Andreas Vierk

Die Kammer der Weisheit und Frömmigkeit






Als ich als kleiner Junge einmal im Krankenhaus war, bekam ich von meiner Oma ein Kindersachbuch über Vögel geschenkt. Damals, in den frühen Siebzigern gab es in solchen Kinderbüchern eher liebevolle Malereien als Fotos. Gleich auf einer der ersten Seiten war ein Meerespanorama abgebildet, das einen kleinen Laufsaurier sowie möwenartige Urvögel am Strand und über den Wellen zeigte. Sofort zog mich diese Doppelseite hypnotisch in ihren Bann. Als ich mich dennoch von ihr gelöst hatte, blätterten sich die Wunder der anderen Bild- und Textseiten auf: Vögel in diversen Lebensräumen, der Sonnenvogel und der Tukan in einem lichtdurchfluteten Dschungel, Möwen und Seeschwalben vor weiten Horizonten, Rennkuckucke zwischen Kandelaberkakteen in einer amerikanischen Wüste und noch so vieles mehr. An frühere Kinder- und Vorlesebücher kann ich mich nicht erinnern. Das Vogelbuch ist der Keim zu meiner relativ umfangreichen Bibliothek geworden. Und es steht noch immer im Regal. Kinderbücher dieser Reihe mögen sich jetzt, da ich erwachen bin, vielleicht etwas merkwürdig lesen, aber dümmlich sind die Texte selten. Ich bekam und besorgte mir als Kind noch mehr dieser Bücher.
Arno Schmidt teilte die Leser amerikanischer Abenteuerbücher einmal in zwei grundlegende Fraktionen ein: in die Leser von Karl May und in solche von J.F. Cooper. Wie Schmidt gehöre auch ich eindeutig zu den Cooperianern. Von derselben Oma, die mir das Vogelbuch schenkte, wünschte ich mir einst Coopers Roman „Der letzte Mohikaner“. Aus irgendeinem Grund war es meiner Oma nicht möglich, mir dieses Buch zu besorgen. Ich bekam statt dessen Karl Mays „Von Baghdad nach Stambul“. Heute würde ich es wohl verstehen, aber als Kind war mir das Dauergequatsche von Figuren wie „Tante Droll“ oder „Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abas Ibn Hadschi Davud Al Gossara“ zu viel, und das Buch war für mich eine große Enttäuschung. Umso mehr sank es ab, als ich tatsächlich mit circa zehn Jahren begann, Coopers „Lederstrumpferzählungen“ zu lesen. Ich muss gestehen, dass es mir nicht auf Anhieb gelang, diesen Mordsbrocken zu bewältigen, zumal Cooper den Hang hat, erst einmal die politischen, strategischen und gesellschaftlichen Situationen zu klären, bevor er seine Helden in ihrer Abenteuerkulisse so tief leiden lässt. Die Indianer Coopers sind jenen Karl Mays an Authenzität turmhoch überlegen. An dieser Stelle möchte ich noch einmal den Niedergang guter Übersetzungen beklagen. In Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche im Internet unterwegs sind, gibt sich niemand mehr der schweren und tiefen Sprache Coopers hin. Die Bücher werden gekürzt, und die Figuren reden flapsiger. Ich werde nicht müde werden, das zu bedauern.
Mit der Zeit wuchsen meine Bücher zu einer Reihe von circa hundert an. Ich lebte noch immer in der elterlichen Wohnung in meinem Kinderzimmer. Früher schon hatte mir meine Mutter mitgeteilt, ich würde „wie ein Spastiker in den Sandkasten hopsen“. Dies war vermutlich die Initialzündung meines Rückzuges von den Spielen mit Altersgenossen und Klassenkameraden. Mehr und mehr versank ich in einer Welt mit anderen Helden als denen, denen meine Umwelt huldigte, Helden, deren Geschichten ich nicht nach außen tragen konnte, ohne Spott und wunderliche Blicke zu ernten. Die pazifischen Abenteurer von Thor Heyerdahls „Kon Tiki“ gehörten ebenso dazu wie die alten Griechen vor Troja, zwar noch nicht in der Form der Ilias, aber in den anregenden Erzählungen Gustav Schwabs. Zu dieser Zeit begannen auch erste Dichter, wie Gottfried Benn und Paul Celan, mein Regal zu erobern.
