Florian Brigg

Schulschluss

Schulschluss

Die tragische Kurzgeschichte einer aussichtslosen Gymnasiastenliebe
 
Noch heute erinnere ich mich an meine un­bändige Freude, die dem Schulschluss jeweils im Monat Juli voranging. Endlich kein Wecker um sieben Uhr Früh, endlich keine Angst vor einer Prüfung in einem ungeliebten Fach, endlich kein Schielen auf des Nachbarn Papier, um einen Blick auf dessen Schularbeit zu erhaschen!
 
Und dennoch trat ein Ereignis ein, das mir die Freude an den bevorstehenden Ferien gründ­lich verdarb.
 
Wo soll ich meinen Bericht beginnen?
 
Max Meller saß neben mir bereits bei der Aufnahmeprüfung ins Gymnasium. In unserer Klasse überragte er uns männliche Mitschüler an Körpergröße um fast einen Kopf. Allerdings war er zaundürr, eher leptosom, mit über­langen Gliedmaßen und einem Antlitz, das eher einem reifen Mann denn eines 11-jährigen Jungen entsprach. Schlaksige Bewe­gungen verliehen ihm eine Gangart mit dem Anschein von Unsicherheit, wie wir sie von Betrunkenen kennen. Bereits in den unteren Klassen konnte man deutlich das Lichten seines Haupthaares erkennen. Wir nannten ihn mit gutmütigem Spott, nachdem wir nun schon das dritte Jahr Englischunterricht hatten, „Future Bald“, auf Deutsch also „zukünftige Glatze“. Aus dem „Future Bald“ wurde im Laufe der nächsten Jahre „Foot Ball“. Mit diesem Spitznamen musste Max Meller zwischen und mit uns leben. Er tat dies mit stoischer Ruhe. Er war nicht sonderlich begabt, und er war auch nicht sonderlich strebsam. Aber er war immer gut für ‚Abschreiben’ bei Schularbeiten, denn Noten wie ‚genügend’ oder ‚nicht genügend’ blieben ihm erspart. Er war die Verkörperung des Mittelmaßes. Ein wirkliches Problem bereitete mehr dem Lehrkörper als ihm die Benotung des Faches ‚Leibeserziehung’. Von ‚befrie­digenden sportlichen Leistungen’ konnte man bei Max wirklich nicht sprechen. Aber nicht nur wir Mitschüler, auch der Lehrkörper mochte den etwas unbeholfen wirkenden, kaum strebsamen, doch unauffälligen Jungen gut leiden. Er bekam im Jahreszeugnis einen Dreier! Er war auch ‚aus gutem Haus’. Football Max war Sohn eines Apothekers.
 
Bislang habe ich von den Jungs in unserer Klasse berichtet. Es gab aber auch gut ein Drittel Mädels. Sie waren in unserer Klasse, seit sie eben 10 oder 11 Jahre zählten, also weibliche Kinder. Während der Schuljahre achteten wir gar nicht darauf, dass aus diesen Kindern langsam aber stetig junge Frauen wurden. So als hätte man Schwestern. Natürlich machten wir uns über Pusteln in den Mädchengesichtern lustig, erwähnten die einsetzenden Rundungen und das Strecken der Beine. Aber Frauen? Nicht wirklich! Weibliche Kumpels vielleicht, die uns beim Fußballspielen im Schulhof zusahen und der einen oder anderen Mannschaft die Daumen drückten. Das waren die Mädels für uns. Bis eines Tages in der ‚Siebten’ Yvonne auf­tauchte. Sie kam an unsere Schule, weil die Eltern den Wohnsitz verlegt hatten.
 
Wenn ich sie heute aus Sicht vieler vergangener Jahre beschreiben sollte, fällt mir das schwer. Sie war einfach alles! Nicht gerade groß, aber wohlproportioniert, mit langen Beinen und einem Teint wie Perma - Makeup, einem spitzbübischen Gesichtsaus­druck, einem wunderbaren Mund, der stets zum Lächeln bereit war und einer wilden, brünetten, nicht zu bändigenden Haartracht. Sie trug tolle Klamotten mit einer Grazie, als wären diese Teile ihres Körpers. Ich erinnere mich an die ersten heißen Julitage, als sie in einem Spaghettiträger-T-Shirt auftauchte, das alle Mutmaßungen der männlichen Mitschüler, ob sie nun etwas darunter tragen würde, ad absurdum führte. Aber das war bei weitem noch nicht alles. Sie konnte mit jedem von uns über alles reden. Und das tat sie so, als würde Gesprächspartner und Thema für sie von besonderem Interesse sein. Sie gab jedem von uns Jungs und Mädels das Gefühl, Favorit zu sein. Und natürlich waren wir männlichen Mitschüler ohne Ausnahme in sie verknallt. Mit den Mädels hatte sie so etwas wie einen Bund geschlossen, der sich mit milder Kritik an uns über beide Ohren verliebten, unreifen Jungen beschäftigte.
 
Ein wenig Eifersucht erweckte sie in uns doch: Man sah sie häufig mit Football Max. Nicht nur am Schulhof in den Pausen, nein, es wurde kolportiert, sie mit ihm in der Pizzeria um die Ecke gesehen zu haben. Wir trösteten uns gegenseitig, in dem wir diese Zusammen­künfte mit Vorbereitungen auf unsere Klassen­aufführung zu Ende des Schuljahres in Zusammenhang brachten. Denn Football Max spielte den Sokrates.
 
