Horst Lux

Glück oder was sonst?

Eintausendeinhundertfünfzig. 
Welch eine ungeheure Zahl! Wenn sie gewusst hätte, welch eine gewaltige Zahl dies ist, hätte sie sicher nicht diesen Gewaltakt begonnen.
Eintausendeinhundertfünfzig Zentimeter. Sie weiss nichts von Zahlen, kann darum nicht abschätzen, welchen Wert diese Zahl beinhaltet. Sie spürt nur mit ihren Augen, dass dies eine unwahrscheinliche Grösse sein muss.
Bis an den hohen Abhang hat sie es nun geschafft, mühselig und mit aller Kraft auch noch die letzte Strecke. Immer wieder musste sie eine Ruhepause einlegen, immer öfter hatte sie sich zwischendurch zurückgezogen, niedergelegt. Ständig aber trieb ihre begonnene Aufgabe sie weiter - und das mit Erfolg. Ohne diese Beharrlichkeit wäre sie mit Sicherheit niemals so weit gekommen.
Nun aber sieht sie sich einer Aufgabe gegenüber, die unvorstellbar gross ist. Das Gelobte Land liegt vor ihr im hellen Sonnenschein; diese heisse Sonne macht ihr zwar schwer zu schaffen, doch das satte Grün der Wiesen und das grünblaue Wasser des kleinen Sees auf der anderen Seite lockt mit unwiderstehlicher Kraft.
Eine innere Stimme sagt ihr ganz eindeutig: »Kehre um, das schaffst du nicht!«
Aber die magische Anziehungskraft der anderen Seite ist stärker. Seit jeher, seit tausend Generationen, ist es dieses bewusste gelobte Land, dass all ihre Vorfahren jährlich aufsuchen, immer und immer wieder. Es ist eingeprägt in ihre Gene, unlöschbar festgelegt.

Nun sitzt sie dort am Rande der Strasse, hört das Donnern der vorbeirasenden Autokarawanen. Hier und da dann auch eine kleine Pause dazwischen, bis wieder eins dieser Ungetüme vorbei braust. Sie überlegt nicht, weil ihr Instinkt nicht darauf ausgerichtet ist. Eine kleine Erdkröte hat nun mal keinen Verstand, den sie zum Denken einsetzen kann.
Sie wird nur von ihrem Trieb geleitet, dessen Erfüllung aber liegt auf der anderen Seite der Strasse. Es sind genau elf Meter und fünfzig Zentimeter, die das Tier von ihrem Ziel trennt.
Peanuts für einen Menschen. Schier endlose Entfernung für dieses kleine Tier, das seinem Urinstinkt folgen muss; ob es nun will oder nicht. 
Nachdem sie nun eine ganze Zeit lang am Rande der Strasse sitzt, wird es nun ernst. Sie läuft einfach los, langsam, etwas holperig, aber sie läuft. Schaut nicht nach links, nicht nach rechts, geradeaus ist ihr Weg. Der Verkehr fliesst an ihr vorüber. Sie bleibt nicht liegen, nein - sie marschiert immer weiter vorwärts. Die Ungetüme der Strasse brausen an ihr vorüber, kleine und grosse Fahrzeuge, Trucks und Sprinter, Pkws und Motorräder.

Die kleine Kröte läuft unbeirrt weiter vorwärts. Dann, nach einer endlos erscheinenden Zeit, ist es endlich so weit. Entgegen jeder Erwartung hat sie es geschafft. Sie hat die Strasse überquert!
Das verhältnismässig winzige kleine Tier hat das Glück ihres Daseins, ihr Lebensziel erreicht, hat die technisierte Welt mit sehr viel Glück überwunden, hat überlebt.
Sie hat keine Ahnung von der Gefahr, in der sie sich befand. Denn dann, - wenn sie sich dessen bewusst wäre, würde sie niemals den Willen und die Kraft aufbringen, nach einigen Wochen den Rückweg, nun entgegengesetzt, anzutreten.
Denn auch das ist vorgegeben: Sie muss wieder in ihr altes Dasein zurückkehren. Gut, dass sie dies selbst nicht weiss.

Was sagt mir nun dieses unscheinbare kleine Wesen? Kann ich etwas von ihm lernen?
 Ja! Wenn ich etwas Neues anfange, wenn ich etwas nicht Vorhersehbares wage,kann ich gewinnen.
Es kann aber auch sein, dass ich verliere!
Wenn ich aber gar nichts tue, habe ich im Grunde schon verloren!

Und sei es auch nur mein Selbstwertgefühl ...
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.03.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Jahre wie Nebel: Ein grünes Jahrzehnt in dunkler Zeit von Horst Lux



Es wurde sehr viel geschrieben über jene Jahre der unseligen Diktatur eines wahnwitzigen Politikers, der glaubte, den Menschen das Heil zu bringen. Das meiste davon beschreibt diese Zeit aus zweiter Hand! Ich war dabei, ungeschminkt und nicht vorher »gecasted«. Es ist ein Lebensabschnitt eines grünen Jahzehnts aus zeitlicher Entfernung gesehen, ein kritischer Rückblick, naturgemäß nicht immer objektiv. Dabei gab es Begegnungen mit Menschen, die mein Leben beeinflussten, positiv wie auch negativ. All das zusammen ist ein Konglomerat von Gefühlen, die mein frühes Jugendleben ausmachten. Ich will versuchen, diese Erlebnisse in verschiedenen Episoden wiederzugeben.

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