Manfred Bieschke-Behm

Gelbe Rosen oder die Gedanken sind frei


 Ein Tag, wie Ilse ihn mochte. Wenige Wolken am Himmel denen man gerne zusah wie sie aneinander vorbeizogen, sich trafen und vereinten. Die Sonne überstrahlte alles. Die Luft war seidig. Sie im Gesicht zu spüren tat gut. Nicht mehr für Ilse. Ilse war tot. Einfach gestorben.
Viele Trauernde waren gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie hielten eine gelbe Rose in ihren Händen und blickten fassungslos auf den mit Ilses Lieblingsblumen geschmückt Sarg. Unter den Anwesenden befanden sich auch Mitglieder des Laienchores, in dem Ilse über viele Jahre hinweg Mitglied war. Sie hatten sich eingefunden, um ihrem Mitglied zum Abschied ihr Lieblingslied zu singen.
Zwischen den Abschiedsnehmenden stand ein dunkel gekleideter älterer Herr. Mit beiden Händen umklammerte er einen großen Strauß gelber weit aufgeblühter Rosen. Keiner schien den Mann zu kennen. Immer wieder wagten einige einen vorsichtigen Blick zu ihm hinüber. Nur einer der Anwesenden hatte eine Vermutung, war sich aber nicht sicher.
Der Chor sang „Die Gedanken sind frei“, Ilses Lieblingslied. Wann immer dieses Lied im Chor geprobt wurde war Ilse glückselig. Das eine oder andere Mal erzählte sie, dass sie die Melodie und den Text über alles liebe. Immer und immer wieder könnte sie dieses Lied singen. Es bedeutete ihr viel. Es bewegte sie von freien Gedanken zu singen, die keiner verbieten kann und die keine Grenzen kennen.
Herbert Bergemann, der dunkelgekleidete Herr, blickte wiederholt hinüber zu dem Mann mit dem gelben Rosenstrauß. Er sah, dass es ihm schwer fiel sich aufrecht zu halten. Plötzlich löste sich eine Rose aus seinem Strauß und fiel zu Boden wobei ein Blütenblatt abbrach. Herbert Bergemann sah was geschehen war und ging zu dem Mann um seine Hilfe anzubieten.
„Ich habe das Gefühl, Sie benötigen Hilfe“, erklärte Herbert Bergemann sein Erscheinen und hob die am Boden liegende Rose auf. Das Blütenblatt ließ er liegen.
„Danke. Es geht schon“, lautete die gequälte Antwort. Nur mit Mühe schaffte es der Mann die einzelne Rose zwischen die anderen zu stecken und standhaft zu bleiben.
„Kommen Sie, setzen Sie sich“, forderte Herbert Bergemann den dunkel gekleideten Mann auf.
Unverändert die Rosen in beide Hände haltend setzten sich die Herren auf eine Bank die unmittelbar für sie erreichbar war. Andächtig lauschten beide was der Redner am offenen Grab über Ilse zu sagen hatte. Der Mann mit dem Blumenstrauß vergoss Tränen die wie Tautropfen auf einigen Rosenköpfen hängen blieben.  
Die offizielle Trauerfeier war beendet. Allmählich löste sich die Gruppe der Abschied nehmenden auf. Die Männer blieben auf der Bank sitzen ohne zu wissen weshalb. Endlich durchbrach Herbert Bergemann die Stille in dem er sich vorstellte und sich erkundigte was ihn mit Ilse verbindet.
„Das ist eine lange Geschichte“, begann der Mann mit den gelben Rosen, der sich als Bernd Fleischhauer vorstellte „das ist eine lange Geschichte“
„Möchten Sie mir die Geschichte erzählen Herr Fleischhauer?“
Herr Fleischhauer zögerte ein wenig. Weshalb sollte er einem Fremden seine Geschichte erzählen? Nach kurzer Überlegung war er bereit zu erzählen: „Ich lernte Ilse 1956 im damaligen Ost-Berlin kennen. Für uns beide war es die erste große Liebe. So oft es ging verbrachten wir die Zeit miteinander. Wir schmiedeten Zukunftspläne, wollten Kinder großziehen und gemeinsam alt werden. Alles schien perfekt. Bis zu dem Tag, als die Mauer gebaut wurde. Wir ahnten, dass sich die sechs gemeinsam verbrachten Jahre nicht aufstocken ließen. Mit jedem Tag, an dem die Mauer höher und dichter wurde, wurde uns klar, dass es keine gemeinsamen Spaziergänge an den Ufern des Müggelsees mehr geben wird. Nie wieder werden wir die Frankfurter Allee ablaufen und uns die Nasen an Schaufensterscheiben plattdrücken um den ausgestellten Ware ganz nah zu sein. Ilse war gezwungen in der DDR zu bleiben. Ich, der damals im Wedding wohnte musste mich nach dem 13. August 1961 damit abfinden meine geliebte Ilse nicht mehr besuchen zu können. Keine Umarmungen, keine leidenschaftliche Küsse mehr, keine gemeinsame Zukunft. Über einen langen Zeitraum schrieben Ilse und ich uns Briefe. In einem Brief teilte sie mir mit, dass sie meine ihr geschenkte gelbe Rose vertrocknet in eine Vase hat stehen lassen. Das die Rose ihr leuchtendes Gelb verloren und ein paar Blütenblätter abgeworfen hatte, störte sie nicht. Die abgeworfenen Blütenblätter wurden von ihr eingesammelt und in einem Kuvert aufbewahrt. In dem einen oder anderen Brief lag zwischen den Seiten ein vergilbtes Rosenblatt. Irgendwann waren den Briefen keine Rosenblätter mehr beigefügt und irgendwann kamen auch keine Briefe mehr.“