Man sollte nicht meinen, wie übersichtlich einhundert Bücher noch sein können, dennoch stellte sich mir die Frage nach der Ordnung dieser Bücher. Eine hübsche Idee kam von meinem Vater. Man sollte sie nach Farbe und Größe sortieren. Nichts gegen meinen Vater. Sein Vorschlag hatte zumindest das raumdesignerische Moment auf seiner Seite. Aber es ist, gelinde gesagt, eine bescheuerte Idee. Die Ordnung nach dem Autoren-ABC ist da schon etwas besser, wenngleich es auch Bücher gibt, deren Autoren viele oder nicht mehr geklärte Autoritäten sind. Wo also sollte man die Bibel einordnen? Unter G, wie Gott? Nun, wenigstens werden formal verschiedene Schriften eines einzigen Autors nicht auseinander gerissen, und sein Gesamtwerk, wenn man es denn besitzt, bleibt als Ganzes bestehen.
Bei dem Wort „Gesamtwerk“ fällt mir eine kleine Geschichte ein. Als ich meine Lehre beendet hatte, fand ich nur sehr schwer einen Job. Schließlich war ich in einem Flughafenrestaurant als Tellerwäscher gelandet. Zu dieser Zeit zählte der amerikanische Romancier William Faulkner zu meinen Lieblingsautoren. Ich besaß zwar einiges von ihm, aber nicht alles. Das Gesamtwerk dieses Schriftstellers, hieß es, wäre leider vergriffen. In Zeiten, in denen es noch keinen Internetverkauf gab, war das Wort „vergriffen“ für Suchende ungefähr so grausam wie: „Für Ihr Meerschweinchen besteht leider keine Hoffnung mehr.“ Meine Arbeit als Spüler brachte mir eine halbmondförmige Knochenerweichung am Handgelenk ein. Ich war deshalb krank geschrieben und trug den Unterarm in einer Schiene. Auf einer meiner Fahrten durch die Stadt kam ich an einer kleinen, völlig unscheinbaren Buchhandlung vorbei, und im Schaufenster stand im Pappschuber die vollständige Ausgabe der Werke William Faulkners. Ich hatte genug Geld in der Tasche, erwarb die schwere Bücherreihe und trug sie die ganze stundenlange Busfahrt auf meinem eingeschienten Arm wie ein Baby nach Hause.
Aber weiter zur Ordnung des inzwischen auf ungefähr fünfhundert Bücher angewachsenen Wissensschatzes. Die Zuordnung nach dem Autoren-ABC weist noch einen weiteren fatalen Fehler auf. Nicht alle Autoren haben wirklich große Namen, wie Cooper, Shakespeare oder Homer. Sachbücher, so anregend sie sein mögen, können auch von Autoren mit Namen Peter Müller oder Dieter Dings geschrieben worden sein. Kommt man nun nicht auf den Namen des Autors, dann wird es schwierig, sein Buch zu finden. Vielleicht wäre also eher eine alphabetische Ordnung nach Titeln eine Option. Nun gibt es leider aber auch Buchtitel wie „Gedichte“, „Neue Gedichte“ oder „Werke in einem Band“. Ein leichter Weg war nicht zu finden, also ging ich den schwierigsten. Ich ordnete meine Bücher letztendlich nach Nationen und innerhalb der Nationen nach Zeit. Als Berliner fing ich selbstverständlich mit meinen Heimatland an. Die damalige Zweiteilung dieses Landes konnte ich getrost ignorieren und nahm mehr oder weniger unbekümmert auch noch Österreich, die Schweiz und sogar die Niederlande mit dazu. Die Lage dieses relativ großen Landstriches in der Mitte Europas implizierte nun eine Art schneckenhausförmiger Reise rund um diesen herum. Die Richtung ist völlig egal, Hauptsache, die in den Büchern aufscheinenden Nationen werden gestreift. Aber ach… Die daneben bestehende Ordnung nach Zeit ist national völlig korrekt, grenzübergreifend ergibt sich aber das Gegenteil von Logik. Hört also Deutschland mit einem zeitgenössischen Autoren, sagen wir Günter Grass, auf, so wird sein unmittelbarer französischer Nachbar vielleicht etwa Rabelais sein, ein Autor aus der Renaissance, wenn nicht noch ein Früherer. Die einzige Möglichkeit dieser Misere entgegenzusteuern, besteht nun darin, jeweils ein Land zeitlich vorwärts zu ordnen, das Nachbarland rückwärts, dessen Nachbarn wieder vorwärts und so immer weiter, bis wir auf unserer spiraligen Reise wieder am Ausgangspunkt sind und den ganzen Kontinent kulturell abgegrast haben. Asien wäre dann möglicherweise die nächste Meta-Etappe, worauf wir wieder von Land zu Land zehn Schritte vor, neun zurück, zwölf vor, vier zurück, oder so ähnlich durch das Raumzeit-Kontinuum tanzen. So steht Rabelais wenigstens neben Morus, und die späteste chinesische Epoche gleitet zwanglos in die entsprchende japanische über. Über die zahllosen Fehler, Unwägbarkeiten und Ausnahmen, die dieses letztendlich von mir gewählte Ordungssystem mit sich bringt, schweige ich in diesem Rahmen lieber still, zumal ich später noch das europäische Mittelalter der Zuordnung von Ländern überordnete und noch später die Antike vor das Mittelalter setzte, wobei ich die klassischen Griechen notgedrungen von den modernen trennen musste. In Italien musste deshalb auch Tacitus von Pier Paolo Pasolini schweren Herzens Abschied nehmen. Hinter all diesen Länderreisen und Tanzschritten durch die Zeiten blieben gleichsam als Treibgut alle Fach-, Sach-, Sprach- und Gesetzbücher zurück, und alles, was sich jeder Zuordung entzog. Eigentlich lief ich nun erst recht Gefahr, gar nichts mehr zu finden. Eine Excel-Tabelle, in die ich alle Bücher samt Neuerwerbungen aufnahm, brachte Erleichterung in der Suche. Ich nenne dieses System scherzhaft Doppelte Buchführung.
