Christiane Mielck-Retzdorff

Großstadtsafari



 

Felix war verzweifelt. Schon als er eiligen Schrittes die Station erreicht hatte, nutzte er hektisch die kurze Zeit des Wartens auf die Ankunft der U-Bahn, um alle seine Taschen und den Rucksack zu durchsuchen. Nichts! Er hatte tatsächlich sein Smartphone zuhause vergessen. Kurz dachte er darüber nach, das unentbehrliche Gerät zu holen, aber dann würde er nicht rechtzeitig zu seiner Vorlesung in der Uni eintreffen können. Und diese leitete ausgerechnet jener altbackene Professor, der sehr viel Wert auf die Anwesenheit seiner Studenten legte und mit einem Blick über die Stuhlreihen feststellte, wer fehlte. Verspätungen quittierte er stets mit einer abfälligen Bemerkung  über Menschen, denen es an Verantwortungsgefühl mangelte und die nicht verstanden, den Einsatz von Steuergeldern zu würdigen.

Aber auch der Gedanke, dass er süchtig nach seinem Smartphone sein könnte, hinderte Felix daran, es zu holen. Es war doch wohl lächerlich, nicht wenigstens einen halben Tag ohne auszukommen. Was würde er schon Bedeutendes versäumen? Und doch begleitete ihn eine zitternde Unruhe als er seinen Platz in der Bahn einnahm. Was mochte seine Freundin von ihm denken, wenn er sich nicht meldete? Gab es vielleicht Neuigkeiten vom Campus, die er nun unkommentiert lassen musste? Nicht mal die neusten Nachrichten aus der Politik und dem Weltgeschehen begleiteten ihn zu der Vorlesung.

Ihm gegenüber saß ein Mann, der die Zeitung las, aber was Felix auf der ihm zugewandten Seite erkennen konnte, waren nur Klatschgeschichten über Prominente. Der Bahnwaggon war beinahe voll besetzt und die meisten Fahrgäste blickten gespannt auf ihre Smartphones. Der junge Student fühlte sich wie ein Fremder unter modernen Menschen, die gewissenhaft ihrer sozialen Verpflichtung zur Anteilnahme nachgingen oder sich informierten.

Zwischen all den geschäftigen Leuten saß eine Frau, die strickte. Was aus dem Fadenwerk entstehen sollte, konnte Felix nicht erkennen. Vermutlich wollte sie damit ihre Enkel beglücken. Oder hatte sie vielleicht schon Urenkel. Der Gedanke an seine Großeltern, die der junge Student schon lange nicht mehr gesehen hatte, schlich sich heran. Früher besaßen sie einen Schrebergarten, wo seine Eltern ihn gelegentlich am Wochenende abgaben, wenn sie vom Sohn ungestört ihren Vergnügungen nachgehen wollten. Felix hasste diese Aufenthalte in der spießigen Anlage, in der sich alles um Grünzeug drehte. Nur das abendliche Grillen versöhnte das Kind, denn es gab immer reichlich Fleisch. Die Erinnerung an diesen Duft ärgerte seine Sinne, denn genau wie seine Eltern war er mittlerweile Vegetarier.

In den Schrebergärten verbrachten etliche Kinder ihre Wochenenden, doch diese empfand Felix als lästige Landeier, über deren Spiele er sich schon als 10jähriger erhaben fühlte. Laut krakeelend rannten sie herum, veranstalteten Fahrradrennen oder kletterten gar auf Bäume. Solches Gebaren war er aus der Umgebung der Wohnung im dritten Stock einer sehr gepflegten, ruhigen Wohnanlage in der Großstadt nicht gewohnt. Dort lernten schon die Kinder Wohlverhalten und Rücksichtnahme.
Und dort machten sich auch niemand über seinen Namen Felix lustig, während die Kinder im Schrebergarten ihn als Taugenix oder Lachnix verspotteten. Das hörte auch nicht auf, als er diesen Fratzen erklärte, dass sein Name „der Glückliche“ bedeutet. Und genau wie die alte Frau, hatte seine Großmutter oft gestrickt. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er einen ihrer Schals im letzten Winter noch getragen hatte.

