Heinz Werner

Simon - Liebeserklärung an das Meer

Simon - Liebeserklärung am Rande des Meeres
(…-au bord de la mer)
(Für e-stories 2016, geschrieben irgendwo am Rande eines Meeres)

Nach mehr als acht Stunden anstrengender Autofahrt kam Simon endlich da an, wohin er schon seit mehr als acht Wochen wollte, nämlich in seinem kleinen Haus am Strand. In der Hauptstadt hielt er es einfach nicht mehr aus. Er musste raus; diesem Rattenrennen und den oberflächlichen Veranstaltungen und Beziehungen entfliehen, wieder er selbst sein, zu sich kommen. Er wollte das Meer sehen, die Weite des Marschlandes, das klare Licht genießen und mit dem Geschrei der Möwen aufwachen. Er wollte vor dem Duschen am Strand entlang laufen, den frischen Tau des Strandhafers und die rauen und feuchten Gräser der Dünen spüren und sich erst danach Gedanken über den Tag und seine Aufgaben machen. Er freute sich auch auf Laurine, seiner amerikanischen Nachbarin, die ungefähr 800 Meter von ihm entfernt am Rande der kleinen Stadt in einem etwas heruntergekommen, aber urgemütlichen Holzhaus wohnte. Sie hat nie erzählt, wie und warum sie in diese Gegend kam. Sie war ungefähr im selben Alter wie Simon und hatte sich in einem Anbau ein kleines Studio eingerichtet, in dem sie malte und ab und zu etwas töpferte. Die Bilder und Keramikerzeugnisse verkaufte sie in einer Kunstgalerie der Stadt und ab und zu auf den Märkten der Umgebung. Sie schien davon leben zu können, wenn auch bescheiden - aber es reichte wohl. Wohlstand und materieller Besitz waren ihr nicht wichtig, denn sie war irgendwie angekommen, hatte ihr „Shangri-la“, ihren Ruhepol, gefunden und strahlte Gelassenheit und Glück aus, wie Simon es bei niemandem sonst wahrgenommen hatte.
Seine wichtigste Aufgabe heute würde auch gleichzeitig seine liebste sein, nämlich seinen Katamaran aus dem Bootshaus holen und für eine erste „Ausfahrt“ vorbereiten. Sein alter Freund Bastian könnte wieder helfen. Er war früher Fischer und immer und immer wieder mit Simon rausgefahren, um mit viel Geduld und seiner ganzen Erfahrung aus ihm einen passablen Segler zu machen. Simon verdankte ihm viel. Er lehrte ihn, sich nie zu überschätzen, der Natur und besonders dem Meer gegenüber immer demütig und bescheiden zu sein und vor allem das Wetter richtig zu deuten. Wie sehr genoss er es, alleine auf seinem Boot durch die Wellen zu gleiten, den frischen Meereswind zu spüren und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Seine Phantasie trug ihn überall hin, zu Orten, die er kannte und zu solchen, die er noch besuchen wollte. Außer der Weite des Ozeans und dem Wetter gab es keine Grenzen. Er alleine konnte bestimmen, wohin er wollte und wann es genug war. Auch die vielen Herausforderungen bei schlechtem Wetter und die damit verbundenen körperlichen Anstrengungen machten ihm Spaß. Gott sei Dank vergaß er nie die Ermahnungen Bastians und wurde sich – oft gerade noch rechtzeitig – seiner doch noch begrenzten Kapazität als Segler bewusst. Er beherzigte die Grundlehren seines Freundes, nie das Meer zu unterschätzen und vor allem nie die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Mit dem Meer spielte man nicht, sondern nahm bescheiden an, was es zu bieten hatte und den Menschen gewährte.
Wenn Simon anschließend bei einem Grand Cafe Creme (mit viel Schaum) in seinem Lieblingscafe am kleinen Marktplatz saß oder abends im Bistro oder der Galetterie aß, konnte er kaum glauben, wie wohl er sich fühlte und wie zufrieden – ja, fast glücklich – er hier war, wie gut es ihm ging. Er erinnerte sich an Teile eines Gedichts, das dem Meer gewidmet war und das etwa so endete (frei übersetzt):
Such mich nur, Bruder, und du wirst mich finden,
in Havanna, in Porto, in Jacmel, in Shanghai, beim
einfachen Volk, das nur zu trinken und zu schwatzen,
die Bars und Tavernen bevölkert, am Rande des Meeres (1)