Während Herr Fleischhauer Herrn Bergemann das alles erzählte blickte er mit ernstem Gesicht auf die gelben Rosen. Beide Herren verstummten. Nur die Vögel die singend von Baum zu Baum flogen durchbrachen die Stille. Herr Bernd Fleischhauer war es, der das Gespräch wieder aufnahm: „Erzählen Sie mir was Sie mit Ilse verbindet.“
Herbert Bergemann zögerte nicht lange und begann zu erzählen: „Ilse waren über Jahre befreundet. Kennengelernt hatten wir uns im Laienchor in dem ich lange vor Ilses Eintritt Mitglied war. Schnell stellten wir fest, dass wir uns sympathisch waren. Wir trafen uns über die Chortreffen hinaus, und verbrachten viele gemeinsame Stunden. Einmal lud ich sie ein mit mir zum Müggelsee zu fahren. Ilse lehnte das Ausflugsziel ab. Ich verstand ihre Ablehnung nicht. Auf meine Nachfrage erhielt die Antwort: „Besser nicht.“ – Seit heute ist mir klar warum dieser Ausflug nicht zustande kam. - Zu mehr als einem freundschaftlichen Verhältnis hatte es nicht gereicht. Ilse wollte keine enge Bindung. Sie wollte frei sein.
Während Herbert Bergemann erzählte kreisten mehr als ein Dutzend Schwalben über den Ort des Abschieds. Mal flogen sie hoch, mal niedriger. Es sah aus, als würden auch die Vögel Abschied nehmen wollen von Ilse. Ein plötzlich aufkommender leichter warmer Sommerwind, verfing sich in den Büschen. Das Strauchwerk neigte sich hin zum Grab. Es schien, als würden sich die Sträucher ehrerbietend vor der Toten verneigen.
„In der letzten Zeit hatte sich Ilse verändert“, fuhr Herbert Bergemann fort: „Ilse wirkte oft müde und ausgebrannt. Auf meine Frage, was los sei mit ihr, bekam ich keine verbindliche Antwort. Immer öfter erlebte ich sie niedergeschlagen, traurig und mutlos, und das machte mir Angst. „Bist Du krank?“, hatte ich Ilse wiederholt gefragt. Jedes Mal antwortete sie: „Nein – nur müde. Endlos müde.“ Ist sie ‚Lebensmüde’ dachte ich und verwarf sofort wieder diesen abscheulichen Gedanken. Einmal erzählte mir Ilse etwas von einer Jugendliebe. Das hatte mich neugierig gemacht. Ich wollte mehr wissen. Ilse ließ sich nicht mehr entlocken. Das Einzige das sie mir anvertraute war, dass sie ihre große Liebe ‚Mein Rosenkavalier’ nannte. Als sie ‚Mein Rosenkavalier’ sagte, glänzten ihre Augen. Ihre Gesichtszüge wurden ganz weich, ihr Blick sehnsuchtsvoll.“
„Haben Sie nach dem Mauerfall nicht versucht Ilse ausfindig zu machen?“, wollte Herbert Bergemann jetzt wissen.
„Doch, das habe ich. Ende der Sechziger Jahre war ich aus Berlin weggezogen. Ich hatte eine Familie gegründet und lebe lange Zeit zufrieden in Köln. Nach der Scheidung verschlug es mich wieder nach Berlin zurück. Es gab für mich keine Anlaufstellen die mir hätten helfen können Ilse ausfindig zu machen. Auch wusste ich nicht, ob ich mit meinem Erscheinen Ilse einen Gefallen getan hätte. Der Zufall wollte es, dass ich ein ehemaliges Chormitglied traf, der mich wiedererkannte. Von ihm erfuhr ich, dass Ilse, bevor sie starb ,lange krank war. Ich war in dem Moment, wo ich von Ilses Tod erfuhr völlig durcheinander und gleichzeitig wütend. Wütend darüber, dass es mir nicht gelungen war Ilse ausfindig zu machen und wütend auf die Person, die mir Ilses Tod mitteilte. Von ihm erfuhr ich, den Termin der Beisetzung. - Jetzt sitze ich mit Ihnen auf dieser Bank mit einem Strauß gelber Rosen in den Händen und wir blicken gemeinsam auf ihr Grab“, sinnierte Bernd Fleischhauer. – Bitte begleiten Sie mich hin zur Gruft“, bat er. „Ich möchte die Rosen ablegen.“
Bevor Bernd Fleischhauer seine gelben Rosen neben die anderen Sträuße und Kränze ablegte, zog er eine Rose aus dem Strauß und übergab sie Herbert Bergemann. „Nehmen Sie diese Rose. Bewahren Sie sie auf bis sie ihre Blätter verliert. Solange Sie diese Rose aufbewahren, wird Ilse Ihnen ganz nahe sein.“
Das Blütenblatt, das sich von der herabfallenden Rose gelöst hatte, war, ohne das es von einem der Herren bemerkt wurde, vom Wind verweht.
Herbert Bergemann nahm die geschenkte Rose, verabschiedete sich und dachte: ‚Die Gedanken sind frei’.

 

Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten?
Sie fliegen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei.
Die Gedanken sind frei!
 
Ich denke, was ich will
und was mich beglücket,
doch alles in der Still',
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei!
 
Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
ich spotte der Pein
und menschlicher Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!
 
Drum will ich auf immer
den Sorgen entsagen,
und will mich auch nimmer
mit Grillen mehr plagen.
Man kann ja im Herzen
stets lachen und scherzen
und denken dabei:
Die Gedanken sind frei!
 
Volkslied, ca. 1790 bearbeitet von Hoffmann von Fallersleben, 1841

 

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