Sein Blick fiel auf einen Schwarzen, vermutlich einen Afrikaner, der sehr teuer und edel gekleidet war. Dessen Äußeres ließ darauf schließen, dass der Mann in einer gehobenen Stellung arbeitete. Auch er beschäftigte sich mit seinem Smartphone. Felix erinnerte sich nun, dass er mit seinen Eltern als Teenager Urlaub in Südafrika gemacht hatte. Natürlich residierten sie damals in einem Hotel, das alle westlichen Standards einer Nobelherberge erfüllte. Die Schwarzen nahm Felix nur als Angestellte wahr, die den Gästen jeden Wunsch erfüllen mussten. Sie waren alle freundlich, gut genährt und gekleidet. Viertel, in denen es der Bevölkerung nicht so gut ging, mieden seine Eltern bei Ausflügen.

Aber natürlich unternahmen sie eine Safari. Das verstand der Sohn damals nicht, denn er hätte lieber am Pool gelegen, um mit den jungen, weißen Mädchen zu flirten. Seine Eltern hatten nie eine Beziehung zur Natur oder zu Tieren gezeigt, also buchten sie die Safari wohl nur, weil diese bei einer Reise nach Afrika einfach dazu gehörte. Doch Felix musste zugeben, dass ihn die Erfahrung  beeindruckt hatte. Wie gemächlich und sorglos sich die, stets von Wilderern bedrohten Elefanten bewegten. Die Nashörner schauten mit der Arroganz eines Wesens, das sich seiner Stärke bewusst war, ohne zu ahnen, dass in anderen Ländern ihr Horn mit Gold aufgewogen wurde. Gelassen sonnte sich der Löwe umgeben von seinem Harem. Geschmeidig schritten Giraffen einher. Gazellen grasten aufmerksam die Umgebung betrachtend und stürmten unvermittelt in grazilen Sprüngen davon, noch bevor die Zuschauer den sich anschleichenden Geparden bemerkt hatten.
Diese Bilder vor Augen erfasste Felix ein großer Friede. Wie harmonisch das Leben doch sein konnte, wenn sich die Menschen nicht einmischten. Alles folgte ohne Angst einem Plan. Dort war das Leben so ursprünglich und erfüllt von der Freude am Jetzt gewesen.

So in seine Gedanken versunken, bemerkte er plötzlich, dass die U-Bahn ihre Endstation erreicht hatte. Nun war es unmöglich für ihn, seine Vorlesung noch rechtzeitig zu erreichen. Versonnen stieg er aus und sah sich um. Nie zuvor war er in dieser Gegend gewesen. Ein Obdachloser schlief auf einer Bank, unter der leere Schnapsflaschen lagen. Eine verhüllte Muslimin schob einen Kinderwagen vor sich her. Eine ziemlich dicke Frau schlenderte müde vorüber. Ein Mann im Overall hastete die Treppe hinunter, um seinen Zug noch zu erreichen. Spatzen schilpten aus der Dachkonstruktion. Ein junger Hund, verfolgt von den Rufen seines Besitzer, rannte auf Felix zu und sprang voller ausgelassener Freude an seinen Beinen hoch. Er streichelte den kleinen Racker, der spielerisch an seiner Jacke zerrte. Sein Herrchen entschuldigte sich vielmals, doch der junge Student lächelte nur. Selten hatte er sich so lebendig gefühlt.

Ohne nachzudenken, begab es sich auf eine Großstadtsafari und staunte über die Vielfalt der menschlichen Art. An einer Schule erspähte er den Löwen in Gestalt eines jungen Mannes umgeben  von Mädchen, die ihn anhimmelten. Gemächlich schritt ein Riese gefolgt von seiner Familie vorüber. In der grazilen Art von Gazellen liefen einige Mädchen durch den Park. An einer Ecke stand ein Mann, dessen Blick von Stärke und Macht sprach. Und dann waren da noch all die anderen bunten Gestalten, die schweigend oder schwätzend umherliefen. Der Duft einer Bäckerei wehte zu Felix, die Sonne wärmte seinen Rücken. Selbst das Brummen der Autos wurde übertönt von dem Gesang einiger Vögel. Schließlich ließ er sich auf dem Stuhl vor einem Café nieder und genoss einfach das Leben.      
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.03.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

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