Hans Fritz

Das Lied vom Krellaberg

Friedbert und seine Gäste

Friedbert Zieselacker, der gelernte Gartenarchitekt, ist als Beamter der Stadt Krellstedt Beauftragter für Natur- und Landschaftsschutz. Seine Wohnstätte ist die in ein Felsmassiv gehauene Achimklause, zu erreichen mit einem Waren- und Personenlift. Vor sechs Jahren hatte er die Felsenklause dem Unternehmer Achim Miller mit einem sehr bescheidenen Erbschaftskapital mehr abgeluchst als abgekauft.

Ilse Menning, Abteilungsleiterin in einem Möbelgeschäft, war bis vor Kurzem Friedberts Lebensgefährtin. Im weitesten Sinne ist sie das noch insofern, als sie Friedbert viermal in der Woche heimsucht und bei der Instandhaltung der Klause unbezahlte Hilfestellung leistet.

Heute erwarten Friedbert und Ilse Gäste. Es sind der Kleinverleger Ludger Poschweiler und seine Frau Evelyn, die Musikpädagogin. Sohn Martin kommt nicht. Er hat vor Kurzem sein Jurastudium in Heidelberg angetreten und ist 'zur Zeit nicht abkömmlich', wie er es formuliert. Die ebenfalls längst dem Elternhaus entwachsene Tochter Barbara lebt zur Zeit in München.

Die Poschweilers und Zieselacker-Mennings haben sich vor zwei Jahren in der Kneipe Ballermanns Keller auf Mallorca kennengelernt und geschworen, sich in nicht allzu ferner Zukunft in urheimatlichen Gefilden gegenseitig zu besuchen. Die Zeit läuft und läuft und nun ist es endlich soweit. Friedbert hat die Einladung verschickt und Evelyn antwortet prompt. Nächsten Freitag Abend ist der Besuch fällig.

Friedbert empfängt seine Gäste unten bei der Parknische, wo sie ihr schickes Cabrio neben seinem altertümelnden Van abgestellt haben. "Mehr als 650 Kilo werden wir drei nicht auf die Waage bringen", meint Ludger, der immer zu Scherzen aufgelegt ist, als er das Schild an der Lifttür betreffs zulässiger Höchstlast liest. "Deine Handtasche, Evelyn, hat ja schätzungsweise nur fünf Kilo." "Na, Ludger, dein Rosenstrauss hat ja höchstens ein halbes Kilo", meint Evelyn. "Der Strauss ist für Ilse", sagt Ludger. "Oh, der ist aber schön, da wird sie sich freuen", lobt Friedbert. "Sie ist schon oben und erwartet euch voller Sehnsucht. Sie hat etwas extra Feines gekocht, wie ich sie kenne. Lasst euch überraschen."

Im Wohnraum rücken sie die hochlehnigen Stühle an einen rustikal gestylten Tisch, der mit einer schlichten Plastikdecke bezogen ist. "Abwaschbarkeit ist hier Trumpf", erklärt Friedbert, als Evelyn mit zwei Fingern vorsichtig über die Decke streicht. "Weder Ilse noch ich sind Experten in Sachen Tischdeckenwäsche." "Und erst das Bügeln", seufzt Ilse auf. "Oh, ich kenne das", bestätigt Evelyn.

Ilse hat gerade ihr Gedicht von Ragout aufgetragen, als von draussen eine Musik ertönt. Eine schöne, ansprechende Melodie, untermalt mit dumpfen Paukenschlägen. Fast wie ein heiterer Festmarsch. "Kommt von dort drüben, aus dem Krellaberg, jeden Abend um diese Zeit, exakt vier Minuten lang", erklärt Friedbert. "Das Blasinstrument, das da deutlich herauszuhören ist, ist eine Schalmei", sagt Kennerin Evelyn. "Eigentlich sind diese Instrumente heute nur noch selten zu hören, im Orchester fast gar nicht. Es wäre interessant herauszufinden wer da so schön bläst. Schalmeienklänge verzaubern die Romantik einer Abendstunde." "Kann ja als Nostalgiekonserve von einem Band kommen", meint Ludger.

"Dort drüben im Krellaberg geht es nicht mit rechten Dingen zu", spricht Ilse mit geheimnisvollem Unterton und nippt an ihrem absolut stillen Mineralwasser. "Da soll sich eine Sekte einquartiert haben. Es geht um Leute, die sich Renegaten nennen und auf eine Erlösung von aller irdischer Drangsal hoffen. Ausserdem glauben sie fest daran, dass der Weltuntergang unmittelbar bevorsteht. Kenner der städtischen Kulturszene platzieren sie in einem sozial-revolutionären Feld." "Schön hast du das gesagt, Ilse", schmeichelt Ludger. "Das habe ich so in der Sonntagsbeilage unserer Zeitung gelesen", gesteht Ilse. "Da sieht man's wieder: Zeitungsleser wissen eben doch mehr", scherzt Ludger. "Aber allen Ernstes, wie kamen die Sektierer in den Berg? Die Einfahrten zum alten Eisenbahntunnel wurden meines Wissens vor vielen Jahren zugemauert." "Es gibt am Ostende des Tunnels einen schmalen, gut bewachten Einlass, der allerdings nur für Geübte über eine baufällige Stiege zugänglich ist", erklärt Friedbert. "Für Warenanlieferungen und das Herausschaffen von Abfällen gibt es am Ende des Fahrwegs ein noch strenger bewachtes Tor. Vor zwei Jahren wurde ein weites Areal um und auf dem Berg zum Sperrgebiet erklärt." "Ja, nachdem allerlei dunkle Gestalten dort ihr Unwesen trieben und Wanderer erschreckten", ergänzt Ilse und berichtet weiter: "Mehr als zweihundert Personen sollen im Berg hausen und zwar überwiegend in einem riesengrossen Saal, der von der Nordseite des früheren Eisenbahntunnels über einen langen, niederen Gang erreichbar ist. Da war bis in die Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts ein Silberbergwerk." "Woher weisst du das alles, Ilse?" fragt Evelyn. "Eine Freundin hat sich vor ein paar Wochen unbemerkt aus dem Reich der Renegaten davonschleichen können. Bei einer halben Literflasche Merowinger Kaltlese hat sie bei mir zu Hause Geheimnisse des Lebens im Berg ausgeplaudert. Wie ihr die Flucht gelungen war, mochte sie mir nicht erzählen, wollte wahrscheinlich nicht an Einzelheiten erinnert werden. Muss jedenfalls eine abenteuerliche Geschichte gewesen sein. Könnte in einer Abfalltonne geschehen sein, die von Zeit zu Zeit nach draussen geschafft und von Wächtern in eine ausbetonierte Grube entleert wird. Klingt insofern unwahrscheinlich, als die Wächter eine Flucht aus der Tonne sofort bemerkt hätten. Ausserdem trugen sie Schusswaffen." "Ja die Friedensapostel - militant und immer schussbereit", kommentiert Ludger. "Kannst du auch etwas über die Innenausstattung des Saals sagen, Ilse?" fragt Evelyn. "Es gab dort genügend Licht, aus welcher Quelle, konnte Alina, so heisst nämlich die Freundin, nicht herausfinden. Sie wusste etwas von Biolumis -" "Biolumineszenz -" korrigiert Friedbert. "Leuchtende Bakterien oder Pilze dürften aber nicht mal zum Zeitunglesen genügend Licht geliefert haben", meint Ludger. "Sagtest du Alina, Ilse?" fragt Evelyn. "Ja, Alina", bestätigt Ilse. "Da gab es doch neulich im lokalen Fernsehen ein Interview mit einer Aussteigerin aus der so genannten Krellaszene", erinnert sich Evelyn. "Ja das ging über sie. Alina ist ihr Pseudonym, das sie sich schon zu Schulzeiten zulegte, als sie mit dem Schreiben von Kindergeschichten begonnen hatte. In Wirklichkeit ist sie eine Henriette Nerdlinger." "Wie dem Interview zu entnehmen war, war der Hauptgrund ihres Ausstiegs das Ausüben seltsamer Rituale der Renegaten, wobei es teilweise recht blutig zugegangen sein soll", fährt Evelyn fort. "Mehr enthielt der Bericht nicht." "Viel mehr als in dem Blatt zu lesen war hat mir Alina auch nicht verraten", sagt Ilse. "Aber eines ist mir im Gedächtnis geblieben. Nämlich dass Mahlzeiten auf grauen Schieferplatten gereicht wurden -" "Aber das ist doch nicht ungewöhnlich, das wird doch in manchen unserer Landgasthöfe als besonderer Knüller angeboten", meint Evelyn. "Ich finde das zumindest komisch", sagt Ilse. "Ausserdem sollen einige Leute davon krank geworden sein". "Das war doch hoffentlich kein Ölschiefer? Denn der wurde vor hundert Jahren zur Gewinnung von Steinöl im oberen Krellagebiet abgebaut", bemerkt Ludger. "Das weiss ich nicht, aber die Renegaten sind wohl vor nichts zurückgeschreckt." "Der Abbau von Ölschiefer muss sehr aufwändig und dazu unergiebig gewesen sein", bemerkt Friedbert. "Hast du noch Kontakt zu deiner Freundin, Ilse?" fragt Evelyn. "Nein, sie lebt jetzt ganz zurückgezogen irgendwo in den Bergen. Ich habe nicht einmal ihre Anschrift und im Telefonverzeichnis ist sie nicht aufgeführt." "Selbst eine Recherche im Internet hat nichts gebracht", ergänzt Friedbert.

