Jessica Tavaglione

Qualen vor dem Unterricht

Mein Wecker klingelte laut, auf dem Display war zu erkennen, dass es 6.30 Uhr am Morgen war.  Es versprach ein warmer Tag im Juni zu werden, denn die Sonne leuchtete hell in mein Zimmer und brachte das warme Orange meiner Wände zum Leuchten. Sie kitzelte an meiner Nase und ich schlug meine blau-grünen Augen nur auf, um mich anschließend wieder unter meiner Bettdecke zu verkriechen. Ich wollte wirklich nicht aufstehen. Das Bett war warm und weich, ich genoss es hier noch eine Weile liegen zu bleiben.

Als es langsam spät wurde, stöhnte ich leise und tastete ich auf dem Nachttisch nach meiner Brille. Ich setze sie auf, kroch aus dem Bett und ging ins Bad um mich zu waschen. Ich betrachtete –wie jeden Morgen- eine kleine Weile mein Spiegelbild. Eigentlich konnte ich nur die blaue Brille mit den kleinen runden Gläsern sehen. Die langen Haare hingen schlaff neben meinem Gesicht und desto länger ich mich betrachtete, desto wütender wurde ich. „Wie kann ein Mädchen nur so hässlich sein?“, fragte ich mich. Ich hasste mein Spiegelbild. Heiße Tränen stiegen in mir auf und ich schlug feste gegen die Wand, bevor ich es endlich schaffte mich zu waschen. Ich spürte den Schmerz in meiner Hand kaum, während ich meine Zähne zu fest und zu lange putzte. In den Spiegel blickte ich dabei nicht mehr. Ich konnte den Anblick kaum ertragen.

„Die Anderen sollten dich mögen, so wie du bist“, sagte ich mir wie ein Mantra vor, während ich sorgfältig Kleidung für den Schultag auswählte. Das sagten mir meine Eltern immer, wenn ich mich darüber beklagte, dass ich zu klein sei, oder zu hässlich oder zu unsportlich. Inzwischen hatte ich mich wieder etwas beruhigt und schaute optimistisch auf den kommenden Tag: „Vielleicht ist der Tag heute nicht so schlimm? An manchen Tagen werde ich schließlich auch ignoriert, auch wenn diese Tage seltener geworden sind. Schnell habe ich mir noch eine Scheibe Brot geschmiert, den Rucksack genommen und dann musste ich auch schon los. Inzwischen musste ich mich etwas beeilen, damit ich nicht zu spät kam.

Ich achtete immer darauf, dass ich nicht zu früh losging, damit ich nicht allzu lange in der Klasse sitzen musste, ohne dass ein Lehrer anwesend war. Zügig schritt ich also das Waldstück entlang und kam genau um 7.49 Uhr an der Klasse an. Pünktlich, genau eine Minute vor Unterrichtsbeginn.
Ich öffnete die Tür mit klopfendem Herzen und meine Klassenkameraden saßen verteilt auf oder an den Tischen, kaum einer auf seinem Platz. Ich schlich mit einem ziehen in der Brust hinein und hoffte, dass niemand mich sehen konnte, wenn ich nur leise genug war und nicht weiter auffiel. Ich hielt die Augen gesenkt und den Kopf eingezogen, während ich kaum zu atmen wagte. Natürlich saß ich ausgerechnet auf dem vordersten Platz in der Klasse. Weil ich viel kleiner war, als die anderen und zudem sowieso schlecht sah, war es nur logisch das ich dort sitzen musste. Neben mir saß niemand. Nur wenn jemand zu laut war, musste er sich dann neben mich setzen.

Ich saß noch nicht ganz, da kam ein Mitschüler auf mich zu. Er war schon ein Jahr bei uns, weil er die sechste Klasse wiederholen musste. Er musterte mich unverhohlen mit einem breiten Grinsen im Gesicht: „Ey Brillenschlange, gib mir deine Hausaufgaben. Ich hab meine nicht.“ Mit einem leichten Lächeln im Gesicht und rasendem Herzen kramte ich in meiner Schultasche und gab ich meine Hausaufgaben ab. „Vielleicht mag er mich dann“, huschte ein kleiner Hoffnungsschimmer durch meine Gedanken, während ich mein Buch und mein Etui aus der Tasche griff, obwohl ich eigentlich nicht daran glaubte. Ich hasste ihn sowieso. Ich hasste ihn so sehr. Aber ich wollte doch gern, dass er mich mochte. Oder jemand anderes. Wenigstens eine oder einer aus der Klasse. Wenn er mich nur nicht hassen würde. Dann wäre die Schule vielleicht nicht ganz so schrecklich. Aber eigentlich hätte es mir auch gereicht, wenn er mich einfach aus Dankbarkeit für meine Hausaufgaben ignoriert hätte, anstatt mich –wie gewöhnlich- mit irgendwelchen Gemeinheiten zu quälen.

