Manfred Bieschke-Behm

Das Spiegelbild


 
Völlig nichts ahnend, was auf mich zukommen würde, ging ich durch den beständigen Regen meinen Weg entlang. Da sah ich ihn im Wendekreis stehen . Er zog meine Blicke magisch an. Ich sah einen ovaler holzeingefasster Spiegel auf verschnörkelten Standbeinen. Das Erste, was mir durch den Kopf schoss, war die Frage: „Wie kommt der Spiegel hier her?“ Danach die Frage: „Wurde der Spiegel bewusst abgestellt oder vergessen?“ Bevor ich mich dem Spiegel näherte, schaute ich um mich. Ich wollte auf keinen Fall beobachtet werden oder gar in den Verdacht geraten den Spiegel stehlen zu wollen.
Der anfänglich leichte fast warme Regen schien sich in einen Dauerregen zu wandeln. Dicke rücksichtslose Regentropfen prasselten auf meinen Kopf. Meine Haare inzwischen klitschnass hingen mir in Strähnen gebündelt ins Gesicht. Auf meinen Brillengläser tanzten Regentropfen und ließen keinen mich klaren Durchblick zu. Von den Nackenhaaren lief Regen über mein Genick an der Wirbelsäule hinunter. Das war ein unangenehmes Gefühl. Ich fröstelte und bekam eine leichte Gänsehaut. Trotz der widrigen Umstände kam ich nicht auf die Idee, den ungemütlichen Ort zu verlassen. Es wäre ein Leichtes gewesen hinüber in den Wald zu laufen, um Schutz zu suchen. Irgendetwas hinderte mich daran. Ich näherte mich dem Spiegel bis auf wenige Zentimeter. Die Spiegelgröße ließ mich aufschrecken. Nie zuvor hatte ich vor einem dermaßen großen Spiegel gestanden. Damit ich die sich bewegende Regentropfen auf dem oberen Oval des Spielrahmens beobachten konnte, musste ich mich auf Zehenspitzen stellen. Ich sah dicke Regentropfen, die sich nach rechts und nach links bewegten, und haltlos in die Tiefe stürzen. Auf dem asphaltierten Boden fanden die Tropfen ihre Plätze in zwei Pfützen, die sich zu beiden Seiten der Standbeine gebildet hatten. Plötzlich kam Wind auf der die Pfützen, in Schwingungen versetzte. Ich sah auf Wellen, die mich an eine unruhige See erinnerte und nichts Gutes ahnen ließ.
Gnadenlos prasselte Regen gegen den Spiegel. Nur seiner Robustheit war es zu verdanken, dass er standhaft blieb. Die Regenmengen, die auf der Glasoberfläche abflossen, glichen einem Wasserfall. Nur mit Mühe ließen sich gespiegelte blassgrüne Bäume hinter dem Wasserschleier erkennen. ‚Wieso sehe ich nur Bäume?’, überlegte ich! Wieso sehe ich nur Bäume und nicht mich? – merkwürdig.’ Einem Spiegel der sich aussucht wen oder was er wiederspiegelt war mir bis zu diesem Tag noch nicht begegnet.
Wieder schaute ich mich um. ‚Vielleicht treibt jemand einen Scherz mit mir’. Bei dem Gedanken einer Person auf den Leim gegangen zu sein fühlte ich mich unwohl. Ich fühlte mich auch unwohl, weil meine Kleidung zum auswringen nass war und weil von den Nackenharen abtropfender Regen immer noch direkt in den Hemdkragen lief und mir das frösteln lehrte.
Bislang hatte ich es vermieden, meine Brillengläser trocken zu reiben. Es hätte nur Sekunden gedauert und die Gläser wären wieder regennass gewesen. Aber jetzt, wo Regen und Wind an Stärke nachgelassen hatten, putzte ich die Gläser. Danach war ein störungsfreier Rundumblick möglich. Einen heimlichen Beobachter konnte ich nicht entdecken. Nur einen Hasen sah ich durch den Wendekreis laufen und im Wald verschwinden.
Endlich hörte es ganz auf zu regnen. Wie der Hase, so hatte sich auch der Wind den Wald als Ziel ausgesucht. Sein Durchquerung ließ die Baumwipfel leicht hin und her wiegen. Durch die Wolkendecke hindurch versuchte die Sonne, sich zu behaupten. Es gelang ihr nur mäßig. Die Nässe auf der Spiegeloberfläche verdampfte und hinterließ ein paar blinde Stellen, die sich sehr schnell auflösten. Augenblicklich verwandelte sich die bisher blasse Wiedergabe des Waldes in ein farbkräftiges Bild. Nur ich, ich blieb unsichtbar. Endtäuscht verließ ich den unheimlichen Ort und trat den Heimweg an. Kurz bevor ich um die Ecke bog, wagte ich einen Blick zurück. Warum ich das tat, weiß ich nicht.
Zu Hause angekommen entledigte ich mich meiner nassen Kleidung, nahm ein heißes Bad und trank eine Tasse schwarzen Tee mit Honig. Die angedachte Nachtruhe war nicht erholsam. Immer wieder beschäftigte mich der unheimliche Spiegel im Wendekreis. Ich nahm mir fest vor am nächsten Tag noch einmal, dorthin zu gehen. Aber ich wollte es nicht allein tun. Ich wollte jemanden dabei haben der das Unmögliche zu sehen bekommt.
Meinem Freund, dem ich meine Geschichte am nächsten Morgen erzählt hatte, erklärte sich nach Mehrmaligem drängeln bereit mich zu begleiten. Schweigend gelangten wir an die Straßenbiegung, die den Blick freigab zum Wendekreis. Schon von Weitem sah ich, dass der Spiegel noch an gleicher Stelle stand. Meine größte Befürchtung, dass der Spiegel nicht mehr da sein könnte und mich mein Freund für verrückt erklären würde, traf nicht ein. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Und ließ mich zuversichtlich sein. Nun standen wir vor dem Spiegel. Ich sah im Hintergrund den Wald. Ich sah meinen Freund. Wen ich nicht sah, war ich.
„Das kann doch nicht sein?“, sagte ich zu meinem Freund und mir selbst. „Kannst Du mir das Unmögliche erklären?“
„Ja, das kann ich“, sagte mein Freund, den ich verdattert ansah.
„Kannst du dich erinnern, dass wir neulich darüber sprachen, dass es nicht gut ist, sich zu wichtig zu nehmen. Das, sich zu wichtig nehmen bedeutet, dem Anderen die Wichtigkeit abzusprechen. Wer sich als Maß aller Dinge betrachtet und verlangt, dass sich die Welt nur nach ihm zu richten hat, überspannt den Bogen bei Weitem – und das tust du gelegentlich!“
Das hatte gesessen!
„Der Spiegel im Wendekreis hat dich sehen und spüren lassen, wie es ist, übersehen zu werden. Jeder Mensch hat das Recht, wahrgenommen zu werden. Du hast für dich entschieden nicht jeden wahrnehmen zu müssen und das du die wichtigste Person bist. Du bist – das sage ich dir in aller Deutlichkeit – nicht wichtiger als die anderen. Wenn du das begreifst und du den Wendekreis, in dem wir stehen, als Symbol für Umkehr sehen kannst, wirst du nie mehr vor einem Spiegel stehen müssen, der dich übersieht.
Ich überlegte kurz und sah ein, dass ich etwas ändern muss.
 
Bevor mein Freund und ich nach Hause gingen, blickte ich noch einem in den Spiegel. Ich sah den Wald meinen Freund und ...... mich.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.04.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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