"Was geschieht mit Verstorbenen, werden die von Wächtern nach draussen geschafft wie der Müll?" möchte Evelyn wissen. "Verstorbene werden in einer Krypta unterhalb des Saals unter sonderbarem Kult beigesetzt", glaubt Ilse zu wissen. "Auf der Allmendweide oberhalb des Saals wurden kürzlich beim Aushub des Grabens für die neue Gasleitung menschliche Skelette gefunden", weiss Friedbert. "Ach, diese abgelutschten Knochen kamen doch in jeder Tageszeitung x-mal zur Sprache", sagt Ludger. "Altersbestimmungen haben ergeben, dass das Gebein gut dreihundert Jahre in der Erde lag, kann also nicht von unseren Renegaten stammen."

Kurz vorm Abschied wirft Evelyn einen Blick auf die Anrichte neben dem Bauernschrank. "Da liegt eine Pistole, Friedbert -" "Ja ja, zur Sicherheit. Habe sie vor zwei Wochen entsichern müssen, als ich gegen Mitternacht nach Hause kam und vorm Lift sich zwei Gestalten in sehr abgetragenen, grauen Kapuzenmänteln breit machten und hämisch lachten. Beim Anblick der Waffe suchten sie zu ihrem und meinem Glück schleunigst das Weite." "Tja, die Welt ist schlecht und wird immer schlechter", schimpft Ilse.

 

Bekenntnis

Fünf Wochen später treffen Friedbert und Ilse bei den Poschweilers zum Gegenbesuch ein. Friedbert überreicht der Frau des Hauses einen Riesenstrauss weisser Chrysanthemen. Evelyn bedankt sich gekonnt artig, dabei wahrscheinlich bedenkend, dass diese 'Totenblumen' nichts Gutes verheissen mögen. Sie hält viel auf Nomen und Omen, aber auch viel auf Höflichkeit und möchte daher die Gäste nicht mit unbedachten Worten schockieren.

Beim Apéro in der fast luxuriös eingerichteten Wohnhalle berichtet Evelyn: "Ich habe in unserem Stadtarchiv ein wenig gestöbert und stiess auf ein paar ebenso interessante wie merkwürdige Dinge zum Thema Krellaberg." "Lass hören, Evelyn, wir sind ganz Ohr", sagt Friedbert. "Nun, kürzlich drangen wieder ein paar unheimlich anmutende Dinge nach draussen, von wem losgelassen ist nicht bekannt. Da heisst es unter anderem, dass es einen schrecklichen Todesfall gegeben habe. Ein Wächter sei beim Aufstieg im Schacht von einem Schuss getroffen worden und von der Leiter gestürzt. Er habe das nicht überlebt." "Das ist ja furchtbar", sagt Ilse, "davon habe ich nichts gewusst, auch Alina offensichtlich nicht - oder sie hat es mir verschwiegen." "Das ist mir auch völlig neu", sagt Ludger, "aber, zugegeben, mein Interesse an den Krellaberggeschichten ist nicht sehr gross." "Ist etwas über den Todesschützen bekannt?" fragt Ilse. "Nein, denn der Sache wurde, soweit die Unterlagen dazu Einblick gewähren, behördlicherseits wenig Beachtung geschenkt", erklärt Evelyn. "Das ist höchst seltsam", sagt Ilse kopfschüttelnd. "Um dem leidigen Gespräch eine Wende zu geben - ich habe einen Schuss abgegeben", spricht Friedbert. "Was, wie?" schreit Ilse entsetzt auf. "Ja, es war folgendermassen. Ich bestieg um die Zeit wo der schöne Klang einsetzen sollte den Krellaberg von der flachen Nordseite her und ging auf den Schacht zu. Es war zur Zeit des Neumonds. Kaum waren zwei Minuten verstrichen, als die Melodie erklang. Ich ging zum Schacht um hinunterzuschauen. Da leuchtete mir ein grelles, grünliches Licht entgegen. Ich hörte einen Ruf wie 'Halt, nicht weiter, sonst sind Sie des Todes'. Ich ging trotzdem ein Stück weiter, wollte mich nicht einschüchtern lassen, fühlte mich aber dann doch irgendwie bedroht, geriet in Panik und schoss - allerdings in die Luft, ja in die Luft und nicht Richtung Schacht." "Oh Mein Gott!" entfährt es Ilse. Nach einer Weile betretenen Schweigens sagt Ludger: "Panik ist in einer solchen Situation verständlich. Aber es war nur ein Warnschuss, nicht wahr Friedbert?" "Ja natürlich, nur ein Warnschuss. Vielleicht ist im Tunnel just zu dieser Zeit tatsächlich ein Mord geschehen, den man einem willkommenen Schützen, der sich nahe dem Schacht befand, unterstellen möchte." Evelyn scheint Friedbert zu misstrauen und sagt, indem sie die Blumen in eine feuerrote Vase einstellt: "Passt doch alles haargenau. Chrysanthemen und Trauer. Ich glaube der Herr Zieselacker möchte sich nun verabschieden." Ludger schweigt. Friedbert nimmt umständlich seinen Mantel von der Garderobe und geht wortlos nach draussen. "Ich bedanke mich herzlich für die Einladung, möchte nun aber auch gehen", sagt Ilse, darauf Evelyn: "Sollen wir dir ein Taxi bestellen? Unsere Gegend ist im Allgemeinen ruhig, aber nicht immer absolut sicher." "Ja, das wäre nett." Ludger möchte ihr einen Zwanzigeuroschein zustecken, aber sie lehnt ab. Evelyn begleitet sie bis vor die Gartentür, als das Taxi vorfährt. "Ilse, du bist uns jederzeit willkommen, komme doch nach einer Zeit der Besinnung, wenn ich so sagen darf, einmal vorbei." "Ja, mache ich, Evelyn. Danke nochmals, ich glaube in euch habe ich aufrichtige Freunde gefunden. Das Gefühl hatte ich schon bei eurem Besuch in Friedberts Felsenklause bekommen, nein schon damals in Ballermanns Keller."

