Eckart Schloifer

"Abendstille" - 04.07.2015, 21:15 Uhr, 32° C

Es ist einer dieser überwältigenden Abende, an denen die Stimmung draußen eine fast weltfremde Intensität annimmt, die man vielleicht als „kosmisch“ beschreiben könnte. So fühle ich es jedenfalls.

Ich sitze in meinem Garten an der Grenze zu einem Nachbargrundstück unter einem Walnussbaum, unter dem sich angenehme Kühle verbreitet. Kein Lüftchen regt sich, und es herrscht totale Stille. Die Zeit scheint still zu stehen. Der hohe Himmel zeigt nur vereinzelt Grüppchen von Wolken, hier ein paar dichte, dort verweht und zerfasert, zum Teil von den Resten der untergehenden Abendsonne dunkelrot beleuchtet. Auf dem Weg meines Blickes dorthin schwirren und tanzen Schwärme von kleinen Mücken in heillosem Durcheinander. Sie müssten ihre Betriebsamkeit mit ihren Ohren als einen tosenden Verkehrslärm wahrnehmen - ich aber höre nichts. Kein Windhauch ist auf meiner Haut zu spüren; die Luft steht still wie in einem hermetisch geschlossenen Raum.

Man könnte sich auf eine selten friedliche, entspannte Ruhe einlassen, wenn nicht ganz unvermittelt der große schwarze Schäferhund im Garten des überüberübernächsten Nachbargrundstückes mit weithin hörbarem Gebell in die Stille einbrechen würde. Die Vorgabe seines energisch fordernden Motivs motiviert sofort den in der Gegenrichtung direkt an meinem Garten wohnenden zweiten, auch schwarzen Schäferhund namens „Leo“ zu einer Variation des inzwischen ausladenden Themas von „Blacky“, - hier so genannt, um nicht jedesmal den 'Hund aus dem überüberübernächsten Garten' beschreiben zu müssen. Wer hier von den beiden Hunden die Fragen stellt, und wer sie wie beantwortet, ist schon längst nicht mehr auszumachen, denn keiner von beiden kann das Ende der vorausgebellten Beiträge geduldig abwarten. Diese Interaktionen bleiben nicht ungehört von einem mittelgroßen Pudel, der unschuldig wie ein graues Lamm aussieht und im übernächsten Haus in Richtung „Blacky“ auch noch seinen Senf dazugeben muss. Im Gegensatz zu den beiden Schäferhunden aber singt, nein, jault er seine fleißig vibrierten Dreiviertelnoten in die Nachbarschaft, unterbrochen von hellen, scharfen Bell-Attacken. Meinen intimen Sitzplatz unter meinem Walnussbaum inmitten dieser Soirée von Hundegebell würde ich augenblicklich gerne gegen einen Platz mit einer auf meinem Schoß eingerollten, schnurrenden Katze in einer kleinen Kammer oder mit einem Platz in einer vollbesetzten Gelateria in Venezia eintauschen!

Der Lammpudel kommt bald außer Atem, und es tritt plötzlich, ganz überraschend wieder ein Augenblick von totaler Stille ein, eine fast beängstigende Stille, die, wenn man sich wenige Sekunden lang an sie gewöhnt hat, aus weiter Ferne den Klang eines E-Pianos vernehmen lässt. Sein Spieler tut gerade sein Möglichstes an aufwärts steigenden Sextparallelen, die einfach nicht klappen wollen. Nach knapp mehr als einem halben Dutzend Versuchen entmutigt, entlässt er sich mit „Freude, schöner Götterfunken“ in einem interessanten, neuen Arrangement aus seiner Samstagabend-Qual – den vierten und achten Takt in präzisen 3/4-Takten interpretierend. Ich weiß nicht, ob der Lammpudel diese halbwegs harmonischen Klänge wahrnimmt, aber gefallen scheinen sie ihm überhaupt nicht, - oder spendet er seinen Beifall auf diese Weise?: er setzt mit einem an Schostakowitsch erinnernden Ostinato im Dreiertakt an, dessen dritte Zählzeiten stets pausieren. Dieses wiederum spornt nach einer kurzen Weile wieder den Nachbarshund „Leo“ an, inzwischen assistiert von seinem zu Besuch gekommenen Freund gleicher Rasse in Weiß, weitere Kaskaden von Bell-Duetten in die Abendruhe hinauszukläffen. Zum Glück nur für kurze Zeit, denn die Herrchen und Frauchen der beiden Radaubrüder können ihnen vor dem Ansetzen eines gemeinschaftlichen Werkes gerade noch Einhalt gebieten, indem sie die beiden Sympathisanten ins Haus hereinlocken.

Die „Freude“, der „schöne Götterfunken“, Elysiums Tochter, der Zauber und Kuss, der irgendwo im himmlischen Heiligtum weilende sanfte Flügel sind für mich an diesen Abend bereits verflogen, verglüht oder haben sich nie ausgebreitet, da vernimmt man in dieser wieder einmal unvermittelt eintretenden Stille eine Amsel auf nahem Dachgiebel, die ihre allabendlichen Koloraturen auch noch loswerden will. Welch eine Meisterschaft in der Beherrschung der Tonhöhen, der Sicherheit und Virtuosität ihrer Motiv-, ja manchmal sogar hübschen Themensequenzen! Ich glaube, nur eine Nachtigall ist imstande, diese Sangeskunst zu übertreffen. Nachbars „Blacky“ im übernächsten Doppelhaus gibt zwischenwürfig noch einige kurze Staccati zum Besten und schweigt darauf - vermutlich betroffen im Anhören dieses nicht zu überbietenden Gesanges.

