Florian Brigg

Maskerade

Maskerade

Die Kurzgeschichte, die mit Verkleidung nur am Rand zu tun hat
 
Dienstag, 14. April 2009, 10.30 Uhr
Der weitläufige Schrottplatz Belmonscrapyard liegt in Fitzrovia, Westhampstead im Nordwesten Londons. Zwei unauffällig ge­kleidete Herren verlassen die Underground Station Great Portland Street und streben dem gegenüberliegenden Autoschrottplatz zu. Dort betreten sie das in einer Baracke unter­gebrachte Büro.
Die beiden Herren treffen auf einen Glatzkopf, der hinter einem Stoß von Papieren kaum sichtbar ist. „Wir bräuchten einen fahrbaren Untersatz für ein Crashcar-Event“, spricht einer der Männer.
„Dafür bin ich zuständig“, ist die Antwort. „An was haben die Gentlemen gedacht?“
„Nun, lange müsste das Wrack nicht halten“, lautet die Antwort. „Wichtig sind gute Start­eigenschaften und die Geschwindigkeit. 100 Meilen müsste der Wagen noch aushalten.“
„So was haben wir doch sicher auf Lager“, spricht der Glatzkopf und führt die beiden Männer an einer langen Reihe ausgedienter Fahrzeuge zu einem leicht verbeulten Ford Escort.
„Das ist ein 1974er“, erklärt der Glatzkopf. „Man nannte diese Type den ‚Käferkiller’, weil er bei Vergleichsrennen immer noch den VW Käfer weggeputzt hat. Möchten Sie eine Pro­be­fahrt machen?“
Die Testfahrt überzeugt die Herren. Nachdem man sich über den Kaufpreis geeinigt hat, übergibt der Glatzkopf die Wagenpapiere.
„Ich gebe Ihnen noch eine Kanne Öl als Draufgabe. Die wird der Motor nach 50 Meilen gerne schlucken.“
 
Sonntag, 2. August 2009
In der Londoner Sonntagszeitung ‚The Sun’ erscheint in der Rubrik ‚Alte Autos – alte Freunde’ folgende Einschaltung:
 
Straßenversteigerung!
Ford Escort BJ 1974 Bestzustand,
umständehalber ab Ausrufungspreis
₤ 99.- an Bestbieter abzugeben.
Ort: New Bondstreet nahe 6-7, Mayfair, London
Zeit: Do. 6. August 10.30 Uhr
 
Mittwoch, 5. August 2009, 15.10 Uhr
Das Visagistenstudio Lisa O’Connor Makeup Artists befindet sich an der Adresse Brookman Park, Hatfield, East Sussex.
Zwei unauffällig gekleidete Herren betreten den Eingangsbereich des Studios.
Ein in Weiß gekleideter Angestellter ersucht sie, Platz zu nehmen und fragt nach den Wünschen. Nachdem er aufmerksam zugehört hat, spricht er:
„Ich verstehe. Sie wollen während eines musikalischen Auftrittes ein geändertes Er­scheinungsbild ihrer Gesichtspartien. Sie wollen nicht älter, aber anders aussehen. Einer von Ihnen hätte gerne einen leicht exotischen Teint. Das alles lässt sich problemlos durchführen. Mit flüssigem Latex werde ich Ihre Gesichtspartien unter den Augen bis knapp über die Lippen verändern. Gerade dieser Teil des Gesichtes wird danach total verändert sein. Die Übergänge Ihrer Körperhaut mit der künstlichen werde ich mittels Farbspray retuschieren.“
Nach kurzer Überlegung nennt er den Preis. Drei Stunden später verlassen beide Herren sichtlich zufrieden das Studio.
 
Donnerstag, 6. August 2009, 10.15 Uhr
Zwei unauffällig gekleidete Herren betreten die Ausstellungs- und Verkaufsräume des be­kannten Juweliers Graff Diamonds in der eleganten New Bond Street in Londons Nobelstadtviertel Mayfair.
Außer den beiden Neuankömmlingen befinden sich drei Verkäufer und eine Kundin im Geschäft.
 
Einer der Herren sagt zum Verkäufer: „Zu dumm, nun habe ich meine Brieftasche im Wagen vergessen! Könnten Sie uns bitte nochmals die Tür öffnen?“ Offensichtlich weiß der vermeintliche Kunde, dass aus Sicher­heitsgründen die Panzerglastür zwar von außen, nicht aber von innen geöffnet werden kann.
 
