Christa Astl

Der Abend

 

 
 
Ich stehe am Fenster, blicke in den trüben Nachmittag, der über dem Tal liegt. Weit, schon im Nebel verschwindend, hinter der Talbiegung am Fuß des Berges kann ich mein Heimatdorf nur mehr erahnen.
Meine Heimat ist jetzt hier, in diesem Zimmer, in diesem Heim am Rand der Stadt. Am Vormittag hat man mich her gebracht, mit meinen im Moment wichtigsten Sachen. Was soll man auch mitnehmen, wenn man so plötzlich, so von einem Tag auf den anderen gesagt bekommt, man muss ins Heim? Wäre es wirklich nicht mehr anders gegangen? Es wollte halt keiner Verantwortung übernehmen, falls ich nochmals falle und mir vielleicht wieder was bräche.
Verantwortung - für mein Leben - können sie mir diese so einfach nehmen? Wozu bin ich überhaupt noch fähig, wenn ich nicht einmal mehr für mich selber sorgen kann?
Die letzte Nacht im eigenen Haus konnte ich nicht mehr ruhig schlafen. Zu viele Gedanken gehen mir durch den Kopf, immer wieder rapple ich mich aus dem Bett, suche meine Krücke, nur eine, die andere Hand brauche ich ja, um Sachen zu tragen,  und lege noch etwas auf den Tisch, das am nächsten Morgen in den Koffer kommt. Vieles liegt da schon, und immer noch nicht genug - oder alles schon überflüssig.
Am Morgen mein "Galgenfrühstück", die "Henkersmahlzeit",  das letzte Mal hier, an meinem Tisch, meinem Platz, den ich seit siebzig Jahren in dieser Küche innehabe. Ich muss mich überwinden, um auch nur einen Bissen hinunter zu bringen, ist das Brot über Nacht wirklich so hart geworden? Und der Kaffee heute viel bitterer? Ganz ehrlich zu sein, ich muss den Kloss in meinem Hals schlucken, und das ist schwer! Ein letztes Mal wasche ich meine Lieblingstasse ab, - ob ich die vielleicht mitnehmen kann? Ein Stück, das mich so viele Jahre begleitet hat. Ich schaue rundum, ob ich noch irgend welche Erinnerungsstücke finde.
 
Bald wird meine Tochter kommen, die mich ins Heim bringen will. Will sie es wirklich? Will sie eigentlich auch, dass ich dort hin komme? Freilich, ich kann von ihr nicht verlangen, dass sie jeden zweiten Tag vorbei schaut, ob ich etwas brauche. Sie steht im Beruf und wohnt außerdem vierzig Kilometer entfernt.
Brauchen? Eigentlich brauche ich nur ihre Nähe, nur das Gespräch mit ihr, das Gegenüber. Und wenn sie fort ist, kommt immer dieses schmerzvolle Alleinsein, jetzt wo ich nichts mehr tun kann. Das Lesen wird immer anstrengender, Fernsehen interessiert mich auch jetzt nicht, und vor allem, ich kann mich ja nach der Operation kaum mehr bewegen. Wie mühsam ist jedes Bücken, sogar das Aufstehen vom Bett ist nur nach mehreren Versuchen möglich. Und das Anziehen wird auch zusehends schwieriger, ich komme kaum mehr zu den Zehen hinunter, um Socken anzuziehen.
Ich sehe es ja ein, dass mit mir nichts mehr zu machen ist, dass ich zu nichts mehr fähig bin, aber warum will man mich denn nun noch einmal verpflanzen? Werde ich dort jemals Wurzeln schlagen, oder über kurz oder lang  gänzlich verdorren? Das hätte ich auch hier zu Hause können, muss man mich denn zwingen, an fremdem Ort weiter zu leben, wo mir das Leben gar nichts mehr bringt?
Noch einmal gehe ich durch die Wohnung, stehe vor dem großen Bild, das ich nicht mitnehmen kann, verabschiede mich von verschiedenen Möbelstücken wie dem alten Fauteuil, dessen roter Plüsch schon ganz verschossen ist. Das treue Stück wird wohl beim Sperrmüll landen?
Meine Tochter hat mir zwar versprochen, möglichst alles caritativen Einrichtungen zukommen zu lassen, so dass es wenigstens noch weitere Verwendung findet.
Punkt zehn Uhr klingelt Elisabeth. "Was, das alles willst du mitnehmen?", ruft sie mit einem Blick zum Tisch, auf dem sich die Sachen türmen. Schnell holt sie den großen Koffer vom Schrank herunter, in dem noch zwei kleinere stecken,  und alles hat leicht Platz. Gemeinsam schauen wir, was ich noch einpacken könnte. "Ich kann dir ja das nächste Mal einiges bringen, bis dahin weißt du, was dir noch fehlt...", beruhigt sie mich.
Im Heim bekommen wir einen Lieferwagen geliehen, Koffer, Reisetasche und einige Plastiksäcke werden darauf gestellt, darin sind nun meine Habseligkeiten für die nächsten zehn Jahre, die ich vielleicht hier noch erwarten darf - oder muss.
Ein leeres Zimmer, zartgelb gestrichen, eine grünkarierte Tischdecke mit Blumen auf dem Tisch, beige Sitzpolsterung, geblümte Bettwäsche, weiße Handtücher, alles so neu, steril, fremd, unpersönlich. Das muss ich jetzt als mein Daheim akzeptieren. - Eher kommt es mir noch vor wie ein Hotelzimmer? Soll ich hier Urlaub machen? - Ja, Urlaub auf Lebenszeit,  bis zum Ende, Urlaub vom Leben draußen, abgeschoben, gekündigt, nicht mehr fähig für das Leben allein.
Bittere Gedanken für eine Zukunft.
 
