Patrick Rabe

Boten

Es war ein schöner Tag unter dem Magnolienbaum, dessen königliche Blüten im warmen Wind bewegt wurden. Ich war dorthin gegangen nach einem ausgeprägten Frühstück mit einem Freund, wir unterhielten uns über die Kunst und unserer beider Projekte.
 
Ich hatte meine Gitarre geschultert und fühlte mich frei wie lange nicht mehr. Aber das musste allen so gehen in diesem April, der sich als Sommer verkleidet hatte. Ich hatte die Last abgelegt, die mich so lange gequält hatte, ging wieder offenen Blicks durch die Welt. Ja, ich hatte mich wieder einmal aus einer Haut geschält. Gestorben und zurückgeblieben war der Künstler, der sich selber quälte, der für eine gute Geschichte, einen guten Song oder eine gute Performance bereit war, durch die Hölle, den Abgrund, den Wahnsinn zu gehen (oder über Leichen, vorzugsweise die eigene!). Vorbei waren die durchwachten Nächte, die mit den rotgeränderten Augen, den drei Litern Kaffee und dem Fläschchen Absinth, vorbei die Grenzerfahrungen im Morgengrauen. Geblieben war ich, war Patrick Rabe, der eine, der ich schon immer war und immer sein werde, jung wie der Morgen, gereinigt aus Feuern der Läuterung und den Wassern der Gnade gestiegen. Leben war wunderbar, wenn man wieder einmal neu geboren war. Und nun wusste ich, dass dieser Neuanfang nicht mein Verdienst war, sondern allein der Gnade verdankt und ich weiß jetzt, dass Gott es ist, der mich trägt.
 
Ich ging den alten Weg zum Krankenhaus hinunter, grüßte Menschen, die mir entgegen kamen, einerlei, ob ich sie kannte oder nicht. Die Zugangsstraße zum Krankenhausgelände war aufgerissen und Bagger schaufelten den Sand um. Hier würden neue Wohnungen entstehen, auch ein Flüchtlingsheim war für meinen Stadtteil geplant. Das alte Krankenhaus, das einmal das größte Hamburgs gewesen war, war nach der Privatisierung der Landeskrankenhäuser deutlich geschrumpft, hatte mit seinen Parks und Grünflächen den Interessen von reichen Investoren Platz machen müssen.
 
Nein, es war nicht alles zum besten in dieser Welt. Noch 20 Jahre nachdem ich angetreten war, um mit meiner Generation endlich alles anders zu machen, gab es Kriege, Hunger, Morde, Vergewaltigungen und so weiter. Gegenwärtig spitzte sich die Situation sogar bedenklich zu. Einer Kanzlerin glitt das Heft aus der Hand, an den rechten Rändern der Republik formierte sich der bellende Mob und die Presse hatte dennoch nichts Besseres zu tun, als vor Schweinegrippe zu warnen.
 
Ich ließ die Baustellen hinter mir und betrat den Teil des Krankenhausgeländes, der noch unberührt war. Ach, wie sehr ich mich nach dem Paradies sehnte, nach einem Ort und einer Zeit, in der die Himmel wieder offen wären und Engelsschall unsere Wunden mit goldenen Lichtklängen heilen würde. Ein Wort von Gott würde genügen. Ich setzte mich unter den Magnolienbaum, dessen hochnäsige Blüten wie Damen von altem Adel aussahen, Königsblüten. Ich packte meine Gitarre aus und spielte. Erst "Love Rescue Me", dann "Bad Moon Rising".
 