Nun geht alles sehr schnell. Der Herr öffnet die Eingangstür und stellt seinen Aktenkoffer dazwischen, um ein Schließen der Türe und die damit zusammenhängende Sperre zu deaktivieren. Der Komplize macht kein Hehl aus dem Grund des ‚Besuches’. Er fordert die Anwesenden auf, die Hände zu heben und sich ruhig zu verhalten. Nachdruck seiner Forderung verleiht er mit einer Schusswaffe, die er in Händen hält. Nun eilt der erste Komplize zu verschiedenen Vitrinen und packt gezielt Schmuckstücke in eine Papiertüte. Wie später festgestellt, handelt es sich dabei um Preziosen, Kolliers, Armreifen, Ringe und Uhren, insgesamt mit 1.500 Diamanten be­setzt. Der Verkaufswert wird mit ₤ 40 Millionen beziffert.
 
Der Vorgang dauert bloß wenige Minuten. Zuerst verlässt einer der Räuber, die Tüte unter den Arm geklemmt, ohne besondere Eile das Geschäft, während sein Komplize die Anwesenden nach wie vor mit der Pistole in Schach hält.
 
Donnerstag, 6. August 2009, 10.20 Uhr
Der Räuber mit der Beute, die er in den zwi­schen der Eingangstür abgestellten Koffer schnell umpackt, geht auf eine kleine Men­schengruppe zu, die sich wenige Meter neben dem Juweliergeschäft um einen alten Ford Escort drängt.
 
„Einen schönen Tag“, grüßt er die Inte­ressenten an der Autoversteigerung. „ Es ist etwas früher geworden. Ich nehme an, Sie hatten Gelegenheit, das Versteigerungsobjekt in Augenschein zu nehmen. Die Übergabe des Verkaufserlöses erfolgt während einer Probe­fahrt, die der neue Besitzer mit mir zusammen vornehmen wird. Sollte dieser mit dem Auto nicht zufrieden sein, kann der Ankauf rück­gängig gemacht werden. Also kein Risiko.“
 
Nach kurzer Pause spricht er halblaut die Versteigerungsformel, beginnend mit 99 Pfund. Dann folgen schnell einige höhere Angebote. Den Bieter mit 199 Pfund fasst der selbst ernannte Auktionator unter den Arm und drängt ihn zum Auto. Er öffnet die Tür zum Fahrersitz, er selbst steigt auf der Mitfahrer­seite ein. Er übergibt dem Fahrer die Schlüssel, dieser startet den Motor, und der Wagen fädelt sich in den fließenden Verkehr der Geschäftsstraße ein.
 
Donnerstag, 6. August 2009, 10.25 Uhr
Der im Geschäft zurückgebliebene Räuber blickt auf seine Armbanduhr. Dann drückt er die Pistole der vor Furcht bebenden Dame in die Hand und verlässt wortlos das Gebäude.
 
Als unmittelbar darauf das Folgetonhorn der sich rasch nähernden Einsatzfahrzeuge zu hören ist, biegt er gerade in die Conduit Street ein und verschwindet in der Menschenmenge.
 
Donnerstag, 6. August 2009, 10.33 Uhr
Den am Tatort eintreffenden Polizeibeamten unterlaufen nun Fehler, die auf die voraus­schauende Inszenierung des kriminellen Duos, die Hektik am Tatort und die Verwirrung stiftenden Aussagen der Zeugen zurückzu­führen sind.
 
Die Kundin hat noch wenige Minuten vor Eintreffen der Polizei, vermutlich als Reflex­handlung, einen Schuss aus der Pistole abgefeuert. Dieser wurde von einem an der Autoversteigerung anwesenden Interessenten gehört, der daraufhin mit seinem Handy-Fotoapparat den sich entfernenden Ford Escort filmt. Auf den Bildern sind auch die aus dem Geschäft stürzenden Verkäufer und die Kundin, die Pistole in der Hand, zu sehen.
 
Über Funk wird eine Alarmfahndung nach dem Ford Escort herausgegeben. Auf den zufällig aufgenommenen Bildern ist am Heck des Autos ein Werkstattkennzeichen erkenntlich, das sich später als Fälschung erweist. Eines der vor dem Juweliergeschäft geparkten Poli­zeifahrzeuge nimmt die Verfolgung in der vom ‚Fotografen’ beschriebenen Richtung auf. Die Beamten entwaffnen die Kundin und legen ihr Handschellen an. Sie wird in ein Polizei­fahrzeug verfrachtet. Über Funk erfährt der Einsatzleiter vor Ort, dass der gesuchte Wagen angehalten und der Lenker verhaftet werden konnte. Auch dieser befindet sich auf dem Weg nach Scotland Yard.
 
Montag, 10. August 2009, 09.00 Uhr   
New Scotland Yard, im Volksmund häufig nur The Yard genannt, ist das Hauptquartier des Metropolitan Police Service. Das Gebäude liegt in einer Seitenstraße der Victoria Street im Londoner Stadtteil City of Westminster.
 