"Warum hat die Ilse so überreagiert?" möchte Ludger von Evelyn wissen, als die Besucherin ins Taxi gestiegen ist. Evelyn antwortet: "Vor einer Woche traf ich Ilse auf dem Wochenmarkt. Sie machte einen sehr verstörten Eindruck und ich fragte sie nach ihrem Befinden. 'Ach, Evelyn', sagte sie, 'ich hatte gestern eine fürchterliche Auseinandersetzung mit Friedbert.' 'Um was ging es da? Um die Sache mit dem Schuss?' 'Nein, um die routinemässige Wartung des Klausenlifts. Friedbert wollte nicht, dass mein Bruder, ein Automechaniker, sich der Sache annimmt. Eine Firma wurde beauftragt, die für ihre gesalzenen Preise berüchtigt ist." "Wahrscheinlich hatte Friedbert Recht", meint Ludger, "für die Wartung eines Lifts braucht es absolute Spezialisten. Ich frage mich nur, warum sich Friedbert so mir nichts dir nichts davongeschlichen hat, wenn er doch damals nur einen Warnschuss abgegeben und niemanden getroffen hat." "Ich glaube er wollte vermeiden, dass es mit Ilse zu einem höchst unerfreulichen Eklat kam, weil sie ihm nicht glaubt", meint Evelyn. "Mich hat er im Übrigen auch nicht so ganz überzeugt."

 

Exodus

Der Verkehrsverbund möchte die alte, vor fünfzig Jahren stillgelegte Bahnstrecke wiederbeleben. Eine S-Bahn soll nach Bad Langersheim verkehren und den Krellatunnel durchfahren. Die Postbuslinie, die mehrmals täglich den Krellapass überquert, soll as Ergänzung beibehalten werden. Jägergrund soll die Station heissen, die gut 200 Meter vor der Westeinfahrt des Tunnels eingerichtet wird, mit Fahrkartenautomat und Zeitungsspender mit Geldeinwurf. Jagdbares Wild hat es, von ein paar umherstreunenden Wildsäuen abgesehen, hier nie gegeben. Folglich fanden sich auch keine Jäger ein, wenigstens keine echten. Aber den Stadtoberen fällt bezüglich Taufe von Bahnstationen immer etwas Schräges ein.

Für die Renegaten heisst es nun vom Höhlenleben Abschied nehmen. Drei Monate sind nach der Aufforderung den Krellasaal in Bälde zu verlassen vergangen, als die Polizei mit einem Grossaufgebot anrückt. Von ein paar Zwischenfällen abgesehen, soll der Auszug ruhig und geordnet verlaufen sein, steht später in der heimatlichen Presse.

Ein Zug von etwa achtzig Personen schreitet aus dem wieder geöffneten Tunnel. Vorneweg der Schalmeispieler mit der bekannten Weise. Keine Paukenschläge, dafür leises Trommeln aus der Mitte des Zuges.

Eine hochgewachsene Frau mit grünem Barett löst sich aus der Menge und geht auf Friedberts Klause zu. Sie schaut zu ihm hinüber, als er gerade seinen Van abschliesst. Er nickt ihr kurz zu, sagt aber kein Wort. Die Frau kehrt um und reiht sich in den Tross ein. Könnte die Gutholz sein, eine graue Beamtin der Stadtverwaltung. Aber Friedbert ist sich nicht sicher. Nun, was soll's. Das Lied setzt für eine Weile aus. Als es wieder einsetzt, ist es nur noch wie leiser Nachhall aus der Ferne zu hören.

Als Friedbert den Lift besteigen möchte, hasten ihm zwei Leute entgegen. "Hallo, entschudigen Sie", spricht der Mann. "Sie sind doch hier zu Hause?" "Ja, bin ich. Zieselacker mein Name." "Gestatten Ellertöck. Das ist meine Frau. Wissen Sie, unser Sohn, der Gerd, hatte sich diesen Renegaten angeschlossen und zog mit ihnen in den Krellasaal. Wir haben nie mehr etwas von ihm gehört. Unter der Truppe, die in Richtung Stadt marschiert, ist er nicht. Wir dachten vielleicht wüssten Sie etwas über die leidige Krellageschichte und könnten uns irgendwie weiterhelfen. Wir haben schon ein paar Auszügler angesprochen, ein Bild von Gerd gezeigt, aber die sagen nichts." "Kann ich mir gut vorstellen", sagt Friedbert. Tut mir aufrichtig leid, aber über das was im Berg tatsächlich vorging bin ich schlecht informiert. Was ich weiss bewegt sich in der Grauzone wilder Gerüchte, die ich nicht weiter verbreiten möchte."

Am nächsten Morgen berichten die Medien über den Exodus. Nicht so ausführlich, wie es sensationshungrige Leser erwartet haben. Aber das Wesentliche wird im Wesentlichen nicht ausgespart. Insgesamt 96 Personen soll die Polizei registriert haben. Acht Personen mussten aus einem düsteren, ansonsten gut ausgestatteten Nebenraum einer Krypta befreit werden. Über das Schicksal dieser Leute wird eifrig spekuliert. Sie selbst hüllen sich in eisiges Schweigen, das sie nicht einmal gegenüber einem bekannten Fernsehmoderator brechen, der sonst auch den Schweigsamsten zum Reden bringt.

Als Ausweichquartier und Alternative zum Krellasaal ist der alte Lokschuppen beim Ostbahnhof im Gespräch. Dort sollen allerdings nur sporadisch Treffen stattfinden.

 

Im Krellaberg

Friedbert verlässt seine Klause und begibt sich mit seiner mit Ziegenfell bezogenen Umhängetasche zum Krellaberg. Bevor die Bahnstecke wiederhergestellt und der Tunnel für Fussgänger nicht mehr zugänglich ist, möchte er noch eine Inspektion auf eigene Faust unternehmen.

Trümmerstücke erschweren den Zugang zum Tunnel. Die mit nagelneuen Batterien bestückte, betagte Taschenlampe wirft einen breiten Strahl auf die noch vorhandenen Schienen der früheren Strecke. Da ist der Eingang zu dem Saal, der gut zwanzig Meter hoch sein muss. Im Schein der Lampe leuchtet das Mauerwerk in sattem Ockergelb auf. Ein Teil der Decke ist naturbelassen. Ein paar Holzscheite liegen auf dem lehmigen Boden. In einer mit grünem Dekor ausgestatteten Grotte steht eine Art von Altar. Ein grauer Tisch, ganz aus Stein. Auf der Platte steht in pisaturmähnlicher Schräge eine bauchige Vase, aus der ein paar welke Stiele ragen. Die Stacheln verraten, dass es einmal Rosen waren. Wandnischen zeigen Brandstellen, wo Reste von Fackeln herumliegen.

