Christian Berg

1979

 

Einer der aufregendsten, (ein-)prägendsten, unvergesslichsten, mit vielen positiven Emotionen behafteten Abschnitte in meinem Leben begann einige Monate nach meinem 15. Geburtstag und dauerte ungefähr zwei Jahre und drei Monate ...

Bis dahin war ich ein normaler Junge vom Land gewesen. Ich lebte in einem Tausend-Seelen-Dorf, welches wiederum "eingemeindet" war von einer Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern. Ich besuchte die 9. Klasse eines Gymnasiums und war beeinflusst von einigen älteren Mitschülern und ein paar ziemlich intelligenten Schulkameraden.

Ich war schon viele Jahre Musikbesessener gewesen. Angefangen mit der Single-Sammlung meiner Eltern, die ich als 6-Jähriger rauf- und runternudelte - und leider auch zerkratzte, über meinen Einstieg als allsamstäglicher Hörer der "Internationalen Hitparade - direkt vom Plattenteller" mit Wolf-Dieter Stubel des NDR, mit 9 Jahren, bis zu meinen ersten LPs von Suzi Quatro und Sweet.

Sweet wurde dann als meine Lieblingsband von den Beatles abgelöst, ich bastelte mir sogar mein eigenes "Beatles-Buch", indem ich die Seiten eines "Schneider"-Kinderbuches mit Blankopapier überklebte, und sie anschließend vollschrieb.

Zu dieser Zeit nannte ich schon eine stattliche Single-Sammlung mein Eigen (die ich dann leider mit 15 meinem besten Freund gab - der so respektlos war, die Schallplatten gleich anschließend auf dem Flohmarkt zu verscheuern).

So ging das weiter bis 1977, ich war 13. Meine Musik war Charts-Musik, die "Internationale Hitparade" und die britische "Top Twenty" mit Tommy Vance auf BFBS meine Lieblings-Sendungen.

Dann kamen - in der 8. Schulklasse - drei ein Jahr ältere Jungs auf meine Schule und in unsere Klasse - sitzen geblieben. Sie wurden meine Freunde ... und sie änderten meinen Musikgeschmack.

Ich hörte fortan Rock-Musik - angefangen mit spätsechziger Hippie-Musik, Iron Butterfly, Steppenwolf, über Pink Floyd, Deep Purple, Genesis, Santana und Led Zeppelin bis hin zu Bob Seger, Camel, Al Stewart und Dire Straits. Ich besaß "Rock dreams" von Guy Peellaert und das "Rock-Lexikon" von Graves und Schmidt/Joos. Ich sog beide Bücher in mich auf, kannte die Namen sämtlicher Bandmitglieder der einschlägigen Bands und wurde schnell "das wandelnde Rock-Lexikon" genannt.

Ich begann mich politisch zu orientieren - nach links, wieder beeinflusst von einigen Mitschülern und Schulkameraden. Ich sympathisierte mit der Anti-Atomkraft-Bewegung (ich habe noch heute den "Atomkraft? Nein Danke"-Kalender 1979), las "Konkret" und den "Roten Rebellen", das Jugendmagazin der KPD/ML - das war meine ziemlich unreflektierte und undifferenzierte Grundhaltung als 15-Jähriger.

Im "Roten Rebellen" las ich von der Tom Robinson Band. In den Hitparaden-Sendungen hörte ich frühe Singles von The Jam oder den Stranglers.

Meine Print-Informationsquellen zu aktueller Musik hätten damals unterschiedlicher nicht sein können: der "Rote Rebell", die "BRAVO", der "GOVI LP-Express" eines großen Schallplatten-Versandhändlers und schließlich der "Musikexpress". In der "BRAVO" hatte ich schon ausgiebig Bilder und Poster der Sex Pistols gesehen. Im "GOVI LP-Express" war "Rocket to Russia" von den Ramones Platte des Monats gewesen ...

Das lief zunächst noch nebenher: In der ersten Jahreshälfte 1979 hörte ich Dire Straits, Bob Seger, George Thorogood und Wishbone Ash, "Breakfast in America" von Supertramp war eine meiner Lieblingsplatten und Camel meine zeitweilige Lieblingsband.

