René Oberholzer

Die Tat

Es war Nacht, Samstagmorgen früh, er hatte ein wenig getrunken, als er auf einer wenig befahrenen Landstrasse etwas mehr Gas als üblich gab. Dabei übersah er einen Hund, der unter dem Scheinwerferlicht die Strasse überqueren wollte. Der Mann bremste zwar im letzten Moment noch ab, doch innert Sekundenbruchteilen prallte der Hund an die Stossstange, wurde vom Auto kurz mitgeschleift und blieb dann, nachdem der Mann angehalten hatte, regungslos vor dem Auto liegen. Unter dem Scheinwerferlicht stieg der Mann aus, betrachtete das tote Tier und schaute das Vorderteil seines Autos an. Etwas Blut klebte an der Stossstange, ein wenig Lack fehlte an der Karosserie.

Was tun mit dem toten Hund? Ihn von der Strasse entfernen und an den Strassenrand legen? Ihn beim nächsten Bauernhof vorbeibringen? Und zu dieser Stunde noch an eine Türe klopfen? Schliesslich war es 1.30 Uhr in der Früh. Nein, er wollte möglichst schnell nach Hause fahren, er war müde, leicht angetrunken, und morgen musste er bereits wieder zeitig aufstehen. Er entschied sich, den Hund liegen zu lassen, nur nichts anfassen. Noch war kein anderes Auto an ihm vorbeigefahren, nur schnell wieder ins Auto steigen, damit es auch so bleiben würde. Er hastete hinter das Steuerrad, schloss die Türe, fuhr ein wenig zurück, dann wieder vorwärts, ein kleiner Bogen und er war wieder auf dem Nachhauseweg. Kein Auto hatte ihn überholt, noch zu ihm aufgeschlossen. Es war also wieder alles im grünen Bereich. Oder doch nicht? Während er durch die Nacht fuhr, kam ihm immer wieder das Bild des toten Hundes ins Bewusstsein. War es richtig gewesen, den Hund einfach so liegen zu lassen? Nur nicht daran denken, schliesslich war er müde.

Als er zu Hause ankam, versorgte er das Auto in der Garage, schloss das Tor und schaute noch einmal das Vorderteil seines Mercedes an. Da klebte noch immer Blut. Das konnte er nicht einfach da so kleben lassen. Irgendjemand würde ihm später Fragen stellen, vielleicht seine Frau, die Kinder, der Nachbar, dem nichts entgeht, oder ein Unbekannter. Irgendwo musste doch noch ein Eimer sein, ein Schwamm und Putzmittel.
Dann liess er in der Garage Wasser aus dem Hahn einlaufen, tauchte den Schwamm tief in den Eimer ein und begann das Blut wie ein Besessener vom Auto abzuwischen. Warum war er nur so bedacht, keine Spuren zu hinterlassen? Schliesslich war es ja nur ein Tier gewesen? Dafür gibt es keine Strafe. Aber vielleicht hatte der Hund jemandem gehört. Schliesslich gibt es ja kaum Hunde, die niemandem gehören. Vielleicht würde morgen irgendjemand um genau diesen Hund weinen, wenn man ihn tot am Strassenrand finden würde. Warum hatte der Köter ihm bloss vor das Auto laufen müssen. Normalerweise schlafen Hunde morgens in der Früh, liegen in einem Stall, träumen von anderen Hunden und machen keinen Wank. Warum hatte ausgerechnet dieser Hund ihm vor das Auto laufen müssen? Hatte der Hund das wohl bewusst gemacht, so eine Art Selbstmord, oder gibt es das bei Hunden nicht? Wenn das so gewesen wäre, dann müsste er sich auch keine weiteren Gedanken mehr machen. Doch der Hund ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Und je weniger er ihm aus dem Kopf ging, desto intensiver schrubbte er mit seinem Schwamm die Blutflecken weg. Das Licht in der Garage war schwach, er konnte nicht alles bis ins letzte Detail erkennen. Und er war müde. Noch ein letzter Blick, das musste jetzt genügen, und dann ab ins Bett.

Als er ein wenig verlegen das Schlafzimmer betrat, fragte seine Frau, wie spät es sei. "Du bist aber lange weggeblieben." "Schlaf jetzt", sagte der Mann, "ich putze mir noch schnell die Zähne." Als er sich beim Putzen im Spiegel betrachtete, sah er nicht den Mann, der vor einigen Stunden in den Spiegel geschaut hatte und dann nach Basel gefahren war, sondern den Mann, der einen Hund überfahren hatte. Bin ich ein Feigling, dachte er, ich werde morgen zum Unfallort zurückfahren und schauen, ob der Hund noch immer auf der Strasse liegt. Als er sich zu seiner Frau ins Bett legte, flüsterte sie nur: "Schlaf gut." Doch er wusste, dass das nicht so schnell funktionieren würde.

Am nächsten Morgen frühstückte er mit seiner Frau. "Na, wie ist es gestern gewesen?", fragte sie ein wenig unverbindlich. "Gut, aber die Sitzung hat sich in die Länge gezogen, und dann sind wir noch in eine Bar gegangen und haben unseren Geschäftsabschluss gefeiert." "Du warst in der letzten Nacht sehr unruhig", sagte seine Frau, "ich bin gegen 4 Uhr aufgewacht und konnte nicht mehr richtig einschlafen." "Es ist alles bestens", sagte er und wusste, dass er in diesem Moment seine Frau angelogen hatte. Das war bei ihm noch oft so, grosse Geschäfte warfen nicht nur ihre Schatten voraus, sondern auch hinterher. "Es ging mir die Frage durch den Kopf, wie wir zukünftige Geschäfte zur vollen Zufriedenheit unserer Kunden umsetzen können." "Du, könnte ich den Mercedes heute Morgen haben? Ich muss noch einige Einkäufe tätigen." "Klar", sagte der Mann, "ich bin ja den ganzen Morgen hier." "Schön", sagte die Frau, nachdem sie den Frühstückstisch abgeräumt hatte, "dann geh ich jetzt." "Gut", sagte der Mann, "ich wasche dann schon einmal ab."

Die Frau ging in die Garage, öffnete das Tor, stieg ins Auto und fuhr hinaus. Als sie das Garagentor schliessen wollte, sah sie auf dem Platz, auf dem der Mercedes parkiert gewesen war, einen roten Fleck. Das ist doch Blut, dachte die Frau. Was macht dieser rote Fleck bloss in unserer Garage? Irgendwie kam ihr das merkwürdig vor.

Als sie vom Einkaufen mit dem Mercedes zurückkam, fehlte vom Zweitauto, von ihrem Mann und dem Blutfleck jede Spur.


© René Oberholzer

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.07.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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