Zwölf ausgetretene Stufen führen auf eine Estrade. Ein langer Tisch mit ein paar Stühlen davor könnte auf einen Versammlungsplatz hindeuten. Auf einem Stuhl liegt ein zusammengeknülltes Wachstuch. Den Gegenpol zum Saaleingang bildet der Abstieg zur Krypta, wo nach Ilses Kenntnis die Toten beigesetzt worden sein sollen. Eine schmale Wendeltreppe mit hohen Stufen führt hinab. Friedbert steigt nicht hinab. Er kehrt um.

Aus langen Trögen, die im verbindenden Gang zum Tunnel aufgestellt sind, dingt ein ekelerregender, fauliger Geruch. Das waren wohl Anlagen einer Champignonzucht. Nicht alle Pilze waren geerntet worden.

Der Schacht befindet sich, wie Friedbert richtig vermutet hat, über dem ersten Drittel des Tunnels von der Westseite her. Ein paar angerostete, krumme Eisenstangen liegen in einer Pfütze aus rostbrauner Brühe. Ein sehr langes Rohr mit gebogenem Endstück lehnt an einem Mauervorsprung. Eine Leiter ist nicht da, dafür aber ein starkes Seil, wie es Bergsteiger benutzen.

 

Rentner Friedbert

Friedbert bewohnt eine schicke Eineinhalbzimmerwohnung der städtischen Seniorenresidenz. Immer wieder zieht es ihn nach draussen, er möchte wandern, reisen. Der Krellatunnel ist seit zwei Jahren wieder in Betrieb, als Friedbert ihn in der S-Bahn durchfährt. Ihm gegenüber hat eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen Platz genommen. Das Kind kramt eine Spieldose aus Mutters Reisetasche. Leise erklingt eine Melodie. Das Lied vom Krellaberg. "Das ist ein sehr schönes Lied", sagt Friedbert. "Ja wirklich?" spricht die Mutter. "Das Lied scheint der Kleinen auch sehr gut zu gefallen. Sie hat die Spieldose von ihrer Oma zu ihrem vierten Geburtstag gschenkt bekommen." Am Rollköfferchen in der Gepäckablage haftet ein Schild: K. Poschweiler. Könnte die Schwiegertochter sein, denkt Friedbert. Ein Kontrolleur prüft die Fahrscheine. Als er sich vor Friedbert aufbaut glaubt dieser zu verstehen: "Ihren Totenschein bitte". "Ja, den Totenschein. Muss ihn gerade suchen." "Wollen Sie mich verarschen?" fragt der Mann unwirsch. "Was haben Sie da in der Hand? Zeigen sie mal." Zu Friedberts Glück ist es der gültige Fahrausweis. "Entschuldigen Sie bitte", sagt Friedbert. "Der Tunnel." "Ja, kann ich verstehen", spricht nun der Kontrolleur in freundlichem Ton. "Tja, dieser vermaledeite Tunnel", schimpft die junge Frau. "Hier soll einmal ein furchtbarer Mord geschehen sein." "Ja, ich habe davon gehört", sagt Friedbert. "Der Mörder wurde aber nie gefasst", spricht ein Mann aus der Vorreihe. "Mein Gott, das geschah vor achtzig Jahren, als der Tunnel gerade noch im Bau war", mischt sich eine schrille Frauenstimme ein. "Na das beruhigt mich ungemein, dass es so lange zurückliegt," sagt Friedbert, worauf die Frauenstimme spricht: "Wieso, haben Sie etwa gedacht, so etwas könnte in unseren Tagen hier passieren?" "Warum nicht, gerade heute ist ja alles möglich, denken Sie nur an die vielen Ausländer", meint der Mann aus der Vorreihe.

Station Kaltenmühl, Umsteigemöglichkeit zur S13. Friedbert steigt aus, nachdem er sich von Frau Poschweiler und dem Töchterchen verabschiedet und eine angenehme Weiterfahrt gewünscht hat. Die S13 lässt er links liegen und schlendert durch barocke Gassen ins Zentrum der Kleinstadt. Ein paar Einkäufe, ein Blick in die berühmte Peterskirche. Ist es nicht wieder einmal Zeit für ein Dankgebet?

Die Rückfahrt führt zwangsläufig wieder durch den Tunnel. Diesmal gibt es keine Fahrkartenkontrolle. Auch gut. Auf den beiden Plätzen vor Friedbert sind zwei Männer in Streit geraten, beruhigen sich aber nach einer Weile.

Wehmütig schweift der Blick hinüber zur Klause. Aber die Residenz wartet. Es gibt kein Zurück ins alte Leben.

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Es ist ein paar Jahre später, als eine Musikkapelle ein Konzert im grossen Gemeinschaftssaal gibt. Volkstümliche Melodien, mit und ohne Gesangseinlage werden dargeboten. Auch der Humor kommt nicht zu kurz. In Abwandlung des altbekannten Soldatenlieds Ein Heller und ein Batzen singt ein fünfstimmiger Männerchor Ein Fuffi und ein Hunni. Schliesslich soll ja auch das Alter 'in' sein. Wer kennt denn noch die alten Münzen. Die Residenzbewohner können sich etwas wünschen. Friedbert wünscht sich das Lied vom Krellaberg und erntet allgemeines Kopfschütteln. "Das Lied kennen wir leider nicht, dazu haben wir keine Noten", erklärt der Kapellmeister. Für Friedbert scheint ein bewegter Abschnitt seines Lebens endgültig zu Ende zu sein.

Ein Mädchen in roter Strickjacke und Jeans erscheint am Tresen und fragt nach dem 'Mann vom Krellaberg'. Man weist das Kind an einen kleinen runden Tisch, an dem Friedbert gerade wieder Platz genommen hat. "Sie sind doch der Mann vom Krellaberg? Erinnern Sie sich an die Bahnfahrt vor fünf Jahren?" "Oh ja, das Mädchen mit der Spieldose -" "Ja die bin ich, inzwischen ein wenig älter geworden. Ich möchte Ihnen die Spieldose schenken, ich brauche sie nicht mehr. Ihnen aber dürfte sie viel bedeuten." "Wie recht du hast, vielen vielen Dank -" "Hier ist noch ein Brief von meiner Grossmutter", spricht das Mädchen hastig und ist, bevor sich Friedbert auch dafür bedanken kann, schon entschwunden.

Friedbert lässt die Melodie abspielen. Alles horcht gespannt auf. "Hört, Leute! Das Lied vom Krellaberg", ruft eine Frauenstimme. Es ist Ilse.

Friedbert öffnet Evelyns Brief. "Mein lieber Friedbert, sicher bist du erstaunt darüber, dass ich mich nach so langer Zeit bei dir melde. Es gibt neue Erkenntnisse über die 'Leute vom Krellaberg', die ich dir nicht vorenthalten möchte und die beweisen, dass du mit deinem Schuss damals niemanden verletzt, geschweige denn getötet hast. Im Schacht war ein Periskop mit aufgesetztem Bewegungsmelder und einer Sprechanlage installiert worden. Über die Sprechanlage drang auch das Krellalied nach draussen. Eine Leiter, die den Aufstieg einer Person nach draussen ermöglicht hätte, gab es allein schon aus Sicherheitsgründen nicht. Das habe ich einer kürzlich erschienenen, überarbeiteten Stadtchronik entnommen. Federführend im Aufbereiten der Chronik ist Ilses Freundin Alina, die inzwischen keine Repressalien wegen ihrer Flucht mehr zu befürchten haben sollte und daher die Öffentlichkeit nicht scheuen muss. Die einst so geschmähten Renegaten, die ihr noch etwas anhaben könnten, sind längst versunken und vergessen. Alina ist inzwischen die stolze Besitzerin des Nobelrestaurants Alter Markt in Bad Langersheim. Sie hat vorgeschlagen, dass sich die 'Krellabergleute', das sind, ausser dir, Ilse, Ludger und ich, einmal dort einfinden, zum Plausch und natürlich zu einem Galadiner, wie es zum Ambiente gediegener Gastlichkeit gehört. Ich hoffe bald von dir zu hören und verbleibe usw." Mit Freude vernimmt Friedbert die Botschaft und beschliesst zu kommen.

