"Lina, das ist für dich“, sagte der Großvater und überreichte seiner zweijährigen Enkelin ein kleines weißes Kaninchen mit wenigen schwarzen Flecken über der Flanke. Es fühlte sich ganz weich an und hatte schwarze runde Augen. Er hatte es eigentlich für seinen eigenen Stall auf dem monatlich statt findenden Tiermarkt gekauft. Es war ein freundliches Tier, das ruhig sitzen blieb und freundlich schaute wenn Kinder seinen Stall öffneten. Lina strahlte und freute sich darüber, dass sie jetzt ein eigenes Kaninchen hatte. Die Eltern baten aber den Großvater das Tier in seinem Stall zu lassen, denn zuhause hätten sie keinen Platz dafür. Der Opa willigte ein. Er hatte noch zwanzig andere Kaninchen, Schlachtkaninchen, oder netter ausgedrückt, Stallkaninchen. Er wollte mit ihrem Fleisch Geld verdienen. Eigentlich hatte er geplant die Kaninchen immer dann zu schlachten, wenn sie genau vier Kilogramm Gewicht erreicht hatten. Aber er fand nicht immer jemanden, der das Fleisch genau dann haben wollte und so hatte er Tiere, die schon älter als zwei Jahre waren. Wenn sie viel älter sind, dann schmecken sie nicht mehr besonders, sagt man. Der Großvater selbst mochte seine Tiere nicht essen und andere Mitglieder seiner Familie aßen seine Tiere schon gar nicht. Es sagte von sich, dass er ein guter Hirte sei. Seine Tiere seien ihm wie Kinder.
Sie bekamen recht regelmäßig zu essen und zu trinken, ansonsten saßen sie rum und dösten oder sie zogen ihre Jungtiere auf. Sie saßen in den Stallboxen auf schmutzigem Stroh auf einer Fläche von weniger als einem halben Quadratmeter, so wie das hierzulande üblich ist. Nach oben hin konnten sie sich strecken, anders als in den großen Zuchtanlagen in Deutschland.
Die Familie gab dem kleinen Rammler einen Namen. Sie wollten ihn immer im Stall besuchen kommen, versprachen sie. Der Opa freute sich sehr darüber, denn dann würde er seine süße Enkeltochter öfter sehen. Lina und ihre Eltern kamen in den ersten Wochen wirklich auch mehrfach, dann aber nicht mehr. Schon bald erinnerte sich niemand mehr daran, wie das Kaninchen geheißen hatte, so dass der Opa es kurzerhand mit dem Namen der Enkelin versah. Er hieß jetzt Lina.
Obwohl es ein überwiegend weißes Fell hatte, übersah man es leicht, weil es meistens still in der dunklen hintersten Ecke seines Stalles kauerte. In der Nachbarbox saß ein braunes Riesenkaninchen, das ausnahmsweise mit einem anderen Tier zusammen in einem Käfig wohnte, einem winzigen weißen Karnickelchen mit dunklen Flecken. Der Großvater hatte es geschenkt bekommen und da er gerade nirgendwo anders Platz hatte, hatte er es zu dem meist sanften Riesen gepackt.
In den Stallboxen können Kaninchen nicht laufen oder einen Haken schlagen oder blitzschnell ein paar Sprünge machen, außer wenn sie noch ganz klein sind. Sonst sind die Käfige zu eng. Aber der Stall schützt sie gegen Nässe und die Kaninchenbabys gegen die Ratten, die überall dort herumlungern, wo Futtervorräte unverschlossen gelagert werden. In diesen kleinen Käfigboxen züchtet man Kaninchen in allen Farben und Größen, man züchtet auf schön gefärbte Felle, korrekte Ohrlänge, stehende oder hängende Ohren, hohes Schlachtgewicht und verschiedene Haarqualitäten. Wenn die Jungtiere nicht nach Wunsch geraten sind, dann tötet man sie wenn sie nur wenig älter sind, zieht ihnen das Fell ab und hängt ihre nackten ausgenommenen Körper in die Kühlanlagen. Das geschieht von denselben Menschen die sie sonst immer mit Futter und Wasser versorgt haben. Viele Züchter sagen, das mache ihnen nichts aus. Sie dächten gar nicht darüber nach. Leid täten ihnen die getötetenTiere nicht. Dafür würden sie sie schließlich züchten. Das wäre immer schon so gewesen. Wenn sie das nicht machen würde, dann würden die Kaninchen ja gar nicht leben. Schließlich seien sie dafür da geschlachtet zu werden.
