Anita Voncina
Eine Vorgangsbeschreibung
Die Frühlingssonne schien durch die weit geöffneten, hohen Fenster des Klassenzimmers der Mädchen aus der 7c, als die Blätter für die Schulaufgabe im Fach Deutsch ausgeteilt wurden. Die Lehrerin, eine Nonne des Schulschwesternordens, der das Mädchengymnasium unterhielt, hatte dabei keine Eile und schenkte den aufgeregten Schülerinnen ein aufmunterndes Lächeln. Als schliesslich alle der gekennzeichneten Blätter verteilt waren, durchschritt sie gemächlich wieder den Gang zwischen den mittleren Tischreihen und schrieb dann das Thema der Arbeit an die Tafel:
Vorgangsbeschreibung:
“Wie man/wie ich…
etwas macht/mache beziehungsweise etwas herstellt/herstelle.”
( z.B. ein Fahrrad reparieren, den Hasenkäfig säubern, eine Pflanze umtopfen)
Und dann war es Zeit für die Schülerinnen mit dem schreiben zu beginnen. Auch für Beate, die dieses Fach liebte, und auch diese gütige Nonne, die ihr jedesmal anerkennend zunickte, wenn das Mädchen einen klugen Beitrag zum Unterricht geleistet hatte oder eine gute Note zurückbekam. Heute hatte Beate die Idee für ihren Aufsatz sogar schon vollkommen klar im Kopf, sie schraubte die Kappe von ihrem Füller und begann:
Die Schulglocke klingelt zur vierten Stunde. Die Türe zum Klassenzimmer wird aufgerissen, unser Religionslehrer, Studienrat Zirner, stürmt mit langen Schritten herein, wirft die Türe hinter sich mit einem krachenden Geräusch wieder ins Schloss, und steuert auf das Lehrerpult zu. Dort lässt er seine braune, abgewetzte Ledertasche auf das Holz fallen und legt seine Bibel, gross, dick und mit dunkelgrünem Ledereinband daneben. Es ist sehr still im Klassenzimmer, denn wir alle fürchten uns vor der schlechten Laune, die dieser Lehrer immer hat.
Dann beginnt das Abfragen des Stoffes aus der vergangenen Stunde. Studienrat Zirner, den wir Schülerinnen unter uns nur “Stuzi” nennen, nimmt dazu stets seine Bibel zur Hand, bellt dann seine erste Frage ins Klassenzimmer, und wirft unmittelbar danach das schwere Buch, in hohem Bogen über unsere Köpfe hinweg, auf irgendeinen unserer Schreibtische. Ob er diesen vorher ausgewählt hat oder alles dem Zufall überlässt, konnten wir bisher noch nicht herausfinden. Dort irgendwo landet Stuzis Bibel dann mit einem lauten Klatschen, rutscht meist noch ein wenig weiter über die glatte Kunststofffläche hinweg, bis sie schliesslich von einer der Schülerinnen rechtzeitig abgefangen werden kann, oder ungebremst an deren Oberkörper prallt. Und dieses Mädchen muss dann auch die gestellte Frage beantworten.
Viele von uns sind wegen dieses Bibelwerfens immer ganz besonders aufgeregt und geben dann aus diesem Grund auch nicht die richtige Antwort. Und dann beginnt das Toben des Lehrers, er schimpft und schreit, öffnet dabei das Notenbuch, vermerkt eine entsprechende Bewertung, verlangt anschliessend sein Buch zurück, und der Vorgang beginnt dann von neuem.
Als die Bibel in ihrem Flug eines Tages schliesslich Kurs auf mich nimmt, mit grosser Geschwindigkeit über meinen Tisch hinwegrutscht und mir ungebremst, mit grosser Wucht und deutlich spürbar in den Schoss fällt, wird mir klar, dass ich auf die gestellte Frage keine Antwort weiss. Ich bin für einen winzigen Moment verzagt, doch dann spüre ich, wie plötzlich grosse Empörung in mir aufzusteigen beginnt. Und so ergreife ich das schwere Buch in meinem Schoss mit beiden Händen, erhebe mich von meinem Stuhl, nehme mein auserkorenes Ziel so genau wie möglich ins Visir, und schleudere es mit aller Kraft in Stuzis Richtung. Dort trifft es, nachdem es zuerst eine halbe Drehung um die eigene Achse gemacht hat, mit dem Buchrücken voran, die Stirn des Lehrers. Knapp über seinen Brillengläsern, jedoch noch unterhalb seiner mit Pomade gezügelten, dunklen Haartolle.
Anschliessend geht alles sehr schnell vor sich. Der Studienrat gerät ins Wanken, seine ausgestreckten Arme suchen vergeblich nach Halt, und er versinkt schliesslich im freien Raum zwischen Lehrerpult und Tafel. Nach dem Krach, den sein Fallen verursacht, entsteht anschliessend für eine ganze Weile lang eine absolute Stille. In der meine Mitschülerinnen wohl den Atem anhalten, mein Lehrer regungslos ausgestreckt am Boden liegt und ich selbst versuche einen klaren Gedanken zu fassen.
Nachdem Beate schliesslich am Ende ihres Aufsatzes angekommen war, verschraubte sie in aller Ruhe ihren Füller, legte ihn zurück in ihr Federmäppchen und begann dann, ihren Aufsatz noch einmal aufmerksam durchzulesen. Als sie auch das beendet hatte, dabei noch ein paar fehlende Kommas eingesetzt und einen Rechtschreibfehler ausgebessert hatte, bemerkte sie, dass sie in ihrem Eifer bisher vergessen hatte, eine passende Überschrift über ihren Text zu schreiben. Also schrieb sie schnell noch
“Wie man einen Religionslehrer zu Fall bringt”
auf die erste Seite des Blattes und unterstrich die Zeile anschliessend säuberlich mit grüner Tinte. Und dann klingelte auch schon die Schulglocke und es war Zeit die Arbeiten abzugeben.
Als die Schulaufgaben in der nächsten Deutschstunde ausgeteilt wurden, begann Beate sich langsam Sorgen zu machen, denn als nach den Einsern und den Zweiern nun auch noch die Dreier zu Ende verteilt waren, hatte sie ihre Arbeit noch immer nicht zurückbekommen. Und erst als auch die Arbeiten mit der Note 5 schliesslich zurückgegeben worden waren, sah Beate ihre Lehrerin nun auf ihre Bank zuzusteuern und erkannte ihre Schrift auf dem einzigen Blatt, das diese noch in der Hand hielt. Die Nonne begegnete Beates Blick mit gewohnter Wärme, doch auch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine leuchtend rote und gut sichtbare Sechs auf Beates Arbeit stand. Und darunter auch gleich die Erklärung “Themaverfehlung!”.
Aber als die Lehrerin das Blatt vor das Mädchen auf den Tisch gelegt und sich danach schon beinahe wieder umgedreht hatte, bemerkte Beate plötzlich ein kleines, belustigtes Lächeln in deren Gesicht. Und konnte sich diese Beobachtung erst Wochen später erklären, als man sich in der Schule darüber zu wundern begonnen hatte, warum Studienrat Zirner so urplötzlich seine so lange praktizierte Vorliebe für das Bibelwerfen aufgegeben hatte.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.05.2016.
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