 

Galadiner chez Alina

Allein das am Tresen servierte Entree ist erwähnenswert: Sushi auf Schiefertäfelchen. Dazu natürlich Alinas lieblicher Lieblingswein, die Merowinger Kaltlese. Wer möchte, bekommt als Alternative ein Altbier der Krellabräu frisch vom Fass abgezapft.

Am runden Tisch im kleinen Vereinssaal herrscht zunächst gedrückte Stimmung, beim Suppelöffeln sogar Schweigen. Da ergreift schiesslich Alina das Wort. "Tja, meine lieben Gäste, ich wünsche mir nichts sehnlicher als dass die Krellageschichte endlich in den Katakomben eurer Stadtgeschichte verschwindet. Ich nehme an, ihr wünscht das auch?" "Ja schon", sagt Friedbert, "aber wir werden doch fast täglich in irgendeiner Weise damit konfrontiert." "Leider ja", seufzt Ilse, "doch wir werden unser Bestes tun um die Sache zu vergessen." "Richtig", meint Ludger, "Schwamm drüber und aus!" "Um einen deftigen Schlusspunkt zu setzen, habe ich eine Überraschung vorbereitet", kündigt Alina an. "Ah, da kommen sie schon -"

Vorm Restaurant nimmt eine Musikkapelle Aufstellung. Es ist das Bläserensemble der berühmten Bad Langersheimer Stadtmusikanten. Auf den flotten, mit viel Verve vorgetragenen Marsch Helles Deutschland folgt Das Lied vom Krellaberg. Eine Oboe ersetzt die Schalmei. "Klingt nicht schlecht", lobt Evelyn. "Die Instrumentierung ist gut gelungen. Jetzt weiss ich wieder woher die Melodie stammt. Es ist das Arrangement eines Motivs aus der Meyerbeer-Oper Der Prophet." "Ich hatte dem Philipp Murgenhaus, das heisst dem Komponisten, dem Arrangeur muss ich wohl sagen, kurz vor meinem unspektakulären Abschied von den Renegaten, ein Notenblatt abgeluchst", erklärt Alina. "Wo ist der Philipp jetzt zu Hause?" möchte Evelyn wissen. "Ich weiss es nicht, Evelyn. Ich hatte weder mit ihm noch mit einem anderen Mitglied unserer Gemeinschaft Kontakt nach meinem Austritt."

Kaum ist der letzte Takt verklungen, als Ludger den Schlusspunkt zum 'Kapitel Krella' überlistet, indem er berichtet: "Ich habe meinem Bruder Albert, mit dem wir seit Jahren keinen Kontakt pflegen, das Angebot gemacht einen authentischen Roman über die Renegaten zu veröffentlichen, gehörte er doch diesem Verein von der Gründung bis zur Auflösung an. Aber er hat abgelehnt." "Wahrscheinlich wollte auch er einen Schlussstrich ziehen und die Erinnerung an sein Leben im Krellaberg endgültig löschen", meint Friedbert. "Ja, mag sein", sagt Ludger.

"Wisst ihr, dass es auch andere Höhlen als den Krellasaal gibt, in die es sich lohnt hinabzusteigen?" spricht nun Alina. "Wer möchte meinen Weinkeller besichtigen?" "Ich", sagt Ludger spontan. "Kommt noch jemand mit?" fragt Alina. Nur Ludger möchte und spricht zu Alina: "Darf ich Sie bitten, schöne Frau, mich in die verlockende Tiefe zu geleiten?" Ein wenig verlegen antwortet Alina mit einem leisen "Ja bitte". "Der Ludger gibt den Charmeur, so kenne ich ihn eigentlich gar nicht", meint Ilse, als die beiden sich zur Kellertreppe begeben haben. "Weisst du, Ilse, Ludger ist sehr krank und will, wie er sagt, sein Leben nicht in Traurigkeit beschliessen", erklärt Evelyn. "Da hat er Recht", findet Friedbert.

Nach einer guten Viertelstunde kommen Alina und Ludger zurück, Ludger mit einer Flasche unterm Arm. "Ist ein guter Jahrgang", sagt er, "ein dreiundsiebziger Altfrankengold. Ein Geschenk des Hauses." "Da gibt es einen schönen Merkspruch, der mir aus der Schulzeit in Erinnerung geblieben ist", sagt Friedbert. "Und wie geht der?" fragt Ilse. "Wenn einer in den Keller steigt, begierig, kundig, eingedenk des Weines usw." "Ja kennen wir aus der Lateinstunde", sagt Evelyn. "Wer lernt denn heute noch Latein", bemerkt Ilse. "Wird an einigen Schulen immer noch unterrichtet", sagt Ludger. "Geschadet hat es noch niemandem." "Viele lernen heute Chinesisch, nicht nur Pessimisten. Kann auch nie schaden", meint Alina. "Dort drüben ist übrigens ein Chinarestaurant. Wir sind keine Konkurrenten, wir ergänzen uns irgendwie." "Das ist gut so", sagt Evelyn.

Eine Polizeistreife fährt im Schritttempo dicht am Restaurant vorbei. "Bin immer froh, wenn die wieder weg sind", seufzt Alina. "Wieso?" fragt Friedbert. "Die Sache ist die. Vor ein paar Wochen gab es vorm Rathaus eine kleine Demonstration. Eine Handvoll Leute skandierte gegen die Aufnahme von immer mehr Flüchtlingen. Nach ihrer ziemlich lautlosen Vorstellung kamen sie zu mir ins Restaurant, nahmen genau an diesem Tisch hier Platz und bestellten ein paar alkoholfreie Getränke und Brezeln. Tage später erhielt ich vom Polizeipräsidium eine strenge Verwarnung. Wegen Unterstützung einer faschistoiden Vereinigung." Ludger lacht laut auf: "Das ist ja Wahnsinn. Und da schauen die immer nach, welches rechte Pack an dem Tisch sitzt. Nicht zum Fassen." "Die Flüchtlingsflut muss in der Tat abebben", meint Friedbert. "Ein paar Hundert können menschenwürdig versorgt werden, aber nicht Zehntausende." "Europäische Staaten werden nach und nach ihre Idendität einbüssen", philosophiert Ludger. "Wir bekommen zwangsläufig eine neue Gesellschaftsordnung. Manche sehen Deutschland schon als Vielvölkerstaat nach amerikanischem Muster. Aber der Vergleich hinkt sehr stark. Die Vereinigten Staaten entstanden unter ganz anderen Voraussetzungen." "Ich sehe schon unsere kleine jüdische Gemeinde bedroht", sagt Alina. "Aber dazu wird es hoffentlich keinen Anlass geben", meint Evelyn. "Da wäre ich nicht so sicher", sagt Friedbert. "Das Gros der Muslime wird doch auf alles Jüdische, vor allem natürlich den Staat Israel, als Feindbild getrimmt. Und all denen, die den Koran nicht selbst lesen können, können Islamisten weismachen, dass darin steht 'Nieder mit Israel, Tod den Amerikanern und ihren europäischen Verbündeten'. Ich möchte mich nicht der Schwarzmalerei hingeben, aber je mehr ich über die Sache nachdenke, desto mehr sehe ich eine aufsteigende Gefahr." Darauf Evelyn: "Gebe Gott, dass wir lernen mit völlig Fremdem umzugehen. Wenn auch ein Verschmelzen von Kulturen misslingt, eine Annäherung sollte bis zu einem gewissen Grad möglich sein und ein gegenseitiges Respektieren wäre erstrebenswert." "Das Hauptproblem liegt in der trigonalen Mischung von Religion, Weltanschauung und Kultur", meint Ilse. "Wir müssen uns wohl einem unabwendbaren Schicksal fügen, wie ungern ich einen solchen Gedanken ausspreche", sagt Ludger. "Im Übrigen war das mit der 'trigonalen Mischung' klasse, Ilse." "Ich glaube an diesem runden Tisch wird eher sachlich diskutiert als in unserem Rathaus", meint Alina, als sie einen Zwischengang auftischt.