Von 1987 bis 2011 lebte ich allein in einer kleinen, verfallenden und verseuchten Wohnung in einem tristen Slum mitten in Berlin. Der Wohnraum war mit alten Möbeln vollgestellt, die Türen gingen nicht richtig auf, aber für die Bücher, die das erste Tausend bereits überschritten hatten, musste natürlich Platz geschaffen werden. In einer Ecke, in der früher ein Ofen gestanden hatte, baute ich vier schwere Regale im Karee zusammen und ließ mir einen schmalen Durchstieg, so dass ich diese dunkle Ecke innen und außen mit Büchern befrachten konnte. Dieses Ensemble nannte ich liebevoll meine „Kammer der Weisheit und Frömmigkeit“. Es ging mir in dieser langen Zeit seelisch und körperlich schlecht. Die Bibel hatte von mir Besitz ergriffen und viele Übersetzungen, Kommentare, Teilausgaben und Lexika benötigten fast ein ganzes Regal. Eine meiner damaligen Freundinnen, mit der ich mehrere Jahre zusammen war, besuchte mich nur ein einziges Mal in dieser Wohnung, bevor sie sie sichtbar angewidert verließ. Ihr „Hobby“ waren Haustiere, und als wir zueinander ziehen wollten, war klar, dass „lebende Tiere vor die ollen Bücher gehen, die ja wohl tot sind“. Überhaupt schien jedermann etwas gegen meine Bücher zu haben, die ich natürlich mit Händen und Füßen verteidigte. Meine Eltern befürchteten, dass die Last der Regale „irgendwann beim Nachbarn unter dir durchkrachen werden“. Die einzige Möglichkeit, diese Katastrophe abzuwenden, wäre sich zehn oder zwanzig „Lieblingsbücher“ auszuwählen und den Rest zu entsorgen. Über eine andere Freundin sollte ich mich damals einer evangelikalen Sekte anschließen, die alle Bücher, die keine Bibeln wären als „Satanskram“ bezeichnete. Diese Leute rieten mir, meine Bücher im Hof zu sammeln und sie „zum Zeichen klaren Bekenntnisses zu Christus“ dort zu verbrennen. Diese „Dreiunddreißiger-Methode“ war der Anlass für mich, eher die Finger von der Sekte, als von den Büchern zu lassen. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich im Keller sitzen, um heimlich und verschlagen grinsend die Sünde zu begehen und eines meiner übrig gelassenen Bücher zu lesen. Schließlich machte ich doch von dem Vorschlag der Sekte Gebrauch und schmiss über hundert Bücher bei Nacht und Nebel in den Müll – alles Bibeln.
Auf dem Tiefpunkt meines Lebens lernte ich eine andere, mir seelisch sehr nahe Freundin kennen, die mir half, mein Leben von Grund auf zu ändern und meine Bücher dabei auch noch mitzunehmen. Heute wohne ich etwas geräumiger und gesünder. Dass die von mir so geliebte Antike ausgerechnet auf dem langen, dunklen Flur ihren Platz fand, ist wiederum nur der der Ordnung geschuldet. Nun aber ist die ganze Wohnung zur „Kammer der Weisheit und Frömmigkeit“ geworden.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.03.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Septemberstrand: Gedichte Taschenbuch von Andreas Vierk



Andreas Vierk schreibt seit seinem zehnten Lebensjahr Prosa und Lyrik. Er verfasste die meisten der Gedichte des „Septemberstrands“ in den Jahren 2013 und 2014.

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