Doch gleichzeitig begeisterte ich mich für die Stranglers und kaufte mir deren erste drei LPs. Ich besaß die erste Platte von DEVO, die erste Nina Hagen, "This year's model" von Elvis Costello, "Parallel lines" von Blondie, "Teuflisch" von Kiev Stingl, "New boots & panties" von Ian Dury. Irgendwann hatte ich auch "Rocket to Russia" und die erste Ramones-LP. Und "Never mind the bollocks" der Sex Pistols.

1978 hatte ich im Schulbus Lothar kennengelernt. Ich glaube, dass er mich ansprach, weil ich damals regelmäßig Tüten mit LPs dabei hatte, die ich in der Schule verlieh oder entlieh.

Wir begannen uns über Musik auszutauschen. Dann liehen wir uns gegenseitig Platten aus und wurden beste Freunde.

Zunächst arbeitete ich mich noch durch die Hippie-Musik-Sammlung des älteren Bruders von Lothar. Da waren ganz üble Machwerke dabei: Ash Ra Tempel, Amon Düül, die Platte "Lie" von Charles Manson, das Mahavishnu Orchestra ...

Doch Lothar und ich begannen uns gleichzeitig für Punk und New Wave zu interessieren. Von Lothar lieh ich mir "The Scream" von Siouxsie & The Banshees und "At the Chelsea nightclub" von den Members.

Es war schließlich das Buch "Rock Session 2", das ich Mitte 1979 in Teilen las, und insbesondere die darin enthaltene Geschichte "The Punk. 'n Roman" von Gideon Sams, die mich endgültig zum Punk werden ließen. Vielleicht konnte ich Parallelen finden zwischen des Helden Beziehung zu seinen Eltern und meinem eigenen Verhältnis zu den meinen. Ich fühlte mich von meinen Eltern nicht verstanden, eine alte Geschichte, die auf ihr Verhalten angesichts meiner ersten Verliebtheit zurückging. Mein Vater war Schichtgänger und entweder nicht da, tagsüber schlafend oder häufig dünnhäutig ob der Belastung des Schichtdienstes. Er spielte zwar mit mir Fußball und Schach, und ihm gefielen einige Rock-Sachen, die ich 1978 ins Haus brachte, Michael Rother, Pink Floyd, Electric Light Orchestra ... Doch häufig gab es heftige Streitereien zwischen meinen Eltern, in die ich mich dann auch einmischte - und es gab auch Schläge. Meine Mutter war immer verständnisvoll ohne mich zu verstehen, bisweilen larmoyant, zu negativ.

Vielleicht berührte mich auch einfach nur das tragische Ende der Geschichte, in dem Adolph und Thelma erstochen werden. "The Punk. 'n Roman" erinnerte mich auch an die Geschichten der von James Dean gespielten Helden in "Jenseits von Eden" und "... denn sie wissen nicht was sie tun" - beide Filme hatten mich zutiefst beeindruckt.

Ich fühlte mich nun anders, hörte andere Musik, zog mich anders an, lebte anders: intensiver!

Das Wichtigste an Punk war für mich selbstverständlich die Musik. Die immer schneller auf mich zukommenden neuen Songs, neuen Sounds, neuartigen Texte, neuen Stile bewirkten ganz klar eine Stimmung von Aufbruch bei mir, ich tanzte in meinem Zimmer, ich tanzte auf Partys, ich gab mich den schnellen Rhythmen hin, ich lebte auf, ich hatte plötzlich überschäumende Energie. Das war alles komplett anders als die Rock-Musik, die ich vorher gehört hatte. Die Musik war alt. Ich hörte sie zwar gerne - aber das war auch schon alles. Rock-Musik machte nichts, absolut nichts mit mir.

Ich war nicht arm, ich wuchs behütet in einer Mittelklassen-Familie auf. Das Leben in der Kleinstadt war langweilig. Ich hatte die üblichen Teenager-Komplexe, wusste nicht, wie ich Mädchen gegenüber auftreten sollte, war neidisch auf ältere Jungs, auf die meine Mitschülerinnen flogen. In meinem - sehr überschaubaren - Freundeskreis war ich der Kleinste und der Jüngste. Es war dann erst mal eine große Mutprobe, in Buxtehude mit hochgeföhnten, gesprayten und gefärbten kurzen Haaren, zerrissenen Jeans, einer dreckigen, kaputten Lederjacke und Sicherheitsnadeln rumzulaufen. Ich war dort damals der einzige Punk. Es baute mich auf, wenn ich die Mutprobe jeden Tag bestand, ich fühlte mich "besonders".