Die Zeit ist unmerklich fortgeschritten als Ilse spricht: "Ich glaube wir müssen uns allmählich auf den Nachhauseweg machen. Zu vorgerückter Stunde fährt die S-Bahn nur im Halbstundentakt. Die Hinfahrt haben wir übrigens im Postbus genossen." "Aber für einen Absacker ist noch Zeit", bestimmt Alina. "Ich hätte da einen kleinen Birnenschnaps -" "Her damit", sagt Ludger.

 

Bankgeheimnisse

Auf der Zufahrt zur Residenz wird Altmaterial zum Abholen bereitgestellt. Friedbert hat die Spieldose auf einem Kleinmöbel abgelegt. Er möchte damit seine letzte Erinnerung an den Krellaberg löschen.

Friedbert unternimmt seinen Morgenspaziergang durch die Platanenallee zum Ententeich. Er traut seinen Ohren nicht, als er den Klang der Spieldose vernimmt. Da sitzt ein älterer Herr im zerknautschten Regenmantel auf der Bank. Neben sich hat er eine schmuddelige Tasche abgestellt. "Ein wunderschönes Lied, das Sie da abspielen", begrüsst Friedbert den Mann. Der spricht: "Die Spieldose habe ich vor der Residenz gefunden. So etwas wirft man doch nicht einfach weg, ist doch viel zu schade." "Ja, da haben Sie völlig recht", sagt Friedbert. "Kennen Sie das Lied?" "Ja, es ist das Lied vom Krellaberg, komponiert von einem Anonymus, jedenfalls von keinem Menschen den ich kenne", spricht der Bänkler. "Einen von mir verfassten Text gab es einmal dazu, aber der ist verschollen. Ich lebte ein paar Monate lang im Berg, kann da also einigermassen mitreden." "Hausten, pardon wohnten da nicht die Renegaten, die sich strenge Regeln auferlegt haben sollen?" "Richtig. Wir waren straff organisiert. Die Oberaufsicht hatte der Rat der Zehn, aus neun Männern und einer Frau, der schönen Alina. Wie ihr bürgerlicher Name war weiss ich nicht. Spielte ja auch keine Rolle. Jedenfalls ist sie nicht mit uns aus der Berghalle ausgezogen, als wir unsre Bleibe unter Polizeigewalt räumen mussten. Sie war schon vorher unter nie geklärten Umständen abgehauen. Ein Exodus der Renegaten wegen der Wiedereröffnung dieses Eisenbahntunnels! Aber das war nicht der einzige Grund. Es kursierten ja viele Gerüchte, wobei es vor allem um unheimliche Rituale ging. Es sollen in paar Hinrichtungen stattgefunden haben, wobei die meisten, wenn nicht alle, Scheinhinrichtungen gewesen sein dürften." "Gab es Opferrituale?" "Nein, die gab es nicht. Nur ein paar nichtssagende Sprüche. Ich entsinne mich einer tragikomischen Geschichte. Es war an einem Spätherbstabend, kurz vorm Erklingen des Krellalieds, als irgendwo draussen ein Schuss fiel. Gerade zu dieser Zeit sollte ein junger Mann hingerichtet werden. Der Scharfrichter war so erschrocken, dass er nicht das Schlusswort abwartete, das diesmal Alina ausrichten sollte, sondern sofort zuschlug. Der Rat interpretierte das als Mord und der Scharfrichter wurde von seinem Stellvertreter und zwangsläufigen Nachfolger exekutiert. So jedenfalls wurden wir von einem Sprecher informiert. Der Alina gelang ein paar Tage nach diesem Vorfall die Flucht. Die arme Frau wurde mit der Situation im Berg nicht mehr fertig. Einmal überraschte ich sie beim Sprechen des Vaterunser. Sie gehörte im bürgerlichen Leben einer protestantischen Kirche an. Im Übrigen spielte die Konfession, Religion oder wie immer Sie es nennen mögen, bei der Aufnahme in den Club überhaupt keine Rolle. Unter den hundert Fragen des Aufnahmeformulars kam eine solche Frage überhaupt nicht vor. Familienstand, Beruf, ausgeheilte und noch andauernde Krankheiten spielten da eine bedeutendere Rolle. Nun, die Ratsleute genossen zwar Immunität, aber im Falle der Ahndung von Alinas Flucht hätte man auch dieses eherne Gesetz, wie so manches andere, ausser Kraft gesetzt." "Was hatte der junge Mann verbrochen, dass er mit der Todesstrafe belegt wurde?" "'Sabotage am Ableitungssystem für Schmutzwasser' dürfte wohl sein Verbrechen gewesen sein." "Wie war sein Name?" "Gerd Ellertöck. 24 Jahre alt. Er schrieb hin und wieder Beiträge für verschiedene Journale unter dem Pseudonym Bob Kinkerlitz. Seinen eigentlichen Beruf kenne ich nicht." "Oh mein Gott!" seufzt Friedbert auf. "Kannten Sie ihn etwa?" "Nein, das heisst nicht direkt. Eine Kinkerlitz'sche, für meine Begriffe wenig erbauliche Fantastische Geschichte habe ich einmal gelesen, weiss nur nicht mehr wo. Da müssen sich ja wahrhaft teuflische Szenen abgespielt haben im Krellaberg." "Ja, das Ganze glich in der Tat einem 'Teufelsdienst light'. Im Prinzip nichts Neues. Satanskulte hat es schon immer gegeben. Gewiss, in unseren Tagen sind sie eher ungewöhnlich. Aber es gibt sie, daran ist nicht zu rütteln. Unzufriedenheit mit sich und der Welt waren Gründe des Übertritts in dieses Unheil. Ich selber habe einen Traum begraben müssen. Den Traum mit einer Novellenserie gross herauszukommen. Mein Bruder, der Kleinverleger Ludger Poschweiler, wollte kein Risiko eingehen. Er verfasste eine Kolumne in seiner Wochenschrift über Möchtegernschriftsteller, die keine Mühe scheuen, das übliche Prozedere einer konventionellen Buchherstellung mehr oder weniger elegant zu umgehen. Aber da war noch etwas anderes, möchte sagen Ausschlaggebendes. Ich pflegte ein Verhältnis mit einer noch nicht ganz volljährigen Schülerin - ich war Lehrer für Deutsch und Geschichte - und wurde, als die Affäre publik wurde, vom Dienst suspendiert. Meine Frau hielt unserer beiden Kinder wegen noch eine Zeit lang zu mir, um sich dann zu verabschieden und zu ihren Eltern in die hinterste Provinz umzusiedeln. Und ich beschloss auf irgendeine Art zu büssen, hörte von den Renegaten und schloss mich ihnen an. Und wer sind Sie eigentlich, von Ihnen weiss ich fast gar nichts." "Mein Name ist Zieselacker, von Beruf ehemals Naturschutzbeauftragter, jetzt im Unruhestand", stellt sich Friedbert vor. "Ich bewohnte einst eine Klause nahe dem Krellaberg, habe also auch einiges mitbekommen, was aber peanuts sind gegenüber dem, was Sie mir so eindrucksvoll berichtet haben. Übrigens - falls Sie sich von der Spieldose trennen möchten, kaufe ich sie Ihnen gerne ab. Sagen wir für zwanzig Euro? "Zwanzig Euro - das ist für mich viel Geld. Gemacht!" "Herr Poschweiler, Sie könnten doch einen Roman über die Krellageschichte schreiben, der fände sicher reissenden Absatz." "Ja, mit dem Gedanken habe ich auch schon gespielt. Aber ich möchte es nicht tun."

