Marion Metz

Die Geschichte des Geschenks

„Oooooomaaaaa!!! Wo bist duuuuuuuu?“, rief die kleine Selin. Heute war ihr Ehrentag. Sie beging ihren sage- und schreibe vierten Geburtstag und fühlte sich als Kindergartenkind uralt und unfassbar weise. Nur ihre Oma, mit der sie Verstecken spielte, die war scheinbar noch ein wenig schlauer als sie. Zumindest beim Verstecken. Oma gab zur Unterstützung kurze, krächzende Piepsgeräusche von sich, so dass es nicht lange dauerte, bis sie von Selin gefunden wurde. Ausgerechnet liegend in der Badewanne, aus der sie nur mit Hilfe ihrer quirligen Enkelin ächzend und stöhnend wieder herauskrabbeln konnte.
„Nochmal! Nochmal!“, rief Selin begeistert und klatschte in die Hände. Doch Oma winkte ab.
„Später vielleicht, ich muss erst meine alten Knochen wieder ordentlich sortieren!“
Selin betrachtete ihre Oma mit einem prüfenden Blick und erwiderte:
„Die sind doch schon alle da wo sie hin gehören! Nichts ist verrutscht, Oma! Komm! Nochmal bitte, bitte….“, flehte sie und setzte ihren liebreizendsten Blick ein.
Doch Oma war wirklich schlau und kannte die Kraft der Ablenkung, so fragte sie Selin mit ihrer meisterhaften Abenteuer-Stimme:
„Möchtest du nicht dein Geschenk erst auspacken? Ich bin schon sooo auf die Geschichte des Geschenkes gespannt!“
„Welche Geschichte?“, fragte Selin perplex und Omas Plan ging im Nu auf. Die gesamte Aufmerksamkeit des Mädchens zentrierte sich nun auf das Geschenk und nicht mehr auf das Versteck-Spiel.
„Jedes Geschenk hat eine Geschichte. Manche sind gut, manche traurig, es gibt sogar richtig lustige Geschichten. Was meinst du? Welche Geschichte sollte dein Geschenk haben?“
„Natürlich eine superhasenwundergute!“, rief Selin begeistert, nahm das Geschenk entgegen, das Oma wie von Zauberhand plötzlich in ihren Händen hielt.
Selin riss die Verpackung auf und hielt in ihren Händen ein „Malen nach Zahlen“- Bild, das fröhlich spielende Delphine im Meer zeigte. Sie drückte es an ihr Herz und umarmte stürmisch ihre Oma.
„Oma!!! Wie schön!!! Delphine!!!! Meine Lieblingstiere!!! Daaaaaaaanke, liebe Omili!“, rief Selin begeistert und herzte und küsste ihre Oma, bis diese eine völlig neu geartete, ein wenig zerzauste aber dennoch jugendlich wirkende Frisur hatte.
„Na, da bin ich aber froh, dass mein Geschenk eine fröhliche Geschichte hat!“, lachte Oma zufrieden.
„Wieso fröhliche Geschichte? Das Bild erzählt doch gar nichts?“, hinterfragte Selin stirnrunzelnd.
„Die Geschenke mit traurigen Geschichten landen zumeist im Regal und werden nicht weiter beachtet, geschweige denn genutzt. Wobei traurig nicht das richtige Wort ist, denn das Geschenk das bei dir im Regal landet, bedeutet vielleicht für ein anderes Kind das höchste Glück und die höchste Freude. Es ist eine wundersame Sache mit den Geschenken. Selbst mit Sachen, die man sich lange sehnlichst wünscht und dann endlich geschenkt bekommt, kann es passieren, dass sie dennoch im Regal landen und verstauben. Von Sachen, an die man niemals gedacht hätte, dass sie einem Freude bereiten und man sie auf Umwegen geschenkt bekommt, wird man vielleicht durch das ganze Leben begleitet. Ein Geschenk erzählt dir immer eine Geschichte über dich. Und zwar nur über dich und niemand anderen. Die Delphine hier zum Beispiel, setzt du dich noch heute hin und beginnst es auszumalen, oder stellst du es erst einmal ins Regal?“, fragte Oma wissbegierig.
„Ich fang sofort damit an, Oma!“, rief Selin voller Feuer und Flamme.