Im Konferenzraum im vierten Stock tagt das Krisen- und Ermittlungsteam im Kriminalfall ‚Graff Juwelenraub’.
 
Police Chief Superintendent Paul Nash führt den Vorsitz. Er fasst die Ereignisse des Vormittags am 6. August zusammen. Seine Ausführungen hält er auf einem Flipchart fest.
„Also, was haben wir in diesem Fall – mit Ausnahme der Täter? Zwei Männer betreten die Verkaufsräume von Graff Diamonds. Sie tragen keinerlei Verkleidung. Wie uns aufgrund der von Überwachungskameras aufge­nommenen und veröffentlichten Bilder von einem Visagistenstudio mitgeteilt wird, hatten die Täter professionelle Latexmasken anfertigen lassen. Innerhalb weniger Minuten nimmt ein Täter Schmuckstücke im Wert von ₤ 40 Millionen an sich und verlässt das Geschäft. Er flüchtet nach einer gut ins­zenierten, dubiosen Autoversteigerung in einem Ford Escort. Aufgrund einer Zeugen­aussage nimmt ein Einsatzfahrzeug die Verfolgung auf. Parallel läuft eine Alarm­fahndung. Ein völlig Ahnungs- und Schuldloser wird im Auto verhaftet. Der Täter ist inzwischen bereits ausgestiegen und unter­getaucht. Ähnlich ergeht es Mrs. Adelaide Goldson, einer Kundin aus Amerika, die mit einer Pistole in der Hand vor dem Geschäft von Polizisten verhaftet wird. Sie hat in ihrem Schreck einen Schuss abgegeben. Die Waffe war, wie sich später herausstellte, bloß mit Platzpatronen geladen. Wir sehen uns mit einer dringlichen Anfrage der jüdischen Kultus­gemeinde in dieser Angelegenheit konfrontiert. Der Rüffel des Innenministers steht schon im Raum. Die Täter, über deren Aussehen wir im Dunklen tappen, konnten samt der Beute unerkannt entkommen. Nun sind wir auf Detektiv Zufall angewiesen. Vielleicht machen die Kriminellen einen Fehler beim Verkauf. Die geraubten Preziosen sind ob ihres Wertes nicht leicht abzusetzen. Nach unserem Wissens­stand wird höchstens ein Viertel des Wertes bezahlt. Beste Absatzmöglichkeiten finden sich im Fernost-Bereich.“
Die Konferenz dauert bis Mittag ohne weitere Ergebnisse.
 
Rosenmontag, 15. Februar 2010, abends
„Und welche Verkleidung hast du gewählt?“, fragt der Mann im Taxi seine Begleiterin. „Ich kann nichts von deinem Kostüm unter dem neuen, langen Nerz erkennen.“
„Lass dich überraschen, Darling. Übrigens: Das war ein sehr schönes Weihnachts­geschenk, dieser Nerzmantel. Ich habe ihn mir sehnsüchtig gewünscht. Ganz bodenlang, dass er halt gerade nicht schleift. Ich werde in meiner Verkleidung dem Motto des Festes treu bleiben: ‚Südseeträume’.“
 
Nach kurzer Fahrt erreichen sie das Ziel. Es ist die geräumige Wohnung eines befreundeten Paares, wo ein Kostümfest zu Fasching­ausklang gefeiert wird. Die Zimmer sind bereits voll mit einer bunten Gästeschar. Es wird zu CD-Musik getanzt, die Stimmung ist ausgelassen.
 
Die Neuankömmlinge werden von der Haus­frau ins Badezimmer gebeten, um sich zurechtmachen zu können. Der Mann staunt nicht schlecht. Sein Mädchen erscheint im sexy Hula-Look mit total verändertem Gesicht. Dieses hübsche Ding verbirgt das Antlitz unter einer Latexmaske, die offensichtlich nicht zu der Gesichtsgröße passt.
 
„Das hast du doch gar nicht nötig, dich so herzurichten“, kritisiert der Mann die Maske des Mädchens. „Wo hast du diese her?“
 
„Während deiner jüngsten Asienreise habe ich im Vorzimmerschrank gekramt und ganz hinten dieses Ding gefunden. Ich habe ge­dacht, es wäre ganz lustig, diese beim heutigen Fest zu tragen. Übrigens, bald ist Mitternacht, und die Masken fallen dann sowieso!“
 
Ein weiterer zufälliger Gast blickt auf das Hula-Mädchen. Es ist Cliff Brown, der dem Polizeiermittlungsteam im Fall Graff Juwelen­raub zugeteilt ist. Er sieht unverwandt auf die Latexmaske und zieht die Stirn nachdenklich in Falten.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.04.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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