Manfred Bieschke-Behm

Quittengelee



Frau Wagenburg sitzt in ihrem Sessel, kühlt ihr rechtes Knie und telefoniert. Sie war vor einer guten Stunde in ihrer Küche gestürzt und hat seitdem große Schmerzen. Sie war froh, dass sie es geschafft hatte sich allein aus der misslichen Lage zu befreien. Der Küchentisch, dessen Bein sie greifen konnte, war ihr für das aufstehen eine große Hilfe. Mit beiden Händen umfasste sie ein Tischbein und hangelt sich hoch zur Tischplatte. Endlich hatte sie genug Halt, um sich aufrichten zu können. Auf wackligen Beinen stehend quälte sie sich hin zum Abwaschbecken. Dort angekommen nahm sie ein Küchenhandtuch, ließ kalte Wasser darüber laufen und drückte angestrengt überschüssiges Wasser aus dem Tuch. Humpelnd, mit nassem Tuch in der Hand, ging sie zielstrebend zu ihrem bequemen Ohrensessel, der in Fensternähe im Wohnzimmer steht. Etwas umständlich aber zufrieden lässt sich Frau Wagenburg in den Sessel plumpsen. Die Kühle des Tuches tut ihr gut und auch das Telefonat mit ihrer Nachbarin Frau Müller-Kleiber.
„Schön, dass ich Sie erreiche Frau Müller-Kleiber. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich es heute nicht schaffe zum Mark zu gehen.“ 
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„Sie müssen wissen, dass ich in der Küche gestürzt bin. Jetzt habe ich ein geschwollenes Knie, sitze im Sessel und mache kalte Umschläge.“
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„Das muss Ihnen nicht Leid tun Frau Müller-Kleiber. Ich bitte Sie. -  Sie wissen doch Unkraut vergeht nicht.“
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„Nee, Sie können nichts für mich tun Frau Müller-Kleiber. Ich muss jetzt warten bis die Schwellung zurückgeht und dann werden wir weitersehen.“
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„Sicher! - Machen Sie sich keine Sorgen Frau Müller-Kleiber. Ich komme schon zurecht. – Was ich Sie fragen wollte: Was hatten Sie mit den Quitten vor?“
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„Ach Gelee wollten sie herstellen! – Ich verstehe. Obwohl die gelben Früchte herrlich riechen, mag ich sie nicht anfassen. Sie sind mir zu pelzig“
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„Mag ja sein. Aus demselben Grund mag ich auch keine Kiwis oder Stachelbeeren.“
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„Ist ja interessant! Ich habe noch nie gehört, das Quitten für Liebe, Glück, Fruchtbarkeit, Klugheit ja sogar Schönheit, Beständigkeit und Unvergänglichkeit stehen. – Vielleicht sollte ich mich überwinden und mich mit den Dingern anfreunden.“
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„Da haben Sie Recht Frau Müller-Kleiber. Für Glück und Schönheit lohnt es seine Abneigung zu   überwinden.“
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„Davon gehe ich aus Frau Müller-Kleiber. Am nächsten Mittwoch bin ich bestimmt wieder topfit. Da stürze ich mich in das Marktgetümmel und lasse mir ein paar Quitten für Sie einpacken.“
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„Da muss ich Ihnen Recht geben Frau Müller-Kleiber. Manchmal ist auch mir die Enge zu viel. Zuviel Nähe kann unangenehm sein. Ungewollte Tuchfühlung ist nicht mein Ding.“
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Es freut mich, dass Sie das genauso empfinden wie ich. Ich dachte schon ich wäre allein mit meiner Macke.