Sandra kam aus dem Hauptgebäude und lief lachend auf mich zu. Sie war Borderlinerin und zur Zeit in Therapie auf der psychiatrischen Station. "Hey, Patrick, super, dass du da bist!", rief sie. Als sie mich erreicht hatte, ließ sie sich neben mir ins Gras plumpsen. Dabei rieb sich ihr Rücken an meiner Seite, und ich konnte ihre aufgeheizte Wärme spüren. "Dich zu sehen, ist immer, als wenn man einen Boten sieht.", flüsterte sie. "Angelus. Bote." "Und welche Botschaft bringe ich?" fragte ich. "Ach", sagte sie, "Vielleicht jedem eine Andere. Jedem die, die er aus dir herausliest." "Naja,", sagte ich, "Für die Spießer und Konformisten im Ort bin ich sicherlich ein böser Bote. Einer, der ihnen zeigt, dass es noch andere Lebensentwürfe als das Kleinbürgertum gibt." Sandra legte die Hand auf mein Bein. "Wurdest du auch schon mal für den Teufel gehalten, Patrick?" "Für den Teufel, ja.", entgegnete ich aufseufzend. "Für den Teufel, für Jesus, für einen Engel, für die Reinkarnation von Rasputin... Ich denke, viele Leute sehen in mir einen Privilegierten, weil ich freier Künstler bin. Aber die wenigsten machen sich klar, durch welche Höllen ich schon gegangen bin und immer noch gehe. Ich bin auch aus Fleisch und Blut, weißte..." Sandra lauschte einen Moment auf das Rauschen ihrer hehren Aderbahn, dann sagte sie: "Ich glaube, die Botschaft liegt in jedem selbst. Du bist nur der Träger des Lichts, das die Menschen in sich haben. Du machst es sichtbar." "Der Träger des Lichts. Damit wäre ich wieder Luzifer." "Luzifer war ursprünglich der Name für die Venus, den Morgenstern. Der Morgenstern ist der erste Stern, der das Licht des kommenden Tages auffängt, und den Menschen das Heil ankündigt. Und der wahre Morgenstern ist Christus." Ich überlegte: "Ich kenne diese Bibelstelle: Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der glänzende Morgenstern. Alles hat immer zwei Seiten. Liebe ist die Blume...und wir sind das Saatgut." "Danke!" rief Sandra und küsste mich auf den Mund. Das Aroma ihrer Lippen mischte sich im Cocktail meiner Sinne mit dem bittersüßen Duft der Magnolien und machte mich schwindlig. Vielleicht war Sandra der wahre Engel...? "Angelus. Bote.", sagte ich, als sie ihren Mund wieder von meinem gelöst hatte. Demonstrativ krempelte Sandra ihre Ärmel hoch. Dort waren Narben tiefer, noch frischer, mit dem Rasiermesser sich selbst zugefügter Schnitte zu sehen. "Nein.", sagte sie. "Mensch. Wie du. Wie du, wenn du zweifelst und haderst und deine drei Liter Kaffee und dein Fläschchen Absinth trinkst. Wenn du leidest und liebst, stirbst und wieder auferstehst. Das alles ist menschlich. Und dennoch können wir Menschen füreinander Boten Gottes sein."
 
Damit stand sie auf und ging, mir noch einmal zuwinkend. Und ich blieb zurück unter dem königlichen Magnolienbaum in einer Vorversion des Paradieses, während es mit der Welt ringsum nicht zum Besten stand. Bob Dylan hatte einmal geschrieben: "Wir alle hängen in der Balance der Realität des Menschen." Ich mochte eine frühere Textversion lieber, in der es hieß: "Wir alle hängen in der Balance eines großen, guten Plans." Ich konnte mir aber auch vorstellen, warum er diesen Text geändert hatte. Denn für das verhungerte Baby, den vom I.S. Enthaupteten, den Obdachlosen, erweist sich dieser Plan zunächst vielleicht gar nicht als gut. Trotzdem vertraute ich fest auf den Kern Lichtes in all diesem Treiben, der die Essenz ist und uns alle am Leben hält und spielte noch ein Lied. "The Rose"...
 
 
 
 
 
 
 
 
© by Patrick Rabe, 2016, Hamburg.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.02.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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