Friedbert verbannt die Spieldose in die unterste Schublade seiner Kommode. Ihm wird wieder einmal bewusst, dass wir Dinge an denen wir hängen, erst richtig zu schätzen wissen, wenn wir sie zum Trödler gebracht und dann zurückgekauft haben. Dennoch spielt er das Ding nie mehr ab.

 

Beim Literatentee

Friedbert sucht nochmals sein ehemaliges Domizil auf, die Achimklause. Acht Jahre war er nicht mehr hier. Neben dem Zugang zum Lift prangt ein Schild:

Alkoholfreies Literatencafé,

Inh. Bob Kinkerlitz,

geöffnet täglich von 11 bis 22 Uhr

ausser mittwochs und samstags.

Und hier ein kleingedruckter Zusatz:

Jeden Donnerstag Abend 19 Uhr erklingt das Krellalied.

Es geht gegen halb fünf, gerade die rechte Zeit für einen nachmittäglichen Cafébesuch. Friedbert bedient die Sprechanlage und stellt sich als ehemaliger Bewohner der Felsenklause vor.

"Willkommen in meiner Klause", kommt es von oben und Friedbert besteigt den Lift. Kaum hat sich oben die Lifttüre geöffnet, als Bob fragt: "Sie sind auch Literat?" "Nein. Ich hatte als Schüler einmal ein Weihnachtsgedicht in einem Sonntagsblättchen veröffentlicht." "Na, immerhin, das ist doch schon was. Weihnachtsgedichte kommen immer gut an, im Gegensatz zur modernen Lyrik", meint Bob. "Sie wissen ja sicher, dass mein bürgerlicher Name Gerd Ellertöck ist, aber nennen Sie mich ruhig Bob." Der Gast spricht: "Ich war mir nicht ganz sicher, ob Sie der Gerd Ellertöck sind, aber jetzt, wo Sie es sagen - Mein Name ist übrigens Zieselacker, Friedbert Zieselacker, wie schon gesagt, ehemaliger Bewohner dieser Felsenklause." "Ah, Herr Zieselacker. Habe schon von Ihnen gehört." "Von Albert Poschweiler?" "Ja. Aber wie kommen Sie auf Poschweiler?" "Er war doch wie Sie im Krellaberg, war dort ein Aufseher-" "Ja, das stimmt. Ein Aufseher. Gesehen hat er nicht viel, ich glaube er wollte auch gar nichts sehen, ausser der Alina, der er dann angeblich zur Flucht verholfen hatte. Vor ein paar Tagen habe ich ihn vorm Bahnhof getroffen. Wir kamen bei der Imbissbude ins Plaudern. Aber Sie möchten doch sicher etwas konsumieren, Herr Zieselacker -" "Friedbert, einfach Friedbert. Könnte ich einen Grünen Tee bekommen?" "Ja sicher. Den besten Tee bekommst du in einem Café. Das hat Tradition in unseren Landen." "Machst du hier alles alleine, Bob?" "Meist schon. Manchmal helfen ein paar Freunde aus. Woher kennst du meinen bürgerlichen Namen?" "Von Poschweiler." "Ah so. Der hat Ihnen wahrscheinlich von meinem Missgeschick im Berg erzählt." "Ja, hat er." "Weisst du, Friedbert, ich möchte nicht schon wieder an diese dumme Geschichte erinnert werden. Da aber der Albert, wie ich ihn kenne, seine Geschichten gerne mit Dazuerfundenem ausschmückt, werde ich dir die Sache kurz darstellen. Es war nämlich so. Ich hatte mir Werkzeug besorgt um an einem Ablauf eine kleine Reparatur vorzunehmen. Ich bin zwar alles andere als ein geschickter Handwerker, aber dieser ewig hin und her wackelnde Absperrhahn hatte mein tiefstes Mitgefühl erregt. Kaum hatte ich die Zange angesetzt, alarmierte die Alina das Wachpersonal. Ich wurde der Sabotage bezichtigt und zum Tode verurteilt, nach dem Motto 'Ordnung muss sein, grobe Verstösse werden mit der Höchststrafe geahndet'. Aber das war ein Vorwand. Der wahre Grund meiner Verurteilung lag wohl darin, dass einer der zehn Räte in meiner Person einen undercover-Mann vermutete, der Material für die Medien sammelt. Ehrlich gesagt lag er damit nicht ganz falsch.

Die Exekution sollte nach Standrecht, das heisst unverzüglich erfolgen. Ich stand vor der Richtbank, als vom Tunnel her ein Schuss zu hören war, just in dem Moment als der Scharfrichter zum Schlag ausholte. Aber wie alle meine zum Tode verurteilten Vorgänger kam ich den Genuss einer Scheinhinrichtung. Ich wurde in eine Decke gepackt und nach unten zur Gruft getragen. Dort befand sich aber ein Raum, der nur durch eine fast unsichtbare Pforte zu betreten war. Dort begrüssten mich meine Vorgänger mit einem verhaltenen 'Hallo, auch du?' Zu Ehrenrettung der Räte muss ich sagen, dass der Raum zwar düster, aber im Übrigen sehr komfortabel war und wir kulinarisch gut versorgt wurden. Das Henkerbeil war ein Requisit des Stadttheaters als Leihgabe. Alina hatte ihre speziellen Beziehungen zum Intendanten spielen lassen. Mit der ungeschlachten Axt waren auf der Bühne schon Maria Stuart und der Schinderhannes hingerichtet worden. Die haben auch immer überlebt, wenigstens in der Gestalt der Mimen." "Es wussten doch sicher alle Renegaten von der Scheinhinrichtung", bemerkt Friedbert. "Die meisten ja. Aber niemand ollte das zugeben." "Gab es denn Zuschauer bei diesem Zeremoniell?" "Ja. Vor dem oberen Drittel der Szene wurde ein seidener Vorhang aufgezogen. Das niedersausende Beil wurde schemenhaft, als Schattenspiel sozusagen, wahrgenommen." "Wahnsinn", sagt Friedbert. "Wir lebten grossteils in einer Welt der Symbolik. Vieles wurde symbolisch, aber glaubhaft ausgeführt", fährt Bob fort. "Ich konnte mich durch einen gemeinen Trick, den ich auch jetzt noch für mich behalten möchte, befreien und mit einem Seil, das ich an einer Halterung des Periskops befestigt hatte, nach Kaminkletterermanier durch den berühmt-berüchtigten Schacht nach draussen gelangen. Ein paar Monate lang irrte ich im Land umher, war für ein paar Tage Gast bei einem Freund in Irland. Nach Hause wollte ich nicht gleich, aus Scham und Schiss."

