Helmut Wurm

Sokrates und ein drohender EU-Exit

- oder die EU ist zu spät, zu idealistisch und zu uneinheitlich
 
Sokrates steht vor einem großen Zeitungs-Kiosk und betrachtet sich die Überschriften der dort ausgehängten Zeitungen. Das Hauptthema der Titelseiten ist der Ausgang der Brexit-Abstimmung in Großbritannien. Sokrates liest mit ungerührter Miene die Überschriften. Eine Gruppe junger Leute steht ebenfalls vor diesem Kiosk und diskutiert die Überschriften. Die jungen Leute sind ziemlich erregt.
 
Die aufgeregte Gruppe (durcheinander): Sokrates, findest du den Brexit-Entscheid der Briten nicht furchtbar… nicht als Enttäuschung für das Zusammenwachsen Europas… nicht als unüberlegten Gefühlsentscheid der Mehrheit der Briten?
 
Sokrates: Ich habe so etwas prinzipiell befürchtet, nämlich Misstrauensvoten gegen ein zu schnell vereintes Europa. Das Land, wo solch ein Misstrauensvotum zuerst erfolgen würde, ist dabei austauschbar.
 
Die aufgeregte Gruppe: Sokrates, bist du denn nicht für ein baldiges vereintes Europa, für einen europäischen Bundesstaat mit zentraler Regierung? Das ist doch eine Forderung der Zukunft… Ein europäischer Bundesstaat, ein Multi-Kulti-Gemisch, eine Hauptstadt und zentrale Regierung, ein einheitlicher Wirtschaftsraum… Das sind doch notwendige Ideale und Ziele für ein modernes Denken… Was ist denn daran falsch?
 
Sokrates: Daran ist alles falsch, was ihr gerade aufgezählt habt. Gerade das wollen viele Briten nicht und auch nicht viele andere Menschen in anderen europäischen Staaten.
 
Die aufgeregte Gruppe: Das musst du uns erklären, so viel Unverstand können wir uns nicht vorstellen. Du bist also gegen ein vereintes Europa, so wie die Mehrheit der Briten.
 
Sokrates: Lasst mich die Hauptprobleme mit den Schlagworten "zu große Vielfalt", "zu spät", "zu überhastet", "zu idealistisch" und "zu uneinheitlich" kennzeichnen. Ich will versuchen, das genauer zu erklären:
 
- Zu große Vielfalt: Einer raschen europäischen Einigung stehen die geografische und historische Vielfalt der Kulturen und Staaten Europas gegenüber. Es gibt auf der Erde keine Region, die eine solche räumliche und kulturelle Vielfalt aufweist wie Europa. Da gibt es Gebirge und Flachländer, warme und kalte Zonen, Kleinkammerung und Großkammerung, verschiedene Sprachen, Religionen und kulturelle Traditionen… Eine solche Vielfalt kann man nur sehr allmählich auflösen.
 
- Zu spät: Eine europäische Einigung hätte spätestens nach dem 2. Weltkrieg über ein Europa der Vaterländer eingeleitet werden müssen. Aber damals hat der kalte Krieg zwischen den kommunistischen und nichtkommunistischen Staaten solche Überlegungen überlagert und blockiert.
 
- Zu überhastet: Nach dem Zusammenbruch des totalitären Kommunismus in Russland und Europa hat man zu überhastet das Versäumte nachholen wollen, ohne zu bedenken, dass sich die europäische Vielfalt nicht in wenigen Jahrzehnten ausgleichen lässt. Man hat die jeweiligen kulturellen Traditionen in ihrem Beharrungsvermögen, gerade bei den älteren Generationen, unterschätzt.
 