„Also erzählt dir dieses Geschenk eine Geschichte über dich. Es erzählt dir, dass du Delphine liebst und dass malen dir Freude bereitet. Es erzählt dir, dass du gerne etwas mit deinen Händen machst und dass es dir leicht fällt, dich darauf zu konzentrieren. Würde das Geschenk im Regal landen und verstauben hätte es eine andere Geschichte für dich. Dann würde dir das Geschenk erzählen, dass du dich mit Delphinen nicht sehr verbunden fühlst und du vielleicht eher ein Denker und Träumer statt eines Malers bist. Gleichwohl welche Geschichte dir ein Geschenk erzählt, jede Geschichte ist Gold wert, denn sie verrät dir, was dir Freude macht und was nicht.  Wenn ich eines gelernt habe, liebe Selin, dann dass du immer deinem Herzen, der Freude folgen sollst. Achte gut darauf, was dir deine Geschenke erzählen. Diejenigen, die im Regal landen sind ebenso wertvoll, denn sie zeigen dir auf, was nicht zu deinem Weg gehört“, erklärte Oma, zog Selin auf ihren Schoß und schaute ihr tief in die Augen.
„Was ist das größte, tollste und beste Geschenk, das es gibt, Oma?“, fragte Selin nachdenklich.
„Das größte, tollste und beste ist das allererste Geschenk!“, erwiderte Oma schmunzelnd.
„Was ist das allererste Geschenk?“, fragte Selin und ihre Stirn überzog sich mit extra großen Denkerfalten.
„Als du noch reiner Geist und Seele warst, bist du zu Gott gegangen und hast ihn um ein Menschenleben gebeten. Offensichtlich hat er dich mit einem Menschenleben beschenkt, so dass du jetzt auf meinem Schoß sitzen und ich dich streicheln und liebkosen kann. Das war das allererste Geschenk.“
Selin dachte angestrengt nach und bildete Oma es sich nur ein, oder stiegen tatsächlich kleine Rauchwölkchen aus Selins Kopf in die Höhe?
„Und was ist die Geschichte zu meinem ersten Geschenk?“, war die nächste neugierige Frage.
„Die Geschichte deines ersten Geschenks wird dein ganzes Leben lang fortgeschrieben und entwickelt sich durch die vielen, kleinen Geschenke, die du entweder freudig nutzt oder ins Regal stellst“, erklärte Oma und wartete gespannt auf die nächste Frage. Kinderfragen waren für sie eines der schönsten Geschenke, denn sie brachten ihr die Schönheit und Reinheit jeder Seele nahe.
Wieder dauerte es geraume Zeit und Oma war sich nun sicher, dass wahrhaftig Rauch aus dem Köpfchen aufstieg. Wenn Selin angestrengt nachdachte, kaute sie auf ihrer Unterlippe und kurz bevor sie schon ganz abgekaut war, riss sie den Kopf hoch und rief erschrocken:
„Was ist, wenn ich sterbe? Muss ich dann das Geschenk zurückgeben?“
„Dann wäre es kein echtes Geschenk, Selin. Echte Geschenke muss man niemals nie nicht zurückgeben. Echte Geschenke teilt man mit seinen Lieben. Wenn du irgendwann in vielen, vielen Jahren einmal stirbst, dann wirst du von deinen Seelengeschwistern, deinem himmlischen Papa und deiner himmlischen Mama voller Freude empfangen, liebkost und geherzt. Wenn sich alle ein wenig beruhigt haben, bilden sie einen Kreis um dich und hängen voller Neugier an deinen Lippen, damit sie auch ja keines deiner Worte verpassen. Es ist mucksmäuschenstill und sogar die Hosianna-Engel hören zu singen auf, damit selbst die Quelle – Gott höchstpersönlich - deinen Worten lauschen kann. Dann beginnst du zu erzählen, erst langsam und dann immer schwungvoller und malst mit den schönsten Farben und Tönen eine wundersame, einzigartige Geschichte. Es ist die Geschichte deines allerersten Geschenks!“
 
          
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.05.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Zwei himmlische Gefährten von Marion Metz



Lilly Nett ist ein überaus durchschnittlicher Mensch und Lichtjahre davon entfernt, sich selbst bedingungslos zu lieben. Sie fühlt sich zu dick, ihr Mann ist nur die zweite Wahl und grundsätzlich entpuppt sich ihre Supermarktschlange als die längste. Ihr Alltag gleicht der Hölle auf Erden. Lillys Seele schickt ihr beständig Zeichen, doch ihr Ego verhindert vehement, dass Lilly Kontakt zu ihrem inneren Licht findet. Bis ein einschneidendes Erlebnis den Wandel herbeiführt und sie wie Phoenix aus der Asche neu aufersteht: Geliebt, gesehen, vom Leben umarmt.

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