Simon bedauerte nach solchen Tagen sehr, dass sich seine Partnerin zu Hause nicht für das Leben hier erwärmen konnte. Diese Kleinstadt, das Meer und alles, was damit verbunden war, bedeuteten ihr absolut nichts. Sie fühlte sich todunglücklich und konnte weder den Menschen, noch der Gegend oder dem gelassenen Lebensrhythmus auch nur das Geringste abgewinnen. Für sie war der Ozean immer gleich und langweilig. Eine Aussage, die Simon erzürnte, denn er fand das Meer faszinierend und zu jeder Zeit immer anders. Er war nicht sicher, wie er sich entscheiden würde, stellte man ihn ernsthaft vor die Wahl: Eine Zukunft mit ihr in der Hauptstadt oder ein Leben hier- ohne sie. Früher oder später würde er sich entscheiden müssen. Im Stillen fürchtete er, auch zur „Generation bindungsunfähig“ zu gehören, von der neuerdings überall zu lesen war und die in allen Medien heiß diskutiert wurde. Auf der anderen Seite war er doch gebunden und sehr verliebt - in sein kleines, einfaches Haus direkt am Strand, in das Meer und die Ruhe des Ozeans, in die Tage und Nächte am Rande des Meeres.
Er erinnerte sich vieler wunderbarer Momente, dachte zum Beispiel an einen kalten, frischen Morgen: So weit man sehen kann, rollen die flachen Wellen an den Strand, bedeckt mit Gischt und weißen Schaumkronen. Sie werden immer flacher und laufen langsam aus, vergehen einfach so, um gleich darauf wieder in anderer Form, wilder oder noch zahmer, zurückzukehren. Dazu ein strammer Wind oder knackige Frische mit einem fast karibisch blauen Himmel und einem menschenleeren Strand. Gibt es Schöneres?
Selbst die bescheuerte Politik seiner reformunfähigen Regierung war weit weg und weniger bedrückend. Die Menschen um ihn herum schienen ihren speziellen Weg und ihre eigene Art gefunden zu haben, mit den großen und kleinen Sorgen und Problemen des Lebens vernünftiger und verantwortlicher umzugehen.

Ab und zu begleitete Laurine Simon mit aufs Boot. Sie half ihm beim Aufrollen der Taue, manchmal steuerte sie bei ruhiger See , vor allem aber unterhielten sie sich. Mit ihr konnte er über alles reden. Auch wenn sie von der Herkunft, wohl auch von den Erwartungen ans Leben oder ihrer wirtschaftlichen Situation her ziemlich verschieden waren, bestand ein unglaublicher Gleichklang ihrer Empfindungen und Gedanken. Es gab so etwas wie eine Seelenverwandtschaft, nur eben auf zwei verschiedenen Ebenen. Ein starkes Band zwischen ihnen war ohne Zweifel ihre gemeinsame Liebe zum Meer und dem damit einhergehenden Leben unter Menschen, die sie verstanden und beide gleichermaßen schätzten. Sicher spielten auch Erotik und gegenseitige sexuelle Anziehung eine Rolle. Sie hatten oft in sturmgepeitschten Nächten – jeder für sich alleine - die wildesten Phantasien und tollsten Sex. Soweit kam es nur nicht. Als sie mal nach einem entspannten und gemütlichen Abend bei Laurine – sie hatte ihn zum Abendessen eingeladen – darüber sprachen, waren sie sich einig, vermutlich den richtigen Zeitpunkt versäumt zu haben. Offensichtlich sollte es nicht sein, zumindest noch nicht, obwohl sie sich schon recht lange kannten und um ihre gegenseitige Zuneigung wussten. Möglicherweise wollten sie sich auch vor Enttäuschungen schützen und etwas bewahren, das mehr wert war als eine vorübergehende Affäre, etwas das tiefer und anhaltender wirkte. Vielleicht war ja auch Laurine nicht bindungsfähig oder nicht mehr willens, eine verpflichtende Beziehung einzugehen. Simon wusste es nicht, denn dazu hatte Laurine zu wenig aus ihrem früheren Leben preisgegeben. Sie besaßen jedoch etwas, das ihnen wichtiger war als Sex und Bett, nämlich einen Ort, an dem sie sich angenommen fühlten, an dem sie angekommen waren und an dem sie glücklich sein konnten. Sie teilten und liebten etwas, das für beide wertvoller war als alle anderen Besitztümer, sie teilten die Liebe zum Meer - und noch etwas, nämlich die Liebe zu einem Song, der genau all das ausdrückte: La mer et l`amour (Das Meer und die Liebe) – was für ein Titel!

