Sven Eisenberger

“Frankfurter Kranz“ Revisited

Und wieder ein Geburtstag... “Beehrt uns F.K. auch mit seiner Anwesenheit?” “Selbstverständlich, mein Junge, ich weiß doch, wie lieb er dir ist!” Nein, hinter dem geheimnisvollen Kürzel verbarg sich weder der Autor der "Verwandlung", noch handelte sich um einen kumpelhaften und bei Festtagen gern gesehenen, weil begnadeten Erzähler von Anekdoten und Witzen, sondern schlichtweg um einen Kuchen, dessen Opulenz allerdings in einem Maße legendär geworden war, dass familienintern auch gerne einmal die geladenen Gäste despektierlich als “Bombenräumkommandos” apostrophiert wurden.
Unter den kulinarischen Sprengsätzen der großmütterlichen Küche nahm der sogenannte “Frankfurter Kranz” stets den ersten Rang ein. Gemeinhin als freudig empfundene Ereignisse wie Familiengeburtstage gerieten durch seine unvermeidliche Anwesenheit zu Anlässen äußerster nervöser Anspannung und fieberhafter Suche nach den Überresten der familiären Reiseapotheke. In allen Teilen der Verwandtschaft das gleiche Bild: präventiver Alarmzustand, Generalmobilmachung und ein trotziges “Soll er ruhig kommen, der Lorbas!”. Jahrelange Erfahrungen sprachen indes eindeutig dagegen, dass sich sich das dräuende Unheil diesmal vermeiden und die schmachvolle Kapitulation nach dem "Kampfeinsatz an der Kaffeetafel" vermeiden ließe. Selbst gestandenen Mannsbildern mit scheinbar unverwüstlicher körperlicher Konstitution wie meinem Vater war die Verzweiflung angesichts des bevorstehenden kalorischen Sturmangriffs mit erwartet hohen Verlusten auf eigener Seite anzumerken.
Sich nicht wenigstens ein Stück des Butterbollwerks einzuverleiben, galt als ehrenrührig und Affront gegen die wohlmeinende Backfee. Neben den Details ihrer Flucht aus Ostpreußen und ihrer Beziehung zu Hans, der geisterhaft auch noch 50 Jahre nach seinem Tod in den russichen Weiten bei jeder Festtafel zugegen war, blieben die tatsächlichen Zutaten jener “Wirtschaftswunderwaffe” stets ein wohlgehütetes Geheimnis meiner Großmutter. Nach nur einem Stück dieses unscheinbar wirkenden Backwerks brauchte es mindestens einen hurtig servierten Slivovitz, um der instantan folgenden Verklumpung des Magentrakts vorzubeugen. Wer es heldenhaft vermochte, ein zweites Stück zu verzehren, fiel unmittelbar darauf in ein mehrstündiges Koma, welches mitunter so plötzlich einsetzte, dass selbst das nur drei Meter entfernte, rettende Sofa nicht mehr erreichbar war. In aller Regel erwachte man aus jenem Dämmerzustand, dieser etwas anderen Reise zum Mittelpunkt der Erde, erst wieder, wenn des Abends der Ruf zur reich gefüllten Schnittchen-Platte erschallte. “Ich weiß doch, dass ihr schon wieder Hunger habt. Jetzt gibt´s zur Abwechslung mal was Leichtes!”
Vor allem die jüngeren Mitglieder einer nicht nur gelittenen, sondern punktuell sehr wohl geachteten Verwandtschaft ergaben sich delirierend in ihr Schicksal, spätere Erfahrungen zügelloser Drogenexzesse bereits vorwegnehmend. Derweil zeigten die älteren Herr- und Frauschaften eine bis heute unerklärliche Resistenz gegen die narkotisierenden Folgewirkungen des Kuchenverzehrs. Ein rüstiger Fernfahrer brachte es gar auf drei heiß verschlungene Stücke in Folge, ohne erkennbare Ausfälle oder Anzeichen von Schwäche. Mein bester Freund kommentierte ähnliche Beobachtungen im Wirkungskreis großmütterlicher Kochkünste einst mit dem denkwürdigen Satz: “Wer keinen WK-II-Magen besitzt, hat kaum eine Chance zu überleben.” Einer abenteuerlichen Überlieferung zufolge soll unter Militärhistorikern gar unausgesprochener Konsens darüber bestehen, dass der Krieg eine andere Wendung genommen hätte, wäre der F.K. doch noch als Vergeltungswaffe zum Einsatz gekommen.

Kultur- und medizinhistorisch ist die gesellschaftliche Relevanz des “Frankfurter Kranzes” bislang ein blinder Fleck geblieben. Auch im Bereich der Erforschung kollektiver Traumata sucht man vergebens nach erhellenden Forschungsansätzen. Dabei ist unstrittig, dass dieses Meisterwerk deutscher Backkunst in der Vergangenheit keineswegs eine geringere Zahl an Opfern gefordert haben dürfte als die “Spanische Grippe” nach dem Ersten Weltkrieg. Fama est, dass am Grabmal des unbekannten Geburtstagsgastes unweit eines Herforder Seniorenstifts bis auf den heutigen Tag alljährlich ein plastikumschalter Frankfurter Kranz niedergelegt wird.
Nach langen, zähen Verhandlungen und einigen Sternstunden familiärer Diplomatie war es uns gelungen, meine Großmutter wenige Jahre vor ihrer Zwangsdeportation in ein Pflegelager, für das den Insassen zu allem Übel auch noch exorbitante Kontributionszahlungen abgepresst wurden, tatsächlich für eine neue Herausforderung zu gewinnen. Fortan kredenzte sie auf Familienfeiern stolz ihre Backinnovation: Marmorkuchen im Schokoladenmantel. Ein vergleichsweise schlichtes und bescheidenes Backerzeugnis, welches nach allgemeinem Dafürhalten jedoch frei von jeglichen Nebenwirkungen war. Epochenwende – die letzten Ausläufer der “Freßwelle” (als Quellenbegriff in alter Schreibweise) waren überwunden, und man hatte auch in dieser Familie die “bewusste Ernährung” entdeckt.
Lieber F.K., ich kann nicht behaupten, dass ich dich vermisse, aber schön war es doch, denn ich verdanke dir so viele unvergessliche Momente!

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.04.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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