Irene Beddies

Lara


 
 
Die Sirenen heulten. Menschen flohen in Panik zu den Bunkern.
Horst überholte eine Frau. Sie krümmte sich in Schmerzen, dann stürzte sie zu Boden. Horst zerrte sie in den kümmerlichen Schutz der nächsten Ruine. Er sah, wie die Wehen die junge Frau quälten. Gleich darauf gebar sie ein Mädchen, hier, mitten in den Ruinen und dem Bombenhagel in der Nähe.
Tröstend legte er seine Hand auf ihren Arm. „Was soll ich tun?“.
Die junge Frau schlug kurz die Augen auf. „Trenn die Nabelschnur durch“, hauchte sie. „Sara“ kam noch aus ihrem Mund, dann war sie tot.
Horst zog sein  Taschenmesser aus der Tasche. Öffnete es mit Zähnen und der verbliebenen Hand und trennte die Nabelschnur durch.
Er blieb noch einen Augenblick erschreckt kauern, nahm dann den Schal der Mutter und wickelte das Neugeborene darin ein so gut es mit seiner einen Hand ging. Er legte es vorsichtig neben sich, während das Chaos um ihn herum tobte. Er sah die Tote an. Sie war schön, kaum zwanzig Jahre alt. Sie hatte schwarzes Haar und einen dunkleren Teint.
Am Hals trug sie eine Kette mit einem Amulett. Das zeigte zwei Löwen und zwischen ihnen ein aufgeschlagenes Buch. Er nahm das Amulett an sich, vielleicht konnte er dadurch Verwandte des Babys finden. Am Finger trug die Tote einen Ring mit einer Inschrift in einer ihm unbekannten Schrift. Auch den nahm er an sich und steckte ihn in seine Tasche.
Dann wandte er sich wieder dem Baby zu, das jetzt laut schrie. „Du bist wenigstens am Leben“, murmelte er zärtlich, nahm das Mädchen auf und wiegte es in seinen Armen. „Wohin soll ich dich jetzt bringen? Zu meiner Mutter? Zu meiner Oma? Zu einer Findlingsstation?“
Er beschloss, da es jetzt Entwarnung gab, das Kind erst einmal zu seiner Mutter zu bringen. Sie würde besseren Rat finden als er im Moment.
 
„Horst, was sollen wir tun? Das Baby braucht Milch, aber wir haben keine Lebensmittelkarten für das Kind.“
„Ich könnte es als mein eigenes eintragen lassen…oder du?“
Und so geschah es. Die Mutter ließ es als eigenes eintragen. Sie nannten es Lara, denn der Name Sara war zu unarisch. Horst, der nicht mehr an die Front musste mit nur einer Hand, bekam eine Stelle in der Verwaltung. So war das Mädchen für den Rest des Krieges erst einmal versorgt, danach konnte man Nachforschungen anstellen.
Das erwies sich als äußerst schwierig. Bald gaben Mutter und Sohn die Suche auf.
Lara wuchs wohlbehütet auf, auch als Horst heiratete. Seine Frau, eine Kriegerwitwe, brachte noch einen Sohn mit in die Familie. Das einzige, was Horst nicht über sich brachte, war, Lara, die alle als seine Tochter ansahen, die Wahrheit über ihre Geburt zu erzählen.
Als Lara 15 Jahre alt wurde, drängte seine Mutter ihn, mit der Wahrheit herauszurücken. Er zeigte Lara die Gegenstände, die an ihre Geburt in den Trümmern erinnerten. Er wandte sich auf ihr Drängen an den Suchdienst, schickte  Fotos von dem Amulett.
Nach einiger Zeit bekam Horst einen Brief vom Suchdienst. Darin las er, dass Lara jüdischer Abstammung sein musste. Laras Mutter hatte offenbar zu denen gehört, die vor den SS-Leuten versteckt worden waren, wahrscheinlich, weil der Vater Verbindungen hatte oder andere Leute sie verbargen.
Horst bat, weiter zu suchen, und schickte eine Kopie der Ringinschrift mit.
Nach zwei Jahren meldete sich ein Mann, der behauptete, Laras Vater zu sein.
Die beiden Männer trafen sich. Der bis dahin Unbekannte zog ein Stück Papier aus der Brusttasche, das eine mit Bleistift abgeriebene Zeichnung trug, die genau dem Amulett entsprach. Er erzählte, wie er jahrelang ebenfalls gesucht hatte nach der Frau und dem Kind.
Horst nahm den Mann mit nach Hause unter dem Versprechen, dass der Mann sich nicht gleich als Laras Vater zu erkennen geben würde. Als der Mann Lara sah, nickte er heftig mit dem Kopf und konnte ein Weinen nicht unterdrücken. Die Ähnlichkeit mit seiner ehemals Geliebten war zu groß. 
Erstaunt guckte Lara die beiden Männer an, und als sie auch Tränen in den Augen ihres geliebten Vaters Horst sah, begriff sie sofort.
 
 
© I. Beddies

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.03.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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