Einmal kam ein Mann in den Stall, der Kaninchen für seine Kinder kaufen wollte. Er hätte Lina gerne gekauft, aber der Großvater wehrte ab und sagte, dass dieses Tier seinem Enkelkind gehöre. So lebte Lina sein Leben in der Dunkelheit seiner Stallbox herunter und niemand kam mehr um ihn zu besuchen. Futter wurde in die Box geworfen. Heu und Strohhalme lagen im Trinkwasser und färbten es gelb oder braun. Wenn das Stroh auf dem Boden verdreckt und feucht von Urin und Kötteln war, dann wurde gelegentlich eine Lage trockenes Stroh darüber geworfen. So lebte Lina, vier Jahre lang, tagein, tagaus. Vier lange Jahre und niemand kam.
Im Sommer stank es nach Urin und Ammoniak, im Winter war es kalt und früh dunkel. Im Sommer wurden die Kaninchen von Fliegen und Mücken geplagt, die durch die feuchte Einstreu angezogen wurden. Im Winter fror das Trinkwasser in den Näpfen ein. Die Enkelin fragte längst nicht mehr nach ihrem kleinen Kaninchen. Aber manchmal erzählte sie im Kindergarten, dass sie ein eigenes Kaninchen hätte. Die anderen Kinder beneideten sie darum.
Der Opa wurde brummig, wenn er den nutzlosen Kostgänger sah. Es blockierte eine ganze Stallbox für ein Mastkaninchen. Kaninchen können immerhin zehn Jahre alt werden. Bei ihm war bisher noch keines an Altersschwäche gestorben, aber töten wollte er Lina auch nicht. Der gab ja sowieso kein Fleisch, der hatte ja nicht mal ein Kilo. Er beschloss das Kaninchen zu verkaufen. Hauptsache er würde noch um dreißig Euro dafür kriegen. Es steckte ja einige Arbeit und einiges Geld in dem Tier, für das Futter und das Stroh . Vielleicht könnte er es wegtauschen und zwei andere Karnickel gleich mit? Die Enkelin würde es sowieso nicht merken. Notfalls würde er ein ähnliches besorgen.
Eine Frau kam gelegentlich mit ihrem kleinen Sohn und beide schauten sich die Kaninchen begeistert an. Der Großvater beschloss den beiden Lina auf zu schwatzen. Die Frau erschrak als sie das teilnahmslos vor sich hinstarrende Tier in der Stallbox sitzen sah. Sie würden wiederkommen sagte sie dem Halter. Die nächsten Tage kam sie alleine. Sie brachte ein Tierhäuschen mit, eine Holzburg, damit das kleine Kerlchen mal eine Höhle hätte, um sich gegen Zugluft zu schützen und auch damit es mal andere Muskeln trainieren würde, als die mit denen man über den flachen Boden läuft. Die Holzburg hatte zwei Ebenen. Sofort sprang das kleine Kaninchen auf das untere Plateau und dann mit einem Satz auf den höheren Turm. Es setzte sich hoch oben auf die Zinnen, ganz dicht unter die Decke des Stalles. Die Frau freute sich, obwohl sich das Tier auf dem schmalen Turm etwas zusammenkauern musste um sicher darauf sitzen zu können, aber sie sah, dass das Kaninchen diesen Platz sofort liebte. Sie hatte ihm diese Lebendigkeit gar nicht zugetraut, als sie es so im Dämmerlicht hatte kauern sehen. Ob es denn noch niemals draußen gewesen sei, fragte sie den Besitzer. Der verneinte. „Hat es denn noch niemals die Sonne gesehen“, fragte die Frau ungläubig, „hat es niemals auf Gras gesessen?“ „ Nein“, sagte der Besitzer,“ hier sitzt er warm auf Stroh und ist vor Ratten geschützt. Es geht ihm gut, so wie er hier ist“. Dieses Holzhaus in einer Kaninchenbox fand er lästig und überflüssig. Es würde die Reinigung des Käfigs erschweren. Aber ehrlich gesagt, mehr als gelegentlich mal trockenes Stroh reinwerfen tat er ja eigentlich sowieso nicht.
