Rainer Hessenberg

Ein End ohne Happy

Wir hatten uns verabredet im Schlosspark, am Weiher, die 2. Bank links, mit einem Buch in der Hand, Umberto Ecos „Name der Rose“, damit wir uns erkennen. Nun, ich komme meistens zu früh, aber diesmal kam ich zu spät, etwa 10 Minuten, aber tat­sächlich saß sie noch da und sah aus wie auf dem Foto im In­ternet: atemberaubend blond, dezent geschminkt, dunkle, ras­sige Augen, ganz in gepflegtem Schwarz, Typ erfolgreiche Jung­managerin, das Buch hielt sie in der Hand, ich spürte sofort das Kribbeln im Unterleib, das ich zum letzten Male vor 100 Jahren verspürt hatte … DIE wartet auf MICH? Es wäre himm­lisch, mit ihr durch den Schlosspark zu promenieren, sie zu meinem Lieblings­itali­ener auszuführen, ihr meine Heimatstadt bei Nacht zu Füssen zu legen, mit ihr einen Cocktail zu sip­pen, vielleicht könnte ja mehr daraus werden, wir könnten uns häufiger sehen, wir könnten zusammenziehen, wir könnten heiraten und Kinder kriegen … Ich sah sie fas­ziniert an, vielleicht einige Minuten lang, aber sollte ich sie wirklich ansprechen? Vielleicht spricht sie ja Schwäbisch, vielleicht kommt gleich ihr Ehemann mit dem Kinderwagen um die Ecke, vielleicht hat sie das Buch nur ganz zufällig dabei …
 
Ich blickte an mir herunter. Da war mein Bauch, geprägt durch 45 Lebensjahre. Ich stellte mir vor, ich vor einem Spiegel. Die Geheimratsecken waren nicht mehr zu übersehen, die Augen wirken immer leicht müde, den Pickel auf der Stirn sollte ich mir gelegentlich ausdrücken … Ich mit dieser absolut toll aus­sehenden Frau? Mein Gott, was würden meine Kollegen dazu sa­gen: „Mönsch, die trägt ja Cartier!“ „Wie kommst Du denn zu so einer tollen Frau?“ Ich hör’ sie schon …
 
Flüchtig kreuzten sich unsere Blicke, ich sah das Fragezeichen in ihren Augen. Ich mit dieser absolut tollen Frau? Warum ge­rade ich? Ich spürte einen unwiderstehlichen Drang, diesen Platz zu verlassen, ohne mich zu erkennen zu geben. Gottsei­dank hatte ich das Buch noch in der Einkaufstüte, ich ließ es darin und schlich mich von dannen, aber nicht ohne ihr noch einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. Ich spürte noch ihre fra­genden Augen, dann war sie aus meinem Blickfeld verschwun­den.
 
Eigentlich schade. Es wäre schön geworden. Aber so mache ich mich kommende Woche auf zum nächsten Dating-Abenteuer. Und den „Namen der Rose“ werde ich lesen, jetzt wo ich das Buch schon hab.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.02.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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