Christiane Mielck-Retzdorff

Der goldene Same

 


 
Melissa befand sich in jener Phase des Überganges vom Kind zur Erwachsenen, in der Zweifel und Unsicherheit alltäglich sind. Doch anders als bei ihren Altersgenossen ließ sich ihre innere Ruhe davon wenig beeinflussen. Deswegen erschien sie ihren Eltern, Stiefeltern, Freunden und Schulkameraden oft gleichgültig. Diese Einschätzung wurde noch dadurch bestärkt, dass die 14jährige Streit aus dem Weg ging, sich kaum provozieren ließ und zu allen stets freundlich war. Selbst wenn sie auf Facebook las, dass sie gefühlskalt und langweilig sei, eine Streberin genannt wurde und sich etliche über ihr Verhalten lustig machten, prallte dieses an ihrer alles verzeihenden Seele ab.
 
Das Mädchen lebte bei seiner Mutter, die, nachdem der Vater sie wegen einer anderen Frau verlassen hatte, auch wieder heiratete. Melissas Stiefvater war ein schnell aufbrausender Mann, der seine Missachtung für ihr ausgeglichenes Wesen deutlich zur Schau stellte. Jedes zweite Wochenende verbrachte sie bei ihrem leiblichen Vater, dessen Frau und deren gemeinsamen Sohn. Melissa mochte diese kleine Familie, aber durfte es vor ihrer Mutter nicht zeigen, da diese noch immer wütend auf ihren Verflossenen war.
 
Ihre einzige Freundin war Sofie, ein schüchternes Wesen, das sich gern hinter Büchern verkroch. Beide verband, dass sie sich gern über Gott und die Welt unterhielten, vor sich hin phantasierten und noch kein Interesse an ihren männlichen Mitschülern zeigten. Mit wenig Interesse an moderner Musik, Kleidung und Partys waren sie Außenseiter.
 
Melissa hätte gern einen Hund gehabt, was ihre Mutter jedoch ablehnte. Also unternahm sie allein Spaziergänge durch den nahen Wald. Dabei fragte sie sich oft, warum sie so anders war als die meisten ihrer Mitmenschen. Im Stillen gab sie vor sich selbst zu, dass sie schon gern am fröhlichen Leben ihrer Altersgenossen teilnehmen und deren Anerkennung gewinnen würde. Aber dann würde von ihr verlangt, Schadenfreude, hämische Ablehnung der Ausgeschlossenen und Freude an Bösartigkeiten in ihr Herz zu lassen. Doch das widerstrebte zu sehr ihrem verständnisvollen und stets nach Harmonie strebenden Wesen.
 
Hin und wieder glaubte sie, zwischen den Bäumen und Büschen kleine Gestalten wie Elfen und Feen herumhuschen zu sehen. Auch meinte sie deren Wispern zu hören. So wandelte sie auf den weichen Moosen manchmal wie in einer Märchenwelt. Davon erzählte sie jedoch niemandem.
 
Eines Tages stand plötzlich eine wunderschöne, geheimnisvoll leuchtende Frau vor ihr und lächelte sie an. Melissa war weder erschrocken noch erstaunt. Genauso hatte sie sich ein Wesen aus der Zauberwelt immer vorgestellt. Mit glockenklarer, freundlicher Stimme sprach die Fremde:
 
„Ich grüße Dich, Melissa. Vor langer Zeit, als Du noch ein Kleinkind warst, pflanzte ich den goldenen Samen der Liebe in Dich, denn böse Mächte wollten ihn uns stehlen. Du hast sorgsam auf den Samen geachtet, aber nun fordere ich ihn zurück, um ihn in unseren Garten zu pflanzen. Dort soll er wachsen, gedeihe und viele Früchte tragen. Doch deine Hilfe soll nicht unbelohnt bleiben. Ich schenke Dir den Zauber, dass fortan alle Menschen Dich lieben. Er wird Dich genauso lange begleiten, wie Du für uns den Samen der Liebe bewacht hast. “
 
Eine Wolke aus schillernd buntem Staub flog auf Melissa zu, nahm ihr die Sicht. Als sich die Luft wieder klärte, war die Schöne verschwunden. Das Mädchen rieb sich die Augen. Es musste ein Traum gewesen sein. Doch schon als sie nach Hause zurückgekehrt war, bemerkte sie eine Veränderung. Ihr Stiefvater war ungewohnt liebevoll zu ihr. Er lobte ihr Äußeres und bot an, ihr neue, modernere Kleidung zu kaufen. Ihre sonst eher geizige Mutter unterstützte die Idee und nahm die Tochter fröhlich in den Arm.
 
Von diesem Tag an änderte sich alles in Melissas Leben. In der Schule buhlten weibliche wie männliche Kameraden um ihre Gesellschaft. Einladungen zu Partys häuften sich. Auf Facebook stieg sie zur beliebtesten Schülerin auf. Und Melissa fand schnell Gefallen an der Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde, begann auf ihr Äußeres zu achten, schminkte sich und hatte keine Probleme, den Erwachsenen Geld für teure Vergnügungen abzuschwatzen.
 