Am liebsten würde ich gleich umkehren, davon laufen, wenn ich noch könnte. Das Atmen fällt mir schwer, etwas drückt ganz schrecklich aufs Herz. Will es denn stehen bleiben, wehrt es sich auch gegen dieses Neue? Nein, es entschließt sich, wieder ruhig weiter zu schlagen, nachdem ich mich auf den Stuhl gesetzt habe. Ich merke, wie mich die Tochter von der Seite mustert, will es aber nicht merken lassen, und stehe energisch auf. Sie muss mir ein paar Sachen in den Schrank hängen, da ich mich ja nicht zum Boden bücken kann, um den großen Koffer zu leeren. Die kleinen Taschen stehen leicht erreichbar auf dem Bett. Da kann ich dann alleine "wurschteln", meint sie, und alles so verstauen, wie es mir am praktischsten erscheint. "Schließlich ist es ja dein Zimmer!" - Diese Bedeutung auf "dein", immer noch unfassbar, dass das jetzt "mein" Zimmer sein soll.
 
Ich verabschiede meine Tochter, zu schwer fällt es mir, mich vor ihr so zusammen nehmen zu müssen. Ich will sie ja nicht beunruhigen, sie meint es ja sicher auch gut, da sie mich hier wohl aufgehoben weiß. - Bin ich nun "aufgehoben" wie eine Ware, oder wie ein Schatz, der in Sicherheit ist?
Nie hätte ich das gedacht, dass ich einmal wen brauche, der mich "aufhebt". Aber das ist noch nicht so lange her, - bei meinem Sturz über die Gehsteigkante. Hilflos lag ich da, das Bein schmerzte höllisch, bis mich die Ohnmacht umfing. Verschwommen sah ich noch herbei eilende Menschen, vernahm verwehte Wortfetzen, die ich nicht beantworten konnte, hörte etwas von "Rettung", dann erwachte ich im Krankenhaus. Nach drei Wochen, noch im Rollstuhl, kam ich in eine Reha, wo ich mühsam wieder das Gehen erlernte, allerdings nur mit Krücken. Dort hieß es, man habe einen Platz im Altenheim für mich frei.
 
Es ist schon ein komisches Gefühl, plötzlich so allein im fremden Zimmer zu stehen.
Eine Weile krame ich noch in meinen Taschen herum, weiß nicht, wo ich das und das hinstellen soll, da und dort passt es mir nicht. Ob ich es dann jemals wieder finde? Ratlos, ein wenig hoffnungslos setze ich mich aufs Bett.  Werde ich hier jemals heimisch? - -
Eine fremde Stimme ruft mich beim Namen, ich finde mich liegend im Bett, aber angekleidet. "Na, Frau Florian, Sie haben ja schon fleißig eingeräumt? Der Tag hat Sie wohl sehr angestrengt?", sagt eine freundliche junge Schwester.  - "Kommen Sie, ich führe Sie jetzt zum Speisesaal:" Sie hilft mir beim Aufstehen, gibt mir die Krücken und geleitet mich an ein paar Tischen vorbei zu meinem Platz.
Muss ich mir wirklich so helfen lassen? Bin ich nun "hilfsbedürftig"? Merkwürdig, der Hilfe bedürfen, das darf doch nicht sein! Aber wehrlos und willenlos lasse ich mich leiten.

Zwei Frauen und ein Herr sitzen bereits dort, der Mann scheint durch mich durchzuschauen, eine Frau reagiert gar nicht, die andere, neben der ich nun sitze soll, gibt mir die Hand, nennt ihren Namen und fragt gleich, wie es mir geht. Es tut gut, so angesprochen zu werden! Gleich fühle ich mich nicht mehr so fremd, so allein. Wir kommen ein wenig ins Gespräch, auch die Frau scheint sich zu freuen, dass ich bei ihr sitze. "Mit den meisten Leuten kann man ja nicht einmal mehr reden", meint sie. Wie recht sie damit hat, erfahre ich in den nächsten Tagen immer wieder und es macht mich traurig.
Kurz nach dem Essen, die Tische sind bereits abgeräumt, kommt die Schwester und will mich wieder ins Zimmer führen. Eigentlich würde ich gerne noch mit der Frau Winkler reden, aber die Schwester macht einen ungeduldigen Eindruck. Wahrscheinlich hat sie bald Dienstschluss und keine Lust auf Überstunden... Lange lasse ich mir das nicht gefallen, es wird Zeit, dass ich wieder selbstständiger werde! Heute muss ich noch froh sein, ich fände wahrscheinlich eh nicht mehr allein zurück, die Zimmernummer habe ich tatsächlich auch vergessen!
Kommt nun die Demenz, von der in Heimen so viel die Rede ist? Der klare Verstand sagt Nein. Ich habe Angst! Im Zimmer notiere ich gleich meine Zimmernummer, dann den Namen meiner neuen Sitznachbarin, und zeichne mir die Richtung auf, wie ich zum Speisesaal komme. Morgen schaffe ich das allein!!
Die Schwester will mich ausziehen und ins Bett legen - bin ich denn ein Baby? Um halb sieben ins Bett? "Nein, lassen Sie mich bitte noch auf, ich komme schon allein zurecht." Gerne glaubt sie es nicht, geht aber doch. Der Feierabend ruft....
Ja, und da stehe ich nun am Fenster, schaue in den dämmernden Abend hinaus, versuche ein paar Lichter meines Dorfes zu erkennen. Die untergegangene Sonne taucht Wolken in zartes Abendrot. Soll mein Abend sich auch rosa färben, mein Lebensabend hier?
 
 
ChA 14.02.16
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.03.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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