Die Frau kam von nun an jeden Tag um Lina zu streicheln und das Kaninchen genoss es. Sie nannte es Moritz. Er hatte die hübschesten Kaninchenohren von allen Kaninchen aus diesem Stall. Hell-anthrazit, gerade, relativ kurz und mit kleinen Härchen am Ohrrand, die sich gegen das sonstige Fell abhoben. Wenn man es streichelte, schmiegte es sich an die warme Hand und presste sich hinein.
Sie kaufte ihn und das zweite kleines Kaninchen aus dem Stall. Der Großvater fand die Frau sympathisch. Er schenke ihr noch eins dazu.
Die Frau wollte ein kleines Gehege in den Garten ihres Wohnhauses bauen lassen. Es würde ein paar Wochen in Anspruch nehmen. Sie musste das erst noch mit ihrem Vermieter absprechen. Solange würde sie Moritz noch in seinem alten Stall lassen und besuchen. Er hatte ja schon vier Jahre hier ausgehalten.
Die Frau legte nun provisorisch auf dem Grundstück des Bauerne in kleines Gehege , außerhalb des Stalles, an. Von jetzt an setzte sie Moritz dort häufig ins Gras, in die Frühlingssonne. Er schaute sich beim ersten Mal aber nur kurz um und blieb dann sitzen. Er hoppelte nur wenig umher und buddelte kaum in der Erde, obwohl das ja eigentlich Kaninchenart sein sollte. Bald setzte er sich auf einen flachen großen Stein und wartete vor der geschlossenen Türe des Geheges. Direkt davor, so als wollte er wieder weg von hier. Die Frau legte Bretter auf den Boden unter das Kaninchen, damit es sich auf dem kalten Stein nicht erkältet, denn die Sonne schien an diesen frühen Frühlingstagen noch nicht sehr warm. Da suchte sich das Kaninchen einen anderen flachen, kalten Stein im Gehege und setzte sich dort drauf. Die Frau legte Holz auch auf diesen Stein, damit das Kaninchen nicht zu kalt säße. Wieder setzte sich das Kaninchen auf einen anderen flachen, kalten Stein. Da streute die Frau Sand auf das Brett, das innen vor der Türe des Käfigs lag. Darauf blieb Moritz dann sitzen. Direkt vor der verschlossenen Türe. Er hätte in einen Holzverschlag hoppeln können, aber auch das wollte er nicht. Die Frau setzte ihn ein paarmal dort hinein, damit er vor dem leichten Wind geschützter säße. Aber er setzte sich wieder um ,diesmal wieder auf das Brett mit dem Sand. Er atmete etwas häufiger als die beiden anderen Kaninchen, die die Frau mit ihm erworben hatte.
Sie beobachtete Moritz dabei, wie er sich immer und immer wieder auf die kalten Steine setzte.
Unwillkürlich fragte sie sich, ob es noch andere Arten gäbe, wie ein Stalltier Selbstmord begehen könnte, aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Vielleicht ist Moritz krank, hat Fieber und versucht sich zu kühlen, dachte die neue Besitzerin. Kaninchen zeigen ja möglichst nicht, wenn sie leiden. Sie werden still. Er atmete schnell. Mit der Atmung zog er den Bauch und die Flanken leicht ein. Es fraß wenig. Nur einziges Mal als sie ihm eine Möhre gab, stürzte es sich darauf und mümmelte die halbe Rübe begierig auf. Sie vereinbarte einen Tierarzttermin in drei Tagen.