Der dritte Aspekt war eine Art Auflehnung. Auflehnung gegen die rechts-konservative, diktatorische Schulleitung und deren Bevormundung. Auflehnung gegen meine Eltern ...

Musikalisch differenzierte ich nicht groß zwischen Punk und New Wave, beides war für mich gleichsam energetisch, frisch, spannend, mitreißend. Ich erkannte wie öde die Rock-Musik war, die ich in den Vorjahren gehört hatte - und rückte ganz entschieden und vehement von ihr ab. Meine Begeisterung beim Entdecken neuer Musik kannte hingegen keine Grenzen ... und der Horizont wurde größer:

Angefangen mit Pop-New Wave wie den Boomtown Rats und Police, über "Play loud" von den B-52's (zu der wir eine wilde Party bei Lothar durchtanzten) und "Singles going steady" von den Buzzcocks bis hin zu "richtigem" Punk wie den Ramones, "New rose" von den Damned, "Blank generation" von Richard Hell, "Babylon's burning" von den Ruts und vor allem "I'm an upstart" von den Angelic Upstarts.

... und dann wurde auch eine meiner Stammsendungen im Radio interessanter: "Musik für junge Leute" im NDR. Dort wurde gelegentlich Alfred Hilsberg als Gast eingeladen. Bei ihm hörte ich nicht nur zum ersten Mal Songs aus "The scream" von Siouxsie & The Banshees, sondern auch ganz andere "New Wave": "Herrenreiter" von Mittagspause oder "Es brennt" von Hans-a-plast.

Ich erinnere mich, dass ich im Herbst 1979 vor allem einige Compilations immer wieder abspielte, und diese einen immensen Eindruck auf mich machten: "New Wave", knallrotes Cover mit dem Foto eines Punks, der eine Dose Bier in der Hand hält, das er provozierend in Richtung Kamera schleudert. "That summer!", "Sharp" und schließlich "New Wave - Wer hat Angst vor den 80er Jahren", ein Doppel-Album mit einem breiten Spektrum an New Wave, Punk, Pop und den ersten elektronischen New Wave-Bands.

Um ehrlich zu sein, fällt es mir schwer, heute - 37 Jahre später, 52-jährig - meine Gefühle beim Hören dieser Compilations zu rekapitulieren. Die Musik machte auf mich einen neuartigen, überwältigenden Eindruck, ich hatte damals noch nie etwas Derartiges gehört. Das hatte deshalb auch etwas Geheimnisvolles an sich ... Die Musik kam mir teilweise unfassbar schnell vor, die aggressive Wut, die sich durch die Geschichte von Gideon Sams zieht, spürte ich in einigen Songs ganz deutlich - "I'm stranded", "Blank generation" ...

Lothar versorgte mich mit den Slits, Penetration, Tubeway Army, XTC und Ultravox. Unsere Bandbreite sollte dann im Folgejahr, 1980, noch bedeutend größer werden.

Meine wichtigste Quelle zum Kennenlernen neuer Musik war Ende 1979 aber noch die "Top Twenty"-Sendung auf BFBS. Das mag überraschen, wenn man es 2016 liest, und Tausende unerträgliche Chart-Hits der vergangenen dreißig Jahre in schmerzvoller Erinnerung hat. Doch damals waren viele Songs in den Charts nicht nur cool, sondern wirklich interessant, eingängig, erregend ...

Im Grunde genommen war ich damit - nach zweijähriger Unterbrechung - ein wenig zurückgekehrt zu meiner Vor-Rock-Zeit bis 1977 - ich hing am Samstag am Radio und wartete gespannt auf die "Top Twenty" ... nur dass meine Hits nicht mehr "Dancing queen" und "Yes Sir I can boogie" hießen, sondern "London calling" und "Making plans for Nigel" ...

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.06.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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