Christian Berg

1980

 

Ich danke dem Zufall, mich im vergangenen Jahr auf eine mir bis dahin unbekannte Perle gestoßen zu haben: Den Song "Don't forget me" von Captain & Tennille, erschienen auf deren Album von 1980, "Keeping our love warm". Die herzzerreißende Bitte, ja das Flehen einer Ex-Gattin an ihren Ex-Mann, sie nicht zu vergessen - in der gemeinsamen Ehe hätte es nicht nur stürmisches Wetter gegeben, sondern auch Sonne ...

Als "Don't forget me" 1980 erschien, gab es gute Gründe, den Song nicht kennenzulernen. Das Duo Captain & Tennille war in Europa nahezu unbekannt, selbst in den USA war die frühere "Popularität" am Schwinden, "Don't forget me" war irgendein Track auf dem letzten Album des Duos, danach ging die Plattenfirma Casablanca bankrott und Captain & Tennille getrennter Wege.

Und ich nahm solche Musik 1980 einfach noch nicht oder nicht mehr wahr. 1980! Wow, welch ein Jahr, eines meiner besten! Ich war 16 und Punk (oder die Landei-Variante eines Punks, denn ich lebte in einer 30000-Seelen-Kleinstadt, 50 km entfernt von der Metropole Hamburg). Eine meiner Lieblings-LPs von 1980 war Stiff Little Fingers, "Nobody's heroes". Ich hörte die LP rauf und runter. Ich besaß damals auch schon Trommelstöcke, Geschenke meines Onkels aus der DDR. Als ich die Platte dann meinen besten Freunden vorspielte, ging ich so ab, dass ich mit den Trommelstöcken den Rhythmus auf meinen Oberschenkeln mitklopfte und mir damit rote Haut und blaue Flecken holte (im folgenden Jahr sollte ich dann aus dem Erlös der Versicherung für mein gestohlenes Mofa ein richtiges Schlagzeug kaufen und meine erste Band gründen ...).

1980 war ein Jahr vieler erster Male, und die waren so aufregend, wie sie es nur in der Teenager-Zeit sein können.

Irgendwann an einem kühlen Abend im Februar entdeckte ich per Zufall beim Drehen am Radio-Senderknopf "John Peel's Music" auf BFBS, für die nächsten 2 Jahre meine wichtigste Quelle neuer Musik. John Peel war ein britischer Radio-DJ, und in jener Zeit der wichtigste Entdecker, Förderer und Distributor von Punk, New Wave, Ska, Reggae ...

Ich war so verrückt nach dieser Sendung, dass ich sogar des Öfteren samstagnachts um 3 Uhr aufstand, um "John Peel" aufzunehmen. Legendär ist auch eine Situation aus dem Jahr 1981, in der ich das Mädchen, in das ich verliebt war und das ich für mich gewinnen wollte, dadurch brüskierte, dass ich unser Date kurzfristig verließ, um nach Hause zu eilen und "John Peel" zu hören ...

1980 hatte ich bereits eine langjährige Erfahrung als Pop- und Rock-Hörer hinter mir. Doch es war etwas vollkommen anderes, die neue LP von Michael Rother zugeschickt zu bekommen und zum ersten Mal zu hören, oder aber beispielsweise Songs der neuen Undertones-LP zu erfahren, zu erleben, zu durchfühlen. Punk- und New Wave-Musik war viel näher dran an meinem Leben als Teenager, an meinen Emotionen, an meinen Gedanken über das Dasein und die Leute in der Kleinstadt. Dementsprechend vermochte diese Musik mich zu bewegen.

Radio war damals enorm wichtig. Außer John Peel hörte ich "Street heat" mit Stuart Henry auf Radio Luxemburg/Langwelle (LW), "Top Twenty" mit Tommy Vance auf BFBS (heute kaum zu glauben, aber damals waren die britischen Charts voll mit grandiosen New Wave- und Ska-Songs) und teilweise "Musik für junge Leute" und "Der Club" auf NDR, mit Klaus Wellershaus und Gastmoderatoren wie Alfred Hilsberg ...

Ich besuchte mein erstes "richtiges" Konzert (vorher hatte ich nur einige Schülerbands in meiner Kleinstadt erlebt). Mein erstes "richtiges" Konzert, in der großen Stadt Hamburg, war dann ausgerechnet das legendäre und skandalumwobene Konzert von The Clash in der Hamburger Markthalle.