Die Lehrerin war auch nach 5 Minuten noch nicht da, dafür war der blonde Junge mit den strahlend blauen Augen dann fertig mit meinen Hausaufgaben. Er riss mich aus meinen selbstzerfleischenden Gedanken, die sich mit der Frage beschäftigten, warum ich eigentlich so ein fürchterlich hässlicher Mensch war und dass sicher alles besser wäre, wenn meine Augen nicht so groß und meine Brille einfach nicht anwesend wäre. Wenn ich groß wäre und blond. Dann hätten die anderen keinen Grund mehr mich zu beleidigen. Auch wenn meine Eltern immer behaupteten, sie suchen Gründe. Für mich waren all diese Gründe offensichtlich und nur daran lag es, dass mich niemand mochte. Daran und an meinen guten Noten.

Er hielt mir mein Heft hin, nur um es dann wieder weg zu ziehen. Dabei lachte er höhnisch. Er hielt es mir wieder hin und machte das Spiel mit mir drei Mal. Als ich den heißen Tränen der Wut schon nahe war, zerriss er unter dem johlen seiner Freunde mein Heft, während ich hilflos mit einer Mischung aus Angst und Wut den Bewegungen seiner Hände zusah. Dabei erklärte er mir, dass es der Lehrerin wohl auffallen würde, wenn wir beide die gleichen Lösungen hätten. Er drohte mir: „Wehe du sagst der ein Wort. Dann wirst du nach der Schule sehen.“ Der drohende Blick und die dunkle Stimme ließen mir den Magen zusammen ziehen. Ich wusste genau wovon er sprach. Ich hatte es schon oft genug erlebt. Szenen einiger Erinnerungen stiegen mir vor die Augen. Vor Wut und Angst zitternd, saß ich dann in Tränen aufgelöst an meinem Platz und die Gedanken rasten durch meinen Kopf: „Ich werde ärger von der Lehrerin bekommen. Meine Mutter wird ausflippen, wie soll ich ihr erklären, dass das neue Heft nicht mehr da ist? Warum sind die anderen so gemein zu mir? Warum kann ich nicht mehr so sein, wie meine Mitschüler? Warum bin ich nur so klein und deshalb nicht fähig mich zu wehren? Wäre ich doch nur etwas stärker.“

Meine Gedanken wurden von der Kreide, die auf mich zuflog unterbrochen. Nun bewarf mich der Junge mit Kreide. Jetzt war Schluss! „Ich lasse mir das nicht mehr gefallen!“, dachte ich mit einem kleinen Anflug von Jähzorn, und bewarf den Jungen, der gerade einem anderen Klassenkameraden mein zerschundenes Heft in die Hand gedrückt hatte, mit allem was ich in die Hände bekam, vorrangig mit der Kreide, die um mich herum auf dem Boden oder auf meinem Tisch lag. Vor Belustigung lachend wich der Junge jedem Kreidestück aus. Meine Wut wurde proportional zu seiner Belustigung und meiner Treffunsicherheit weiter angefacht. Just in diesem Moment betrat die Englischlehrerin den Raum. Bevor ich Luft holen und mich bei ihr beschweren konnte schrie sie mich an, ich solle das lassen, sonst würde sie mich zur Rektorin schicken. Was mir eigentlich einfiele. Mit hochrotem Kopf versuchte ich die Situation zu erklären, im Grunde stammelte ich nur einige unverständliche, zusammenhanglose Worte.
Die Lehrerin fragte in der Klasse nach, aber niemand wollte etwas gesehen haben. Einer behauptete sogar ich hätte Grundlos angefangen meinen Mitschüler zu bewerfen. Die Lehrerin schüttelte den Kopf, wollte dann aber nicht weiter auf die Situation eingehen. Sie schwenkte dann um und bat und die Hausaufgaben offen zu legen, damit sie kontrollieren konnte, wer sie gemacht hat. Kurz bevor sie bei mir ankam, drehte ich mich instinktiv um, da ich den bohrenden Blick auf meinen Rücken spürte. Er schaute noch einmal drohend zu mir, dann drehte ich mich wieder nach vorn. Die Lehrerin stand an meinem Tisch und wieder wurde mein Gesicht rot. Ich stammelte ich hätte mein Heft verloren, konnte aber nicht auf ihre Frage antworten, wie und wo man so ein Heft verliert. Also bekam ich auch wegen der fehlenden Hausaufgaben ärger und wurde für den Nachmittag zum Nachsitzen einbestellt. Ich traute mich nicht etwas wegen der Hausaufgaben zu sagen. Ich wusste genau, dass ich das bitterlich bereuen würde. Das würden sie mir heimzahlen. Lieber nahm ich den Ärger meiner Mutter in Kauf. Wie in Trance flog die Stunde an mir vorbei. Ich hörte immer wieder die Worte der Lehrerin in meinem Kopf: „Ich dachte du wolltest auf das Gymnasium? So wird das aber nichts mehr. Was ist nur los mit dir?“, die Tränen schossen mir immer wieder in die Augen und ich hatte einen Kloß im Hals. Ich hätte mich gar nicht beteiligen können. Das ich Nachsitzen musste, hatte auch einen Vorteil. So waren die anderen wenigstens längst Zuhause und konnten mich nicht auf dem Weg abfangen. Dieser Gedanke tröstete mich so sehr, dass ich mich beruhigte und den Rest des Tages am Unterricht teilnehmen konnte.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.06.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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