Olaf KF

Aus meinem Leben als Religionslehrer: Die Mitte gestalten

 

So viele Dinge sind es gar nicht, die zum unbedingten Handwerkszeug eines Religionslehrers gehören. Zu den unaufgebbaren didaktisch-methodischen Basics gehört dabei sicherlich die Gestaltete Mitte. Das heißt, man setzt sich mit den Schülern in einen Sitzkreis, gestaltet beispielsweise mit Tuch und Kerze eine Mitte und merkt dann, wie gut man auf diese Weise zur Ruhe und miteinander ins Gespräch kommt. Nun ... ich war noch nicht lange im Lehrberuf tätig, da hatte ich ein besonderes Erlebnis mit einer solchen Gestalteten Mitte.

Ich war damals neu an der Schule. Um meinen Unterricht abwechslungsreicher zu gestalten, hatte ich vorher ein paar Fortbildungen besucht. Unter anderem eine zum Thema Tanzen im Unterricht. Dann kam dieser besondere Tag. Ich war morgens in die Schule gekommen, der Direktor hatte mich noch vor Unterrichtsbeginn abgefangen und mich gebeten, in der dritten Stunde in einer fünften Klasse zu vertreten. Vertretungsstunden habe ich schon damals gerne gehalten. Ich nickte also freudig-zustimmend und begann zu überlegen, was ich mit den kleinen Fünftklässlern denn anstellen könnte. ... Tanzen vielleicht? Tanzen müsste doch gehen. Das hatte ich gerade in der Fortbildung gelernt, das konnte ich und dazu hatte ich Lust!

Dann kam die dritte Stunde und ich machte mich auf zum Raum der fünften Klasse. Das Zimmer war geräumig und hatte eine Ecke, die groß genug war für einen Rundtanz. Begrenzt war die Ecke auf der einen Seite von der Fensterfront, auf der anderen von einem Regal, das mit Büchern, Bildern und einigen Blümchen bestückt war.

Nach der Begrüßung bat ich die Schüler in den Kreis und erklärte, was ich vorhabe. Sie hörten aufmerksam zu, wir stellten uns im Rundkreis auf, fassten uns an den Händen und begannen den Tanz zu üben. Das klappte alles so gut, dass ich nach einigen Proberunden die dazu passende Musik anmachte. Nun war es so, wie es sein sollte: Wir bewegten uns rhythmisch zur Musik, wir achteten aufeinander, jeder brachte sich ein und ich freute mich, wie gut alles gelang ... bis dann Folgendes passierte:

So richtig groß genug war unsere Ecke dann wohl doch nicht, denn plötzlich stieß ein Mädchen mit der Schulter gegen das Bücherregal und brachte es dazu, kurz zu wackeln. Nur kurz – aber lang genug, dass eine der Blumenvasen umzukippen drohte. Ich hatte das mitbekommen, verließ jäh unseren Tanzkreis und stürzte zu der nun tatsächlich fallenden Vase ... aber zu spät: Die Vase fiel ungehindert auf den Boden. Zum Glück blieb das Glas heil, aber das Blumenwasser verteilte sich großzügig über den ganzen Boden.

Nun gut. Damit war klar, dass das Thema Tanzen bis auf Weiteres erledigt sein würde. Ich wies die Schüler an, Papier zu holen, damit wir die Lache aufwischen könnten. Aber schon während dieser Anweisung bemerkten wir, dass das nicht nur Wasser war, das es nun aufzuwischen galt. Es war stinkendes Wasser. Extrem stinkendes Wasser sogar. Offenbar hatte die Klassenlehrerin das Wasser schon seit Ewigkeiten nicht mehr gewechselt und so hatte das Wasser diesen elend-fauligen Gestank entwickelt, der – solange das Wasser in der Vase bleibt – irgendwie nicht nach außen dringt, dafür aber immer intensiver und ekliger wird.

Aber ... auch das sind Lernsituationen. Als Lehrer muss man flexibel sein und das Lernpotential einer jeden auch unerwarteten Situation erkennen und ausschöpfen. Hier galt es nun zu lernen, dass man auch sowas Ekliges schnell und effektiv wegmachen kann, wenn denn jeder anpackt.

Also setzten wir uns um die Lache herum und begannen, das Blumenwasser aufzuwischen. Die Schüler äußerten natürlich ihren Unmut, einige verzogen das Gesicht und machten komische, teils würgende Geräusche, aber alle, wirklich alle wischten mit. (Ich übrigens auch.) So weit – so gut. Dann aber begann ich zu realisieren, dass es mit den würgenden Geräusche mehr auf sich hatte als gedacht. Denn irgendwann beugte sich Elisabeth weiter über unsere Wasserlache als die anderen und begann sich ohne Vorwarnung mitten in das eh schon übel stinkende Blumenwasser hineinzuerbrechen.

Da saß sie nun und brach und wir Übrigen schauten ihr dabei zu. Das alles dauerte eine kleine Weile. Als Elisabeth endlich fertig war, war es in unserem Kreis totenstill. Elisabeth hatte nun eine grünlich-bleiche Gesichtsfarbe, und auch die anderen Schüler machten beim Anblick des vor uns in der Mitte im restlichen Blumenwasser träge dahinschwimmenden Erbrochenen – verstärkt durch den jetzt noch übleren Gestank – keinen wirklich stabilen Eindruck. (Jetzt wischte übrigens keiner mehr.)

Nach einer kleinen Weile hatte ich meine Fassungslosigkeit überwunden und sagte gefasst: "Hmmm. Okay. Ich denke, Ihr könnt dann schon mal auf den Pausenhof. Ich mach das am besten jetzt alleine weg. Und kümmert euch mal um Elisabeth, bis es ihr wieder besser geht!" Bis auf ein paar Hartgesottene, die so freundlich waren, mir doch noch beim Wischen zu helfen, verließen die Schüler schweigend den Raum. Dann klingelte es bald und ich war heilfroh, dass diese Vertretungsstunde ihr Ende gefunden hatte.

Am Ende war das dann eine dieser Stunden, die Spuren hinterlassen. Zum einen habe ich meine Schüler in der Folgezeit ziemlich oft ruhig am Platz arbeiten lassen. Zum anderen muss ich bis heute beim Thema Gestaltete Mitte immer wieder an diese Vertretungsstunde denken...

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.02.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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