Bisher endete unser Schuljahr mit der üblichen Ansprache des verehrten Herrn Direktors – er war übrigens unser Griechisch-Professor – und dem Absingen der Bundeshymne. Das war’s dann. Aber diesmal, in der ‚Siebten’ war alles anders. Yvonne war ja da! Sie ent­wickelten den Plan, ein progressives Theater­stück zu produzieren und dies zu Schulschluss vor versammelten Eltern, Schülern und Lehr­körper aufzuführen. Die Basis sollte natürlich ein antiker Stoff sein. Irgendwer von uns verfiel auf die Idee, eine moderne Version des Sokrates-Dramas zu inszenieren. Im Mittel­punkt der Aufführung sollte das Problem des ‚verderblichen Einflusses auf die Jugend’ seitens modern denkender Lehrer stehen. Im Stück selbst würden wir sie ‚Coaches’ nennen. Heute noch glaube ich, die Handlung entwarf Yvonne, den Text schrieb Football Max.
 
Dann kam es zum Casting: Yvonne wollte nicht auf der Bühne stehen, weil sie, so wie sie sagte, nicht lange genug in der Klasse gewesen sei. Also wurde ein Konsortium gebildet, das schließlich entschied, Football Max die Hauptrolle zu übergeben.
 
Allerdings stellte sich bei den Proben heraus, dass der übergroße, schlaksige, unhübsche Junge mit dem alten Gesicht den Part un­befriedigend darstellte. Harte Worte, unreife Urteile und dämliche Späße begleiteten die Generalprobe. Als er dann beim Schlürfen des Schierlingsbechers die Flüssigkeit verschüttete und über seine langen Beine stolpernd in eher komödiantischer Pose zu Tode fiel, war des Lachens in unserer Runde kein Ende. Auch Yvonne konnte sich ein Lächeln nicht ver­beißen, stellte sich aber ganz auf die Seite von Football Max. Sie versprach, den Part – be­sonders das Finale – mit ihm privat durch­proben zu wollen.
 
Und Football Max war einsichtig. Auch bei dieser Gelegenheit bewies er seine stoische Ruhe. Er versprach, die Anweisungen der Regie nun genauestens zu beachten, um einen realistischen Tod darzustellen. Erinnere ich mich, in seinen, auf Yvonne gerichteten Augen Tränen gesehen zu haben?
 
Dann kam der Tag der Aufführung. Der Festsaal unseres Gymnasiums war zum Bersten voll. In den ersten Reihen saßen der Lehrkörper und Eltern der Akteure und Akteurinnen. Dahinter drängten sich die Familien und deren Sprösslinge aus acht Klassen. Die Aufführung versprach, ein toller Erfolg zu werden. Viele Talente aus unserem Gymnasium hatten zu Kulissen, Kostümen und sonstiger Ausstattung beigetragen. Das Schauspielteam agiert nahezu professionell.
 
Und nun kam der letzte Akt. Es kam ärger, als wir alle befürchteten. Nach seinem Schluss­monolog stolperte Football Max über seine überlangen Beine, verschüttete beim Trinken einen Teil des Inhalts des Schierlingsbechers und brach in Slapstick-Manier zusammen. Als er in skurriler, unnatürlicher Haltung am Boden lag, begann sich unter dem Applaus des Publikums Gelächter bemerkbar zu machen, das zuletzt in allgemeine Heiterkeit ausartete. Der Vorhang fiel.
Wir auf der Bühne hinter dem Vorhang versuchten, Football Max aufzuhelfen. Unsere Bemühungen waren erfolglos. Er lag da, in dieser mehr als theatralischen Haltung und war mausetot. In einer Hand hielt er noch den Becher, in der anderen ein Stück Papier.
 
Das Drama des Schulabschlussfestes fand seinen Höhepunkt mit dem Eintreffen von Notarzt und Polizei. Das Publikum suchte das Weite. Die Polizei stellte Fragen an uns und an den Lehrkörper, nahm Personalien und Zeu­genaussagen auf. Mutmaßungen wurden ge­äußert, Motive gesucht. Zuletzt erschien der Sprengelarzt. Ihm übergab der amtshandelnde Polizist den Fetzen Papier und den leeren Becher, beides aus der Hand des toten Football Max. Der Arzt warf einen Blick auf den Zettel und las laut:
 
 

Summenformel C H  N

8  17
Molmasse 127,2 g/mol
 
 
Dann blickte er im Kreis umher und sagte: „Conium maculatum, auf Deutsch ‚gefleckter Schierling’. Das bevorzugte Gift in der Antike, heutzutage kaum noch aktuell. Aber was war der Grund?“
 

ΣΩΚΡΑΤΈΣ

oder die gescheiterte Revolution
Idee: Yvonne aus der ‚Siebten’
Text: Max aus der ‚Siebten‘
 
Inhalt:
 
Sokrates ist Schüler am Gymnasium. Viele seiner Lehrer gehören einer früheren Gene­ration an und versorgen die jungen Leute eher mit theoretischem Wissen, als mit zwischen­zeitlich erwiesenen Tatsachen. Sokrates lehnt sich gegen den Schulbetrieb auf. Dies wird von dem Lehrkörper zum Anlass genommen, ihm mit einem Schulverweis zu drohen.
 
Sokrates vertraut sich einem Coach an. Der entwirft den Plan, demzufolge der Primus mit einer äußerst begabten Mitschülerin eine enge Freundschaft eingeht. Die beiden beweisen, dass sich Zuneigung nicht unbedingt am Lehrstoff und dem Erreichen der Unter­richtsziele orientiert, geschweige denn damit unvereinbar ist.
 
Im Schlussmonolog stellt Sokrates dieses Thema dem Lehrkörper vor und verlangt eine Änderung der Gesinnung. Doch die älteren Herren haben den Trick des Coaches längst aufgedeckt und sprechen einen Verweis des Mädchens von der Schule aus. Sokrates greift zum Becher.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.05.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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