Am nächsten Tag nahm sie Moritz auf ihren Schoß. Sie setzte sich mit ihm in die Sonne und streichelte ihn. Sie kraulte ihn am Kinn. Beide saßen in der Sonne und es fühlte sich alles so friedlich an,so ruhig,entspannt und still. Moritz schmiegte sich in ihre Hand. Er hielt die Augen geschlossen und bewegte sich kaum. Irgendwie dachte sie, dass es diesem Kaninchen recht wäre, wenn es jetzt und hier in Frieden jetzt sterben würde. Hier in der milden Frühlingssonne in ihren warmen Händen. Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Sie wollte sich nichts einbilden. Vielleicht würde er sich bald mit den zwei anderen lieben Kaninchen verstehen, besonders das eine schien sehr brav zu sein. Vor ihrem inneren Auge sah sie die beiden vor sich sitzen, zwei ängstliche Charaktere, die sich aneinander kuscheln würden und jeder war der Trost des anderen. Sie würden sich zärtlich die Ohren beknabbern. Wer sonst würde solche wunderschönen Ohren zu würdigen wissen, wie Moritz sie besaß. Man würde sehen.
Sie setzte ihn wieder in seine Stallbox zurück, damit er vor Füchsen, Mardern, Hunden oder Katzen geschützt wäre. Als sie am nächsten Tag wieder kam kauerte er vorne an der Türe seiner Box im Stall. Die Frau setzte sich wieder mit ihm in die Frühlingssonne, aber irgend etwas war anders als gestern. Heute war das Tier nicht entspannt. Am darauf folgenden Tag saß es nicht mehr vorne an der Türe sondern wieder in der hintersten dunklen Ecke. Am nächsten Tag saß Moritz mit geschlossenen Augen oben auf dem Turm. Die Frau packte ihn in eine Transportbox, dann ins warme Auto und fuhr mit ihm zum Tierarzt. Der sah die Atmung des Tieres und begann es zu untersuchen. Dann starb Moritz in seinen Händen. Vier Jahre Leben- für drei Tage Sonne.
Nachfolgend begann zu regnen. Es war tagelang nass, grau, trüb und kalt. Die zarten Sonnentage des März waren so schnell vorüber wie sie gekommen waren. Im kalten Nieselregen saß auf der Antenne des Hauses gegenüber eine farblose Taube. Sie saß lange dort. Die Taube und die Frau sahen sich an. Nach einer Weile flog der Vogel träge davon. Eichendorffs Mondnacht ging ihr durch den Kopf : “ Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus“. „Nein“, die Taube hätte zu mir hinfliegen müssen, dachte sie, aber sie war nach rechts geflogen, nach rechts, in die Richtung wo er gestorben war. Sie dachte an Rilkes Panther, im Jardin de Plantes in Paris, dessen Blick vom Vorübergehen der Stäbe so müde geworden war, dass ihn nichts mehr hielt, dem es so war, als wenn es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Hatte sich unsere Tierhaltung seitdem verbessert? Hatte sich unsere Einstellung zum Tier seit hundert Jahren verändert? Versuchen wir Tieren Ruhe zu vermitteln, Freude, Platz, Frieden, Sanftmut, Achtsamkeit, jetzt ein Jahrhundert später? Mit welchem Recht verfügen wir über ihre Muskeln, ihr Fell, ihre Jungtiere, ihr Leben?
Sie dachte daran, dass allein in Deutschland jährlich etwa 750 Millionen Säugetiere geschlachtet werden und weit mehr als drei Millionen Tiere für Tierexperimente verbraucht werden. Die wenigsten davon haben die Sonne jemals gesehen.
Es tat gut, dass es regnete. Es regnete drei Wochen lang. Der Bauer versuchte sie zu trösten:“ Es war ein kleines Kaninchen, die kleinen Kaninchen sterben früher“, sagte er.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.08.2016.
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