Es gab noch anderes, das Simon mehr und mehr in seinen Bann zog, das ihn nicht mehr los ließ. Besonders mochte er die sommerlichen Sonnenuntergänge. Er fand es jedes Mal aufs Neue faszinierend, wenn die Abendsonne entlang den untergehenden Strahlen das Meer in flüssiges Gold verwandelte. Die wenigen Wolken explodierten vor Farbe, von dunkelrot bis tiefblau. Das verbleibende Licht war milde, friedlich und von einer Ruhe, wie man sie wohl nur hier fand - eine ganz besondere Stimmung, die gleichzeitig glücklich machte, aber auch demütig und nachdenklich.
Unvergesslich aber und unvergleichlich eindrucksvoll waren die hellen Vollmondnächte. Fast taghell erschien der Ozean als unendliche Weite aus purem Silber. Hier und da ein Stern am Himmel, die Dünen davor schemenhaft und geheimnisvoll, aber klar zu erkennen. Ganz draußen das Licht eines Fischerbootes, dazwischen schaukelten sich die sanften Wellen unaufhörlich und seit Jahrmillionen an den Strand. Das Licht des Leuchtturms am anderen Ende der Bucht glitt sacht und leise über das silberne Meer, verweilte etwas, zog sich zurück und kam dann wieder. Ab und zu schob sich eine Wolke vor den Mond. Dann wurde es dunkel, so als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Die Wolkenränder waren nun tiefrot, fast bedrohlich. Nach ein paar Minuten erstrahlte wieder alles im Silber des hellen Mondes, gespenstisches Licht beherrschte erneut das Meer und die Dünen. Man konnte sie fast sehen, zumindest erahnen, die Feen und Dämonen aus Urzeiten, wie sie diese hellen Nächte zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang nutzten, um wieder zum Leben zu erwachen und die guten Menschen zu belohnen und den schlechten das Fürchten zu lehren oder sie zur Umkehr anzuhalten. Schemenhaft waren Bäume, Büsche und Pfade der Dünen und draußen die silbernen Wellen zu erkennen. All das überstrahlt vom hellen Licht eines Mondes, wie man ihn so groß, so hell und so nah nur hier sehen kann – hier am Rande des Meeres.
Nie stimmte Simon der Aussage Adalbert Stifters mehr zu, der meinte: Nach dem Sternenhimmel ist das Meer das Größte und Schönste was Gott erschaffen hat. (2)


Auch Sturm und wirklich schlechtes Wetter (das gab es auch) hatten ihren Reiz. Das aufgewühlte und brodelnde Meer schuf eine ganz besondere Atmosphäre. Man fühlte sich den Urgewalten des Ozeans nahe und konnte erahnen, wie gewaltig diese braun-grauen Wassermassen waren und welche Zerstörungen sie anrichten konnten. Der ohrenbetäubende Lärm, mit dem meterhohe Wellen gegen die Dünen donnerten und dabei alles mitrissen und an den Strand warfen, übertönte sogar die wilden Schreie der verängstigten Möwen. Auch wenn es abartig schien, Simon genoss diese Momente, in denen er so nahe wie möglich an den Rand der Dünen ging und die entfesselten Elemente beobachtete. So konnte man sich die Hölle oder den Hades vorstellen – alles verschlingend und nichts verzeihend. Die schnell über den Himmel jagenden schwarzen oder dunkelgrauen Wolken, die laufend ihre Form und Farbe wechselten, dabei aber immer bedrohlich wirkten, verstärkten diese spezielle Stimmung noch. Simon ließ seine Gedanken und Erinnerungen mit den Wolken über das Meer rasen, zu fernen Orten und realen Begebenheiten, aber auch ganz weit in das Reich der Phantasie. Man konnte sich kaum vorstellen, dass am nächsten Morgen das Meer wieder ruhig und friedlich, nahezu unbewegt, daliegen würde und sich kleine, weißbedeckte Wellen unschuldig dem sauberen Strand näherten. Über allem ein sonniger, blauer Himmel mit einer Luft, wie sie klarer und frischer nicht sein könnte. Aus dem unheimlichen und abweisenden Ozean wurde wieder das einladende, smaragdgrüne oder azurblaue Wasser, von dem ein altgriechischer Lyriker sagte, es sei das vornehmste Element. (3)
Simon hatte inzwischen entschieden, wo er sein wollte, wohin er gehörte Er wusste, was er wirklich liebte, wo seine Zukunft lag, genau hier, am Rande des Meeres.
(Copyright Heinz Werner)
(1) Nicolas Guillen: Kubanischer Dichter
(2) Adalbert Stifter: Dichter und Schriftsteller geb. 23. Okt. 1805, gest. 28. Jan. 1868
(3) Pindar: etwa 518 – 442 v. Chr. – altgriechischer Lyriker

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.06.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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