Dass an diesem Abend Ärger in der Luft lag, war mir schon klar, als ich zur Markthalle kam und sah, dass sich die Punks einfach auf die - stark befahrene - Straße vor der Markthalle gesetzt hatten, und diese so lange blockierten, bis die Polizei erschien.

Und The Clash betraten in einem stark an die Rock'n'Roll-50er Jahre erinnernden Einheitsdress die Bühne: glänzende Hemden in Uni-Farben, schwarze Stoffhosen. Das war nicht der akzeptierte Punk-Look mit Lederjacke, zerschlissener Jeans und Turnschuhen. Nein, das war ein Schritt weg von Punk, ein Zitat einer vergangenen Epoche, eine Provokation all jener, die nicht über den eigenen Tellerrand zu schauen vermochten.

Vielleicht hatte ich damals auch schon gehört, dass The Clash bei den Punks als "Verräter" galten, denn sie waren bei einer großen Plattenfirma unter Vertrag und hatten sich mit ihrem damals aktuellem Album "London calling" schon weit von dem ursprünglichen, monotonen Hauruck-Punk im Zweivierteltakt entfernt.

Ganz deutlich wurde mir alles, als The Clash unter Pfiffen auf die Bühne kamen und das Publikum fortan immer wieder Beschimpfungen von sich ließ. Das war kein Konzert, das war Krieg. Krieg zwischen Band und Publikum.

Die Band schaffte nur drei Songs, dann wurde der Sänger und Gitarrist Joe Strummer von einigen Punks an seinem Gitarrenkabel von der Bühne gezogen. Beim Fall ins Publikum verletzte Strummer dann wohl unabsichtlich einen Punk mit dem Hals seiner Gitarre. Daraufhin wurde das Konzert unterbrochen, der Punk wurde ins Krankenhaus gebracht, und die Anti-Stimmung schien nun nur noch extremer geworden zu sein. Erst nach einer längeren Unterbrechung beendete die Band schließlich den Auftritt (und kehrte einige Monate später sogar noch einmal nach Hamburg zurück, diesmal ohne "Krieg").

Apropos "Punk-Look": Ich trug 1980 eine alte, dünne Lederjacke, die ich in der Rumpel-Werkzeug-Kammer meines verstorbenen Opas gefunden hatte. Diese Lederjacke hatte ich, mithilfe meiner Mutter, präpariert: Beide Ärmel waren vertikal aufgeschnitten und mit jeweils einem Reißverschluss versehen. Irgendwo an der Jacke hing eine verrostete Fahrradkette. An anderen Stellen befanden sich einige der damals unvermeidlichen Aufnäher und Badges. Die eingenähten Reißverschlüsse waren sehr praktisch und halfen mir auch beim Clash-Konzert: Ich konnte sie bequem öffnen, die Ärmel meiner Lederjacke hochkrempeln und dadurch weniger schwitzen.

Badges, Poster, Aufnäher, Schlipse, T-Shirts bestellte ich häufig beim Versandhandel "Groovers Paradise", in der Provinz nicht zu bekommende 7"es bei "Flash Records". Ich war dann bei Eingang der jeweiligen Sendung aufgeregt wie ein kleines Kind am Weihnachtsabend.

Einige Wochen nach dem Clash-Konzert brachte die Hamburger Musikzeitschrift "Sounds" einen Artikel über das Konzert, und ich kaufte mir das Heft. Wieder ein Zufall: Vorher hatte ich nur den "Musikexpress" gelesen. Da wurde zwar auch über Punk berichtet, jedoch fast ausschließlich über die bereits bekannteren britischen und amerikanischen Bands. Zudem dominierten im "Musikexpress" überdeutlich genau jene "Boring old farts", gegen die die Punks rebellierten - der überwiegende Teil der im "Musikexpress" besprochenen Musiker hatte seine Wurzeln tief im Rock der 70er Jahre.

Im "Sounds" war das anders, dort hatte Punk und New Wave Priorität. Und es wurde auch über unbekanntere Bands berichtet, deutsche wie britische wie amerikanische.

"Sounds" wurde ebenso beherrschend für meine Entwicklung der nächsten 2 bis 3 Jahre wie John Peel.

Captain & Tennille traten im "Sounds" nicht in Erscheinung ...

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.07.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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