Nur ihre ehemalige Freundin Sofie betrachtete die Entwicklung mit Argwohn. Aber diese unscheinbare Leseratte gehörte ja nicht zu dem stets heiteren und feierfreudigen Tross, mit dem sich Melissa nun umgab. Sie entschied, wem sie ihre Gunst schenkte und alle anderen wurden rücksichtlos mit Häme überschüttet. Auch hatte sie gelernt, ihre Eltern und deren neue Partner zum eigenen Vorteil gegeneinander auszuspielen.
 
Melissa suchte sich die attraktivsten und einflussreichsten Jungen aus, um sie mit ihren Küssen um den Finger zu wickeln. Hatte sie die jungen Männer zu ihren Sklaven gemacht, tauschte sie sie einfach aus. Ihre neuen Freundinnen himmelten sie an. Und jedem war bewusst, dass, wer sich Melissas Willen widersetzte, gnadenlos ausgegrenzt wurde.
 
Mit dem Segen der Lehrerschaft wurde sie erst zur Klassen- und dann Schulsprecherin gewählt. Ihre Eltern platzten beinahe vor Stolz. Zwischen Partys, Shoppingtouren und anderen Freizeitvergnügen verging die Zeit wie im Fluge.
 
So stand Melissas 18. Geburtstag kurz bevor, als sie mit ihrem derzeitigen Freund in dessen Zimmer auf dem Sofa chillte. Der junge Mann hatte den Arm um sie gelegt und knabberte zärtlich an ihrem Ohr. Bisher hatte sie allen ihren Begleitern den Wunsch nach Sex verweigert, doch ihr war klar, dass sie es ihrem Ruf als Verführerin schuldig war, endlich nachzugeben. Plötzlich hörte die junge Frau die gewisperte Frage des Mannes neben ihr, ob sie ihn auch wirklich liebe. Melissa musste ein schallendes Gelächter unterdrücken und entzog sich der Antwort mit einem langen Kuss. Doch dann täuschte sie Unwohlsein vor und verabschiedete sich. Schließlich würden sie sich heute Abend in der Disco wiedersehen.
 
Eilig suchte Melissa zuhause ihr Zimmer auf und schloss die Tür hinter sich ab. Von einer inneren Unruhe ergriffen, ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ein Mensch von Liebe zu ihr sprach. Das Wort erschreckte sie, denn sie erkannte, dass dieses Gefühl in ihre gestorben war. Sie konnte sich darunter nichts mehr vorstellen. Gab es diese „Liebe“ überhaupt und was machte sie für einen Sinn?
 
Melissa versuchte sich zu erinnern, wie es früher gewesen war, als sie jedem Menschen, jedem Wesen und sogar toten Gegenständen mit Achtung und Liebe begegnet war. Doch das hatte ihr nur Ablehnung und Unverständnis eingebracht. Damals hatten ihre Mitmenschen sie für gefühlskalt gehalten. Nun, da Öde in ihrem Herzen herrschte, war es genau umgekehrt. Alle betrachteten sie als mitfühlend und leidenschaftlich. Sie war ein vollwertiges, ja sogar herausragendes Mitglied der Gemeinschaft. Hatte sie nicht mehr gewonnen als verloren? Aber warum fühlte sie sich plötzlich so elend.
 
Das Smartphone drängte sich mit lautem Klingeln in ihr Bewusstsein. Gleichzeitig bezeugten leisere Töne, dass sie ständig Nachrichten erhielt. Ihr Freund musste die anderen informiert haben, dass es ihr nicht gut ging. Nun beeilten sich diese, ihre Anteilnahme auszudrücken. An der Tür klopft aufgeregt ihre Mutter, um der vermeintlich kranken Tochter beizustehen. Wütend über die permanenten Störungen schrie Melissa, dass sie nur einfach ihre Ruhe haben wolle. Dann stellte sie das Smartphone aus.
 
Schnell fiel sie in einen fiebrigen Schlaf. Plötzlich erschien in ihrem Traum die märchenhafte Schönheit und ermahnte sie, daran zu denken, dass der Zauber nicht ewig währen würde. Es wäre nun an der Zeit für Melissa, sich auf das Wahrhaftige zu besinnen, die Liebe in ihrem eigenen Wesen wiederzuentdecken und mit kritischem Bewusstsein auf die Menschen zu schauen.“
 
Erst am nächsten Morgen erwachte die junge Frau und fühlte sich in gleichem Maße stark wie unsicher. Sie musste das Gleichgewicht zwischen Schein und Sein finden. Ein schwerer Weg, aber der Schutz unsichtbarer Mächte gab ihr Mut. 
 
 
   
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.03.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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