Unterdessen treffen zwei Frauen unten vorm Lift aufeinander. "Kommen Sie auch zu einem Nachmittagskaffee?" spricht Ilse die offensichtlich Jüngere an. "Ja und nein. Ich helfe meinem Freund donnerstags ein wenig aus mit der Bedienung. Wenn das Krellalied erklingt kommen manchmal mehr Gäste."

Oben begrüsst Gerd zunächst die junge Frau: "Tag, Barbi." "Tag Bob", klingt es zurück. Friedbert begrüsst Ilse: "Grüss dich Ilse, schön dich hier zu treffen." "Grüss dich Friedbert. Ich darf mich den übrigen Herrschaften vorstellen - mein Name ist Ilse Menning -" "Wie, Ilse Menning - Jetzt sagen Sie nur, Sie waren Schülerin bei Albert Poschweiler damals -", spricht Barbi aufgeregt. "Tja, war ich", bestätigt Ilse. "Und Sie, jung wie Sie waren, waren seine Geliebte -" "Sagen Sie, Barbi - ich darf Sie doch mal so nennen - worauf wollen Sie eigentlich hinaus?" "Sie sind mit achtundneunzigprozentiger Sicherheit meine Mutter, gerade mal siebzehn Jahre älter als ich -" "Ich glaube es nicht, glaube es einfach nicht", sagt Friedbert sichtlich erschüttert. Warum habe ich nichts davon gewusst, Ilse?" "Weil ich fürchtete deine Freundschaft zu verlieren. Im Übrigen ging die Initiative von mir aus. Ich folgte dem Albert ständig, hing an ihm wie eine Klette." "Nun, Ilse sah in ihrem Lehrer zunächst so etwas wie einen väterlichen Freund, verständlich bei ihrer Vorgeschichte", meint Friedbert, der sich wieder gefasst hat. "Jetzt, Barbi, musst du uns nur noch verraten, wie du zu Ludger und Evelyn, also deinen Pflegeeltern, kamst", sagt Bob. "Ganz einfach. Ilses Eltern zwangen die 'gefallene' Tochter mich auf unauffällige Weise abzuschieben. Da die Evelyn, Alberts Schwägerin, angeblich keine Kinder bekommen konnte, hat sie mich wahrscheinlich gerne 'an Kindes statt angenommen' und Ludger, der sowieso nicht viel zu melden hatte, zeigte sich einverstanden. Es muss da natürich eine Absprache mit dem Albert Poschweiler, meinem leiblichen Vater also, gegeben haben. Drei Jahre später kam dann Martin auf die Welt. Ich wurde nicht vernachlässigt, wurde weiter wie eine eigene Tochter behandelt. Mit siebzehneinhalb erfuhr ich die Wahrheit - und auch Martin, der wie ich glaube, sich darauf in seine kleine Grosse Schwester verknallte." "Was macht der Martin eigentlich?" fragt Ilse. "Der Martin hat hier in Krellstedt eine gut gehende Anwaltskanzlei. Er hat eine sehr junge Frau geheiratet und nun haben sie ein Töchterchen." "Ich kenne Mutter und Kind", sagt Friedbert. "Wieso?" fragt Barbi. "War eine flüchtige S-Bahnbekanntschaft. Die Kleine spielte das Krellalied auf einer Spieldose ab. Kürzlich suchte mich die nunmehr offenbar Neunjährige in der Residenz auf und schenkte mir die Dose. Irgendwann stellte ich das Ding zum Sperrmüll, wo sie Albert Poschweiler auf der Suche nach Brauchbarem fand und an sich nahm. Für zwanzig Euro kaufte ich ihm das Ding ab. Denn erst nach dem Verlust lernte ich die Spieldose richtig schätzen." "Das ist ja ein Ding, Mann oh Mann", ruft Bob erheitert. "Wisst ihr übrigens, dass just zu dem Zeitpunkt als der Schuss fiel, kurz nach meiner Scheinhinrichtung und Wegschaffung, drunten tatsächlich ein echter Mord geschah?" "Nein", sagt Barbi. Ilse schüttelt den Kopf. "Ein Wächter brachte seinen Kollegen um und behauptete dann, es sei ein tödlicher Schuss in den Schacht abgegeben worden. So etwas wie eine Untersuchung des Vorfalls von Seiten der Räte gab es nicht." "Welches Motiv könnte der Täter gehabt haben?" fragt Ilse. "Alina." "Mein Gott! Es lag in ihrer Natur den Männern gehörig den Kopf zu verdrehen. Doch dass es einmal soweit führen sollte. Mein Gott!"

Inzwischen sind noch vier weitere Gäste, zwei Männer und zwei Frauen, erschienen und nehmen am runden Tisch in der erst kürzlich aus dem Fels gehauenen Achimnische Platz. Barbi nimmt die Bestellung auf.

"So, Leute, noch geschlagene drei Minuten trennen uns vom Krellalied", sagt Friedbert mit besorgtem Blick auf die barocke Pendule. "Ich schlage vor, dass wir einen Freundeskreis gründen -" "Ich weiss auch schon den Namen", sagt Gerd, "einfach die Krellikaner -" "Gut, einverstanden", sagt Friedbert. "Barbi, Ilse?" "Ja ja", antworten beide wie aus einem Mund. "Wir vier hier Anwesende bilden sozusagen den harten Kern der Truppe", sagt Friedbert. Bob wirft seinen Rekorder an und das berühmte Lied erklingt. Die frischgebackenen Krellikaner und auch die Gäste in der Nische lauschen andächtig. "Einfach herrlich diese Melodie", schwärmt Barbi. "Mitreissend, wie ein Revolutionslied." "Wird von einem Bläseroktett der Musikschule gespielt. Habe die Aufnahme von der Evelyn Poschweiler als Geschenk erhalten", erklärt Bob. "Soso, meine Pflegemutter macht dir Geschenke", bemerkt Barbi bissig. "Ich war vor ein paar Wochen bei der Familie zu Gast. Es ging um die Vorbereitung eines Liederbuchs. Da hatten wir einiges zu besprechen", erklärt Gerd. "Na dann ist alles klar", sagt Barbi.

Das Lied ist verklungen. Friedbert hat das vorläufige Schlusswort: "Nächstes Frühjahr werden wir, so Gott will, ein grosses Familientreffen, oder Freundestreffen, wie ihr wollt, steigen lassen. Und zwar 'chez Alina' in Bad Langersheim." "Den Alten Markt können wir wärmstens empfehlen", ruft es aus der Nische. Einer der Herren versucht sich in der Krellamelodie "Kenne eine Wirtin jung und wunderschön -" Der Versuch will nicht so recht gelingen. Dessen ungeachtet bricht Ilse in Jubel aus: "Jetzt haben wir endlich einen gefälligen Text zum Lied aller Lieder." "Der hätte Ludger auch gefallen", meint Bob. "Wieso 'hätte'?" fragt Ilse. "Mein Pflegevater ist vor drei Wochen in der Stadtklinik verstorben", antwortet Barbi. "Es gab eine kleine Trauerfeier im engsten Familienkreis, bei welcher Gelegenheit ich endlich den Albert Poschweiler persönlich kennenlernte. Ein gebrochener Mann. Er tat mir fast leid. Während der Beisetzung auf dem Hauptfriedhof spielte im Hintergrund das Bläseroktett das Krellalied."

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.05.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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