- Zu idealistisch: Nach den politischen Bösmenschen sind nun  Gutmenschen in politische und kulturelle Positionen aufgerückt und wollen mit der Brechstange Europa verbessern. Solche Gutmenschen leben meistens nicht in machbaren, vernünftigen Realitäten, sondern in  idealistischen Hoffnungen und Illusionen ihrer Fantasien. Sie basteln sich nun eine EU zusammen, welche die meisten Europäer so noch nicht wollen. Die meisten Menschen in Europa wollen nämlich kein Aufgeben ihrer regionalen/nationalen Traditionen und eine neue europäische Mischkultur, sondern legen Wert auf den Erhalt ihrer Traditionen und Lebensgewohnheiten. Für die meisten Europäer liegt der Wert eines Zusammenwachsens der europäischen Staaten hauptsächlich nur in einem europäischen Binnenmarkt, der den Wohlstand und die Reisefreiheit fördert. Deswegen haben die Briten in der Mehrzahl für einen Brexit gestimmt. Als Bürger eines Staates, der einmal ein Weltreich aufgebaut hat und dessen Sprache Weltspreche geworden ist, will man sich nicht von EU-Bürokraten und Gutmenschen vorschreiben lassen, was man tun und nicht tun darf. Wer das nicht versteht, sollte sich aus der europäischen Politik zurückziehen.
 
- Zu uneinheitlich: Die Gründe der einzelnen Staaten an einer Mitgliedschaft in der EU sind vielfältig-einseitig. Es handelt sich um Reisefreiheit oder um einen bequemen Binnenmarkt, um ein einheitliches Zahlungsmittel, um Anhebung des Wohlstandes, die Förderung des Tourismus, wirtschaftliche Hilfen in Form von Krediten oder speziellen Handelsabkommen, Verteilung der inländischen Arbeitslosen über den europäischen Binnenmarkt, Schutz durch eine europäische Armee usw. Aber kaum ein Staat strebt alle diese Vorteile in Gänze an.
 
Denn gleichzeitig gibt es vielfältige Vorbehalte/Sonderwünsche, wie z.B. Einschränkungen bei der Aufnahme von Fremdarbeitern und Migranten, Erleichterungen bei der Rückzahlung von Krediten, Beibehaltung von Grenzkontrollen, Zurückhaltung bei einer übergreifenden  Verbrechensbekämpfung, unterschiedliche Einzahlungen in die gemeinsame EU-Kasse, Beibehaltung regionaler Gesetze und Traditionen usw.
Das alles destabilisiert eine europaweite allgemeine Zustimmung zu einem EU-Staat.
 
Die aufgeregte Gruppe: Sokrates, deine Argumente und Analysen machen nachdenklich. Wie wird es deiner Einschätzung nach weiter gehen mit Europa?
 
Sokrates: Das weiß ich auch nicht, es gibt verschiedene Zukunftsmöglichkeiten. Dabei sollte man den klugen Spruch von Wilhelm Busch berücksichtigen: "Und erstens kommt es anders und zweiten als man denkt". Ich denke an folgende mögliche Zukunftsmodelle:
 
- Die EU zerfällt allmählich und bleibt vorerst nur als gemeinsamer Binnenmarkt weiter besteht.
 
- Es bildet sich eine Rest-EU weitgehend nur noch aus den mitteleuropäischen Staaten.
 
- Die jetzige EU mindert die Bedeutung von Brüssel und Straßburg und gibt wieder wichtige Kompetenzen an die Einzelregierungen zurück. Das wäre nach meiner Ansicht ein guter Weg für einen Erhalt der EU, denn das würde Ängste vor Bevormundungen abbauen.
 
- Aus Afrika und Asien kommen gewaltige Migrationswellen und überlagern das ganze EU-Planen. Charismatische Migranten-Politiker einen diese Migranten und gestalten die Zukunft Europas neu und nach ihren Vorstellungen. Ich halte das langfristig für möglich.
 
- Gewaltigen Zukunfts-Migrationen bringen vielfältige Uneinigkeiten mit nach Europa und Europa zerfällt allmählich in Bürgerkriegen, Ethnokriegen, Glaubenskriegen, Kriegen um die besten Lebensregionen, Wirtschaftskriegen usw. Das wäre furchtbar.
 
Die Gruppe (jetzt nachdenklich): Das ist ja eine lange Antwort auf den Brexit und das sind keine positiven Aussichten, die du uns präsentierst. Aber meistens sind Realitäten weniger positiv als Träume von Gutmenschen und Idealisten. Wir werden darüber nachdenken.
 
(Aufgeschrieben im Juni 2016 vom discipulus Sokratis, der dieses Gespräch miterlebte)
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.07.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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