die Tür auf, führte ihn ins Wohnzimmer und sagte, er könne heute auf der Couch schlafen. Er legte sich ungelenk hin und ich deckte ihn zu. So große Augen. Und er wirkte trauriger, je länger ich ihn ansah. Ich lächelte und sagte, dass Morgen alles besser wird.

"Warum weinst du?"

Ich wollte ihm nochmal widersprechen, ich würde nicht weinen, doch als ich in seine Augen sah, erschreckte ich mich. Ich lächelte, das wusste ich. Auch wusste ich, dass ich nicht weinte. Warum? Warum spiegelte sich mein weinendes Gesicht und tonlose Schreie in seinen Augen? Mein Innerstes schmerzte wieder und ich hatte Angst. Wer ist dieser Junge? Was ist er? Ich schaffte es, nicht davonzulaufen, sagte nochmal, dass wir morgen seine Eltern suchen gehen und er jetzt ruhig schlafen soll. Ich ging in mein Zimmer und legte mich hin. Warum? Warum sah ich mich so in seinen Augen? Warum sieht er mich so?

Mein Innerstes schmerzte vor Trauer, Verlust, Wut. Ich habe es nicht vergessen, wie könnte ich auch? Das Vergangene liegt doch hinter mir, oder?

"Nein." Das war meine eigene Stimme. "Es ist nicht vorbei. Du lügst, du lügst dich selbst an. Du lügst alle anderen an. Du kannst nicht mal dir selbst eingestehen, traurig zu sein. Du bist so feige. Trau dich! Trau dich endlich!" Und dann weinte ich hemmungslos. Schluchzte laut und schlug auf die Kissen ein, warf sie an die Wand bis ich regungslos liegenblieb. Der Schmerz ließ etwas nach.

"Jetzt nicht." Die Stimme kam vom Flur. Der Junge stand vor meiner Tür, übersah den Kampf, den ich mit mir selbst ausgetragen habe. Etwas von der Traurigkeit schien aus seinem Blick verschwunden. "Jetzt lügst du dich nicht an." Und auf einmal lächelte er. Kein falsches Lächeln, wie ich es so oft aufgesetzt hatte. Ein trauriges Lächeln, aber echt. Ein Blick voller Ehrlichkeit und ein Hauch von Zufriedenheit. Es war mein Lächeln. Jetzt spürte ich es auf meinen Wangen. Die restlichen Tränen störten mich nicht, sie gehörten dazu.

"Genug geweint, jetzt wird geschlafen. Ab nach unten aufs Sofa, junger Mann."

"Ja." Als er sich langsam wegdrehte verschwand jede Emotion wieder aus seinem Gesicht. Ich hörte ihn die Treppe runtergehen und die quietschende Tür vom Wohnzimmer. Dann schaltete ich auch mein Licht aus und legte mich ins Bett. Ich dachte noch über diesen Jungen nach, über diesen Tag und bis zum Schluss dachte ich an dieses Lächeln. Bis ich einschlief. Und wissen Sie was?

Ich habe nicht geweint. Ich habe gelächelt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.02.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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