Links hinter mir entdecke ich ein wunderschönes Abendrot durch flache Horizontwolken hindurchschimmern. Die Amsel gibt nicht auf, sich zu profilieren. Aber hat sie sich andere Melodiefloskeln ausgedacht als gestern abend, oder ist heute ihre Schwester an der Reihe? Plötzlich ist es still. Ganz still. So still, wie noch nie heute abend. Dann vernimmt man die Amsel wieder, viel leiser als zuvor, sechs oder sieben Dächer weiter entfernt. Gleich einer Primadonna preist sie ihren Gesang und ihre Zwitschereien in der weiten Nachbarschaft an. Einfach schön!

Der Abend setzt nun endlich ein, mein Bitterino ist ausgetrunken, minutenlang kann ich entspannen, meine Seele baumeln lassen, wie man so sagt. Da schwirrt plötzlich ein ziemlich dicker Brummer um mich herum, der selbst durch mein kräftiges Blasen keine Anstalten macht, von mir abzulassen. Das Belauschen seines wohlig warmen Flüggeräusches erfährt sein jähes Ende, da sich die Störenfriede „Leo“ und „Blacky“ auf ein neuerliches Duett geeinigt haben. Nur mit Mühe gelingt es den Nachbarn nach vergeblichen Versuchen nochmals, diese Toccaten nach einigen Minuten zu stoppen, um wenigstens einen kleinen Teil des Abendfriedens zu retten. Doch es ist eigentlich schon zu spät. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt. Der Brummer hatte klein beigegeben und sich davon gemacht. Die Amsel hat ihren Rundflug wohl beendet, denn sie versucht es noch einmal mit einer Coda auf einem Dach in der Nähe, abrupt gestört von „Blacky“, der der gemütlichen Innenhäuslichkeit vermutlich durch Herrchens Generosität wieder entwischt zu sein scheint. Sie, die Amsel aber scheint sich vom bodennahen Gekläffe nicht mehr stören zu lassen und skandiert noch einmal unverdrossen interessante Variationen zum Kontrapunkt des sich wieder eingefundenen, um mich her kreisenden Brummers. Unbeeindruckt von meinen gepusteten Windstößen umrundet er mich hartnäckig. Der Brummer kommt mir tollkühn nahe, und ehe ich ihn endlich vertreiben kann, setzt er sich dreist auf mein nacktes Knie. Nun kann ich endlich erkennen, wer er ist: ein Maikäfer! Ein Maikäfer im Juli abends um 22.15 Uhr! Was will der denn hier noch so spät? Wann sieht man überhaupt noch Maikäfer? Sie haben offenbar andere Gewohnheiten angenommen, denn erst vor wenigen Tagen sah ich einen Maikäfer an einer Benzinzapfsäule sitzen, die ich zum Auftanken meines Autos (miss?-) brauchte. Was sucht ein Maikäfer an einer Benzinzapfsäule? Und was auf meinem Knie?? Es ist wieder mal wenige Minuten lang mucksmäuschenstill – aber schon wieder vorbei! Der Köter fünf Häuser weiter bellt sein Abendgebet. Oh, wenn ich könnte: ich würde mir 20 Hunde anschaffen und darauf warten, wie meine Nachbarn reagierten.

Was ist an einer solchen Lärm erzeugenden Kreatur so attraktiv, dass sich Menschen ihm permanent aussetzen und ihn doch dauernd stoppen müssen, um andere Menschen nicht ständig zu belästigen?

Mein Maikäfer auf meinem Knie krallt sich merkbar in meine Kniehaut. Vielleicht hat er Angst, oder ruht er sich nur aus? Er bewegt seinen Kopf geschickt nach oben und nach unten, sucht nervös mit seinen gefächerten Fühlern nach..., ja, wonach eigentlich?, hebt sein Beinchen (na, er wird doch nicht???), und nach kurzem Anwerfen seiner Flügelmotoren erhebt er sich mit einem Male laut brummend und bleiernd in die Höhe. Er umschwirrt meinen nackten Bauch, den nahen Busch - und weg ist er, während bereits seit einigen Momenten schwirrende Schwalbenschwärme ausdauernd die Häuserfluchten durchflitzen.

Ein kühles „Flens“ mit dem Blubb erfrischt mich in der nun herrschenden Fastdunkelheit, und ich möchte endlich die letzte Ruhestunde des Samstagabends genießen. „Blacky’s“ Abendgebet war es nicht, denn seine Schlafstunden stehen noch nicht an. Es ist 22.38 Uhr, und sein den Menschen gegenüber rücksichtsloseres Herrchen hält es noch zu dieser Stunde für angebracht, Blacky‘s durchdringendes Gekläffe in die friedliche Nachtstille zu entsenden. Ich trinke mein Bier aus, packe meinen Schreibkram zusammen und gehe wenig beglückt zurück ins Haus in der Hoffnung, dass Blacky morgen früh nicht wie immer um 6.45 Uhr seinen durchdringenden Morgengruß im Garten kundtun darf. - - -

Doch, er durfte!

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Eckart Schloifer).
Der Beitrag wurde von Eckart Schloifer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.03.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Eckart Schloifer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die Kicker von Lindchendorf von Manfred Ende



Humorvoll schreibt der Autor über eine Kindheit im Jahr 1949 in einem kleinen Dorf in der damaligen "Ostzone".
Armut ist allgegenwärtig und der Hunger ein ständiger Begleiter. Für den 11 jährigen Walter, mit der Mutter aus Schlesien vertrieben, ist es eine Zeit des Wandels, der Entdeckungen. Einfallsreichtum und Erfindungsgabe gehören zum Alltag.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Autobiografisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Eckart Schloifer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Beim Haarschneider, um 1950 herum von Eckart Schloifer (Autobiografisches)
Pilgertour I. von Rüdiger Nazar (Autobiografisches)
Casandra von Silke Schück (Fantasy)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen