Manfred Bieschke-Behm

Familie Langohr - eine ganz normale Familie




Familie Langohr - eine ganz normale Familie oder Hasen sind auch nur Menschen.
 
J U L I U S  Langohr
Mein Name ist Julius Langohr, genannt der Aufschreiber. Noch bevor ich Ostereier nach den Vorbildern großer Künstler anmalen konnte, konnte ich schreiben. Alles, was mir ein- oder auffällt, schreibe ich auf. Ihr könnt euch vorstellen, dass sich um mich herum Berge von vollbeschriebenem Papier stapeln. Manche Stapel reichen bis zur Decke und ersetzen Stützpfeiler in unserem in die Jahre gekommenen Zuhause. Wenn ihr in mein Hasenzimmer hineinblicken könntet, würdet ihr mich zwischen den vielen Papierstapeln kaum entdecken. Kennt ihr den Zustand, wenn aus Buchstaben Wörter werden, aus Wörtern ganze Sätze und aus Sätzen ganze Geschichten? Gerade bin ich dabei meine Familiengeschichte aufzuschreiben. Wenn ihr Lust habt zuzuhören, erzähle ich euch ein bisschen von uns. Von meinen Geschwistern, von Tante Sina und ihrer Tochter Uta und Großmutter Emma.
Unsere Familie ist anders als andere Familien, behauptet meine Mutter. Wenn sie das sagt, wird das stimmen. Manchmal habe ich jedoch den Eindruck, dass meine Familie anders tickt wie vielleicht deine Familie. Vielleicht irre ich mich. Wenn ihr meine Familie näher kennengelernt habt, könnt ihr selbst entscheiden, ob das stimmt, was meine Mutter behauptet. Mein verstorbener Onkel pflegt immer zu sagen: „Es kommt gar nicht darauf an, wo man geboren wird, in welchem Ort jemand wohnt, ob man Hase oder Mensch ist. Alles kann passieren, muss aber nicht!“
Meine Familie wohnt unweit einer großen Wiese am Waldrand mit Blick in das Unterholz. Zur Wohngemeinschaft gehört Mutter Elli, ich und meine vier Geschwister Rosina, Emil, Felix, Ottokar sowie Mutters Schwiegermutter, unsere Oma. Oma Emma ist der gute Geist des Hauses. Sie sorgt, trotz ihres hohen Alters immer für Spaß und Überraschungen. Alle nennen sie liebevoll Omi Langohr. Gelegentlich besucht uns Mutters Schwester Sina mit ihrer Tochter Uta. Wenn die da sind, ist es meist sehr unruhig im Hause Langohr. Selten sind meine Mutter und ihre Schwester einer Meinung. Dank Omi Langohrs Gabe, aufgebrachte Gemüter zu beruhigen, kommt es nur gelegentlich zu einem handfesten Krach. Der dann damit endet, dass Tante Sina wütend das Haus verlässt und Cousine Uta endtäuscht hinterher trottet.
Unser Vater ist selten zu Hause. Es schafft auswärts und kommt nur gelegentlich nach Hause. Wenn er da ist, will er in Ruhe gelassen werden. Er meint, er muss Kräfte sammeln, damit er uns mit dem Notwendigstem versorgen kann. Zu den Feiertagen ist er immer daheim. Besonders an Ostern. Ostern geht es hoch her bei uns. Jede Pfote wird gebraucht. Das ganze Wohnzimmer ist vollgepackt mit bemalten und unbemalten Ostereiern. Jedes Familienmitglied hat feste Aufgaben. Unser Vater zum Beispiel organisiert ohne Hektik die Verteilung der Ostereier. Unter seiner Regie ist garantiert, dass jedes Menschenkind die Eier bekommt, die es verdient hat.
 
Jetzt erzähle ich euch kleine Geheimnisse über meine Geschwister und Omi Langohr. Ich weiß, dass es schwerfällt, Geheimnisse für sich zu behalten. Deshalb erlaube ich euch die Geheimnisse, weiter zu erzählen.
 
E M I L  Langohr
Mein Bruder Emil ist ein Tagträumer. Er selbst ist zufrieden mit dem, wie er ist.
Vielleicht nicht so sehr mit seinem Namen. Emil ist nicht nur ein Tagträumer, sondern auch eine Leseratte. Alles, was er an Büchern in seine Pfoten bekommt, wird studiert. Neulich las er in einem Buch, dass sein Name übersetzt "der Nachahmer" bedeutet. Was ein Nachahmer ist, weiß Emil nicht. Aber so wie ich meinen Bruder kenne, wird er es herausfinden. Mit acht Jahren kann man nicht alles wissen. Oder?
Letzten Dienstag hatte sich Emil bei mir beklagt. Es erklärte mir, dass ihm seine vier Geschwister – also auch ich - aber auch unsere Tante, unsere Cousine und vor allen Dingen unsere Oma manchmal ganz schön auf die Nerven gehen. „Emil mache das!“ „Emil mache dies!“ „Emil so macht man das nicht!“ „Emil, wie oft muss ich dir das noch sagen?“ „Emil träume nicht schon wieder …“ oder „Früher war das so, früher war alles anders ...“ Während Emil sich in Rage redete, äffte er die einzelnen Familienmitglieder nach. Weil das so komisch aussah, hätte ich am liebsten laut losgelacht. Ich verkniff mir das Lachen, weil ich mir nicht sicher war, wie Emil auf mein Lachen reagieren würde. Die Situation war viel zu ernst. Zumal es stimmt, dass sich Emil all die Sätze und Aussagen fast täglich anhören muss. Dass ihm das manchmal zu viel wird, kann ich verstehen. Ich empfahl meinem Bruder auf ‚Durchzug’ zu stellen, was mit seinen langen Ohren gar nicht ganz so einfach ist.
Wenn es Emil zu bunt wird, geht er in die Natur. Hier blafft ihn niemand an. Hier kann er sich gemütlich ins Gras legen auf einem Grashalm kauen und in die spannende Welt der Bücher eintauchen. Gerade liest er ein Buch, in dem es um einen unangepassten Hasen geht. Der Name des Buchhasen lautet Emilio, was gleichbedeutend mit Emil ist. ‚Von Emilio werde ich bestimmt viiiiiiiiiiiiiiel lernen’, glaubt Emil und wechselt neugierig zur nächsten Buchseite. Emil ist davon überzeugt, dass Emilio ihm aufzeigen wird, wie man sich in einer Großfamilie durchsetzen kann. Emilio - so erfährt es Emil aus dem Buch - ist schon 10 Jahre alt. Die zwei Jahre, die sie voneinander trennen -und der damit verbundene Wissensvorsprung - wird dazu beitragen, dass er sich künftig in seiner Familie besser behaupten kann, denkt Emil. Weil es anfängt, zu regnen klappt er das Buch zu und hoppelt so schnell es geht nach Hause. Zuhause angekommen empfängt ihn unsere Mutter mit den Worten:
 „Du bist ja pudelnass. Wo hast du dich denn wieder rumgetrieben?“
„Ich habe mich nicht rumgetrieben. Ich bin dabei zu lernen, wie ich mich besser behaupten kann.“
„So, so“! Ich behaupte, dass du erst einmal trocken hinter den Ohren werden musst, bevor du große Reden halten kannst“
Irgendwie hat Emil den Eindruck, nicht ernst genommen zu werden.
 
F E L I X  Langohr
12 ½ Jahre alt ist mein Bruder Felix. Alle sagen, dass er 12 Jahre alt ist. Das hört Felix nicht gerne. „Ich bin 12 ½ Jahre alt, ja fast schon 13 Jahre“, verteidigt sich Felix mit angeschwellter Brust. „Am 25. Juni werde ich dreizehn“, erzählt er jedem auch denen, die es nicht hören wollen. Und er fügt hinzu, dass genau achtzehn Tage vergehen müssen, bis er seinem 13. Geburtstag feiern kann. Fragst du dich jetzt, woher Felix das mit den Tagen so genau weiß? Ich werde es dir erzählen: Neulich konnte ich beobachtet, wie Felix an unserem Hasenkalender die Tage bis zu seinem Geburtstag abgezählte. Dabei kam er auf die Anzahl achtzehn. Schlau, wie mein Bruder ist, hat er achtzehn Möhren genommen und sie nebeneinander vor seinem Bett abgelegt. An den Folgetagen wird er – noch bevor er sein Bett verlässt – eine Möhre verputzen. Ist die letzte Möhre verspeist, weiß er, dass er Geburtstag hat. Ist doch eine tolle Idee - oder? Ja, mein Bruder ist ein schlauer Hase. Er ist mein Vorbild (was ich ihm natürlich nicht sage).
Manche behaupten, Felix sei ein Großkotz und ein ewiger Besserwisser. Das hört er nicht gerne. Neulich belauschte ich ein Gespräch zwischen Felix und einem Hasen aus der Nachbarschaft. Ich hörte meinen Bruder sagen: „Ich weiß nicht, weshalb die Anderen so übel über mich denken und reden.“ Dann fügte er hinzu: „Ist mir aber egal!“, und stampfte dabei mit dem linken Hinterbein auf. (Das mit dem ‚ist mir egal‘ glaube ich ihm nicht. Wenn es ihm egal wäre, hätte er nicht darüber gesprochen. Oder?).
Vorgestern muss es gewesen sein, als mir unsere Schwester Rosina erklärte, dass Felix ihr mächtig auf den Keks gehen würde! ‚Was heißt das, auf den Keks gehen?’, frage ich mich. Ist mit dem Keks ein bestimmter Körperteil gemeint? Und wenn ja, welcher? Ich erkundigte mich bei meiner Schwester und sie erklärte mir, dass es sich um eine Redewendung handele und kein spezieller Körperteil damit gemeint ist. ‚So ein Quatsch!’, dachte ich. Da fand ich es schon einleuchtender, als mein Bruder Ottokar am vergangenen Donnerstag zu mir sagte, dass ich ihm auf die Eier gehen würde. Damit kann ich was anfangen. Denn letztens ist mir tatsächlich passiert, dass ich auf seine von ihm frisch angemalten Ostereier getreten bin. Das gab großen Ärger im Hause Langohr.
Auch Felix bewegt sich gerne in der freien Natur. Ganz besonders wenn die Schmetterlinge aktiv sind. Dann hoppelt Felix frohgelaunt den Flatterlingen (wie Felix Schmetterlinge nennt) hinterher und freut sich wie ein kleines Kind. Einmal hatte er versucht, wie ein Falter, zu fliegen. Dabei ist er mächtig auf seine Nase gefallen und hat sich seine rechte Ohrenspitze verletzt. Zu allem Übel musste Felix mit anhören, wie sich zwei Schmetterlinge über sein Missgeschick lustig machten, und amüsiert und plappernd um ihn herumflatterten. Der eine Schmetterling sagte zu dem anderen Schmetterling: "Der hat doch einen an der Waffel?"
An der Waffel? Was die Schmetterlinge damit meinten, hat Felix nie erfahren.
Übrigens mein lesewütiger Bruder Emil hat sich schlaugemacht und weiß jetzt, das mit dem Keks, der Kopf gemeint ist. So betrachtet passt das zu meiner Schwester. Sie malt sich manchmal tatsächlich so knallbunt an wie ein Kullerkeks.
O T T O K A R  Langohr
Jetzt erzähle ich euch ein paar Dinge über meinen Bruder Ottokar. Er wurde vor siebzehn Jahren geboren. Ottokar der Verliebte! Ja, so nenne ich ihn. Er ist bis weit über beide Schlappohren hinaus verliebt. In Sachen Liebe ist er noch ein Lehrling. Es ist das erste Mal, dass es ihn erwischt hat. Seine Angebetete heißt Uta. Uta – wie ihr wisst - die Tochter unserer Tante Sina. Uta weiß nicht, dass Ottokar in sie verknallt ist. Ostersonntag möchte er es ihr beichten. Aber wie er das anstellen soll weiß er nicht.
Als Ottokar Uta das erste Mal sah, wusste er gleich, dass das die Häsin seines Lebens sein wird. „Die oder keine“, hat er gesagt. Ganz aufgeregt war er, als sie sich gegenüberstanden und ihre Vorderpfoten sich zaghaft berührten. Sein kleines verliebtes Hasenherz überschlug sich fast und seine Ohren färbten sich bis in die Spitzen rot. Nur mit großer Mühe konnte er sich bremsen sie nicht ganz fest in seine Hasenpfoten zu nehmen.
Oskar hatte mich gefragt, ob ich es gut fände, wenn er Ostersonntag ganz in der Früh für Uta ein paar mit Tau bedeckten Blumen pflücken würde. Ich antwortete ihm, dass ich seine Idee gut finde. Er fragte weiter, ob es auch eine gute Idee sei, ihr ein selbstverfasstes Gedicht zu schenken.
„Du kannst dichten?“, fragte ich verwundernd dreinblickend meinen Bruder. Der schüttelte den Kopf.
„Dann lass es“, riet ich ihn.
„Mal sehen“, sagte Oskar und strich sich verlegen über die in tiefe Falten gelegte Hasenstirn.
Ottokar ließ sich nicht abbringen ein Gedicht zu schreiben. Der Wille war da, allein die Worte waren es, die ihm nicht einfielen. Ottokar erklärte mir, dass die Dichtkunst keine einfache Sache sei.
"Liebe Ute, zu Dir ich spute …“, fing Ottokar an zu dichten und merkte schnell, dass an diesem Satz etwas nicht stimmte. Seine Angebetete heißt nicht Ute, sondern Uta und deshalb verwarf er seinen ersten Entwurf.
 "Liebe Uta …" Was reimt sich nur auf Uta, überlegte Ottokar krampfhaft. Endlich hatte er den genialen Einfall:
 
Liebe Utaaa
jetzt bin ich da.
Ich will dich beglücken
und für dich tausend Blumen pflücken!
 
Tausend Blumen? Das ist doch wohl übertrieben! Ich werde nur sieben Blumen pflücken. Also noch einmal von vorne.
 
"Liebe Utaaa,
jetzt bin ich da.
Ich habe Dir sieben Blumen gepflückt
und hoffe, dass dich das beglückt.
 
 Ja, das klingt gut. Das kann so bleiben.
 
Ich hoffe, du nimmst die sieben Blumen gerne an,
und wählst mich danach zu deinem Hasenmann.
 
Der letzte Satz ist blöd. Einfach zu plump fand Ottokar und strich den letzten Satz. An seiner Stelle dichtet er:
 
Ich hoffe, du nimmst die sieben Blumen gerne an,
sodass ich mich darüber freuen kann.
 
Prima!
 
Sollten die sieben Blumen und ich dir gefallen …
 
Gefallen, gefallen … und wie geht es nun weiter? Was reimt sich auf gefallen?
 
Sollten die sieben Blumen und ich dir gefallen,
so erzählen wir von der großen Freude allen".
 
Die letzten zwei Zeilen sind ein bisschen holprig. Aber besser bekomme ich es nicht hin, dachte Ottokar und wollte meine Meinung hören.
Nachdem ich sein Gedicht gehört hatte, erklärte ich meinem Bruder, dass der Aufwand sich gelohnt hatte und ganz bestimmt zum Erfolg führen würde, (wenngleich ich mir nicht ganz sicher war, ob die Worte gut gewählt waren).
 „Ach, wenn doch morgen schon Ostersonntag wäre“, jammerte Ottokar, „dann könnte er Uta tief in die Augen schauen und Bluem und Gedicht überreichen. „Schon jetzt weiß ich, dass ich vor Aufregung die ganze Nacht vor Ostern nicht schlafen werde“, erklärte mir Ottokar. „Allein nur der Gedanke an Uta lässt mein Hasenherz höher schlagen. Was für ein Kleid wird sie tragen? Vielleicht das Blaue, das mit den weißen Punkten und den spitzenverzierten Puffärmeln und der weißen Taftschleife, die sich bei jedem Schritt neckisch hin und her bewegt. Lieber Gott lass es bitte ganz schnell Ostern werden. Bitte ganz schnell, ganz schnell, schnell, schnell, sehnsuchtsschnell.“                                                                                                                       Ich versuchte meinen Bruder, der wie im Fieberwahn sprach, zu beruhigen. Es gelang mir nur mäßig. Ich empfahl, Baldriantee zu trinken. Er erklärte mir, dass er kein Baldriantee bräuchte, was er bräuchte, ist Uta.
R O S I N A  Langohr
Es gibt die Rossini-Oper "Der Barbier von Sevilla". Darin gibt es die Figur Rosina, die bildschön ist. Genauso findet sich meine Schwester mit gleichem Namen. „Unsere Eltern mussten schon bei meiner Geburt vor achtzehn Jahren gewusst haben, dass ich eines Tages zu einem hübschen Hasenmädchen heranwachsen würde, sonst hätten sie mir nicht den Namen Rosina gegeben“, erzählte Rosina immer wieder gerne. Sogar ihrem Spiegelbild erzählt sie diese Geschichte. Meine Schwester gibt – wenn auch ungern - zu, dass sie eitel ist. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit betrachtet sie sich. Ich habe schon beobachtet, wie sie sich in einer Wasserpfütze oder einer Glasscherbe selbstverliebt ansieht.
Meine Brüder und ich behaupten, dass sich Rosina gelegentlich arrogant und überheblich wie ein Pfau benimmt. Ein Pfau, der mit geschwellter Brust durch die Gegend läuft. Hätte auch sie farbenprächtige Schwanzfedern, würde sie diese andauernd weit auseinandergespreizt präsentieren. Auf diese Vorstellung angesprochen, ist nur ein „Na und“ zu vernehmen.
Vor ein paar Wochen stand meine Schwester mit Klara, einer Junghäsin aus dem Nachbarbau zusammen. Ich hörte, wie meine Schwester Klara ihr Leid klagte: „... Ich tue zwar so, als würde es mir nichts ausmachen, wenn mich meine Brüder anmachen, aber so ist es dann doch nicht. Meine Brüder meinen, dass ich "nicht ganz dicht sei". Und das unter anderem, weil ich eine Schwäche, für alles was rot ist, habe. Rot ist nun einmal meine Lieblingsfarbe. Rot steht für Leidenschaft und Liebe. Rot ist die Farbe des Feuers und des Blutes. Rot symbolisiert Lebensfreude, Energie und Kraft. Ja, das alles verbinde ich mit Rot. Und das alles trage ich in mir!“ Während Rosina sich erklärte, drehte sie sich wie ein Brummkreisel im Kreis ohne die Balance zu verlieren.
Wenn Rosina gelegentlich nach "Hasenstadt" zum Shoppen geht, zieht sie ausschließlich Klamotten an die irgendwie mit der Farbe Rot in Verbindung zu bringen sind. Meine Brüder rufen ihr dann immer hinterher: "Seht nur, die ‚rote Rosina‘ geht wieder einmal als Feuermelder verkleidet in die Stadt!" Dabei lachen sie und versuchen ihre wenig elegante Gangart zu imitieren. Sie versucht den Vorfall zu ignorieren, indem sie stolzen Schrittes an ihnen vorbeigeht.
Neulich, wir saßen alle gemütlich am Kaffeetisch und aßen Möhrentorte, meldete sich Rosina mit ausdruckstarkem Gesicht zu Wort: „Die Rosina in der Rossini-Oper war ja nur eine Sängerin. Ich dagegen habe den Wunsch Kanzlerin vom ganzen Hasenland zu werden.“ Alle am Tisch sitzenden blieb der Kuchen im Halse stecken. Mit weit aufgerissenen Augen schauten wir auf Rosina und warteten ob mehr Neuigkeiten folgen würden. „Ja, ganz genau, ich will Kanzlerin werden! Ich habe auch schon ganz klare Vorstellungen für meine Amtsführung. Zunächst wird es eine Landesfahne ganz in Purpurrot geben. Dann müssen alle meine Minister, genau wie ich, rote Kleidung tragen. Alle Häuser müssen feuerrote Dächer haben und die Sonne darf nur noch rot und nicht mehr gelb scheinen. Überall im Land müssen Spiegel aufgehängt oder aufgestellt werden, damit ich mich vieltausendmal betrachten und bewundern kann. Wenn ich Kanzlerin bin, werde ich euch meine Brüder dazu zwingen, rote Schuhe zu tragen, auch wenn ihr rote Schuhe nicht ausstehen könnt.“ Das war zu viel des Guten. Wir Brüder waren empört. Wir und rote Schuhe? Trügen wir rote Schuhe, würde man uns für verkleidete rotfüßige Hühner halten. Das geht gar nicht! Rosina weiß, dass wir Hühner zu unseren Feinden erklärt haben. Warum? Weil sich hartnäckig das Gerücht hält, dass sie es sind, die Ostereier legen. So ein Quatsch!
Ihr könnt euch vorstellen, dass der von Rosina verzapfte Unsinn dazu führte, die Kaffeetafel abrupt zu beenden. Wäre unsere Oma Emma dabei gewesen, wäre sie es, die dem Spuk ein Ende gesetzt und wir alle ein zweites Stück von der köstlichen Möhrentorte gegessen hätten. Ohne sie blieb uns nichts anderes übrig als panikartig den Kaffeetisch zu verlassen. Emil war so geistesgewärtig und nahm sich vor der Flucht ein zweites Stück Möhrentorte vom Kuchenteller. Alle beneideten ihn. Aber Neid macht bekannterweise nicht satt.
 
Oma  E M M A
Zum Schluss ein paar Sätze zu unserer Oma. Trotz ihrer 75 Jahre fühlt Omi Emma sich fit wie ein Turnschuh. Als vor knapp drei Jahren ihr geliebter Mann Klaus - Werner verstarb, ging es ihr gar nicht gut. Gemeinsam führten sie einen Tante-Emma-Laden in Hasendorf. Seit Opa Klaus - Werner nicht mehr da ist, gibt es auch den Laden nicht mehr. Bis heute lebt Oma Emma - auch wir - von den Restbeständen aus dem Laden, und das recht gut. Wenn sie über die Verluste mal wieder so richtig traurig ist, genehmigt sie sich ein Gläschen selbstgemachten Eierlikör. Es können auch mal zwei oder drei, und wenn es hochkommt, auch vier Gläschen sein. Mindestens nach dem dritten Gläschen Eierlikör ist es Oma Emma anzusehen, dass der Alkohol Wirkung zeigt. Sie wird immer fröhlicher und fängt, ohne dass es Grund dafür gibt, laut an zu lachen. Die Nickelbrille verrutscht und ihr linkes Ohr macht sich selbstständig. Es kippt immer wieder nach vorne und verdeckt ihr linkes Auge. Da Oma Emma im Hause ihrer Schwiegertochter lebt, gilt es bestimmte Regeln zu beachten. Mit Eierlikör im Blut gelingt das nicht immer.
Als ihr Klaus - Werner verstarb, war es für meine Eltern selbstverständlich, dass Oma Emma zu uns zieht. Meine Mutter hat ihr ein kleines aber feines Zimmer hergerichtet. Hier fühlt sie sich nach eigenen Angaben sehr wohl. Viele mitgebrachte Einrichtungsgegenstände sind mit starken Erinnerungen verbunden, was ihr gut tut. Unter anderem gibt es eine Staffelei und davor liegende oder stehende Farbtuben und Pinsel. Wann immer Oma Emma Lust verspürt, malt sie Porträts oder Gruppenbilder. Nicht immer haben ihre Motive einen Wiedererkennungswert, aber das ist egal. Mittlerweile gibt es im ganzen Haus kaum noch eine freie Stelle für neue Bilder. Wir Enkelkinder sind nicht so begeistert, wenn sie uns zum x-mal bittet, uns malen zu dürfen. Stillsitzen ist nicht gerade unsere Stärke. Aber irgendwie schafft es Oma Emma immer wieder uns davon zu überzeugen, dass es sich lohnt.
Wenn sie ohne Modell malt, kann es passieren, dass sie sich zur Anregung ihrer Fantasie ein Gläschen Eierlikör zu viel gönnt. Hier ein Pinselstrich dort ein Likörchen führt manchmal dazu, das der Malprozess durch einsetzende Müdigkeit unterbrochen wird. Die Folge ist, dass sie einschläft, und dass ihr Kopf gegen die Leinwand fällt, wobei ihre Nase in die noch feuchte Farbe eintaucht. Nicht selten schafft es ihre unruhige Nase scharfe Konturen zu verwischen, und aus den fast realistischen Bildern, Bilder im Stile Picassos entstehen lässt.
Meist wird Oma Emma durch ihr eigenes Schnarchen wach. Sie betrachtet dann zunächst ihr im Schlaf entstandenes Kunstwerk und anschließend ihre mit Farbe versehende Nase. Wenn wir Enkelkinder sie in diesem Zustand sehen, nennen wir sie "Picasso-Oma."
 
Jetzt habe ich euch einiges von meiner Familie erzählt. Jetzt seid ihr an der Reihe. Erzählt oder schreibt eure Familiengeschichten auf die bestimmt genauso interessant und lustig sind, wie meine.
 
 

Ostern steht vor der Tür. Deshalb musste ich Geschichten von der Familie
Langohr aufschreiben. Es handelt sich um Vorlegeschichten und soll GROß
und KLEIN erfreuen.
Manfred Bieschke-Behm, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.03.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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