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Was mich jedes Mal fasziniert sind die vielen unterschiedlichen Sprachen die ich auf dem Wochenmarkt höre. Letzten Mittwoch beobachtet ich Russen die sich laut unterhaltend durch die Gänge quälten. Obwohl ich deren Sprache nicht spreche – bekam ich mit, dass sie sich über das reichhaltige Angebot begeisterten.“
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„Ach was Sie sagen! – Nee Japaner habe ich noch nie auf dem Markt gesehen. Türken, Italiener, Spanier und Engländer das ist ja normal. Aber Japaner? ...“
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„Sie sagen es Frau Müller-Kleiber. Die Welt ist bunt. Apropos bunt. Ich bleibe gerne vor den Obst- und Gemüseständen stehen und erfreue mich über die Vielfalt von Farben und Formen.“
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„Ach das geht Ihnen auch so!?“
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 Stimmt! Nicht nur die Farben und Formen faszinieren, sondern auch die vielen unterschiedlichen Gerüche“
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„Ach hören Sie doch auf Frau Müller-Kleiber. Mir geht es doch genauso. Wenn ich zum Beispiel Berge von Erdbeeren sehe und rieche läuft mir das Wasser im Munde zusammen. Ich könnte hemmungslos in den Erdbeerenberg hineingreifen und mir einige Früchte hemmungslos in den Mund stecken. - Läuft Ihnen auch gerade das Wasser im Munde zusammen Frau Müller-Kleiber?“
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„Verstehe Frau Müller-Kleiber, verstehe. Nicht alles was es auf dem Markt zu riechen gibt, riecht angenehm. Mir geht es so, wenn ich an den Käseständen vorbeigehe. Es gibt Käsesorten die riechen nicht, die stinken.“
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„Der Fischgeruch, der Sie stört, stört mich dagegen so gut wie gar nicht. Sehe oder rieche ich Fische denke ich an Aufenthalte am Meer. Es kommt gelegentlich sogar vor, dass ich Meeresrauchen wahrnehme und Möwen kreischen höre. Ist das nicht witzig? Hinzu kommt, dass ich Fisch sehr gerne esse. Frische Heringe aus der Pfanne und dazu kross gebratene Bratkartoffeln ... herrlich!“ – Käse esse ich auch. Aber eher selten. Sehr selten sogar. Und dann esse ich auch nur Sorten die meiner Nase nicht wehtun!“
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„Sehnse, so unterschiedlich sind wir Menschen. – Ich muss Ihnen eben noch erzählen was passiert, wenn ich Kirschen sehe. Sofort suche ich in dem Kirschenberg nach zwei Kirschen, die durch ihre Stile verbunden sind. Sie erinnern mich an meine Kindheit. Da war es üblich sich Zwillingskirschen über die Ohren zu hängen und umher zu stolzieren. Wenn es mir erlaubt wird, nehme ich mir das Zwillingspaar, und ... “
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„Nein, nein. Keine Angst. Ich hänge mir die Kirschen nicht über die Ohren. Ich nehme das Kirschenpaar mit nach Hause, stelle mich vor den Spiegel und dann...“
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Schön, das Sie darüber lachen können Frau Müller-Kleiber. Haben Sie ähnliche Anwandlungen?“
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„Sag ich doch! Jeder hat so seine Erinnerungen. Bei Ihnen ist es der Geruch von Kartoffeln, der Sie an Lagerfeuerromantik bei den Jungen Pionieren erinnert. Ist es nicht schön nostalgisch zu denken?“
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„Das stelle ich auch immer wieder fest Frau Müller-Kleiber. Es gibt Erinnerungen, die überleben Generationen und Zeiten, wie bei mir zum Beispiel Tüten geformt aus Zeitungspapier...“
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„Kennen Sie das nicht, das früher bestimmte Lebensmittel direkt in zu Spitztüten geformtes Zeitungspapier verkauft wurden?“
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„Sehnse jetzt erinnern Sie sich. Ich erzähle Ihnen eine Anekdote: Gelegentlich ging ich in das Lebensmittelgeschäft, das sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite unseres Wohnhauses befand. Dort standen immer große Holzfässer gefüllt mit eingelegten Gurken und frischem Sauerkraut. „Für 30 Pfennige Sauerkraut bitte“ sagte ich zu der Verkäuferin. Diese nahm ein Stück Zeitungspapier, formte es geschickt zu einen Tüte und beförderte mit einer Holzgabel dort hinein das Kraut. „Lass es dir schmecken“, sagte die freundliche Verkäuferin. Noch bevor ich den Laden verließ, hatte ich mir heißhungrig wie ich war, ein bisschen vom Sauerkraut in den Mund geschoben und darauf herumgekaut.“
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„Was, schon so spät? Da haben wir uns aber ganz schön verplaudert Frau Müller-Kleiber. Die Zeit vergeht aber auch wie im Pfluge. Aber es was schön mit Ihnen zu reden. Das Gespräch hat mich stark von meinen Kniebeschwerden abgelenkt.“
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„Nichts zu danken! Ich danke Ihnen Frau Müller-Kleiber, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben. Und wie gesagt, in der nächsten Woche werde ich wieder so fit sein, das ich auf den Markt gehen kann und dann besorge ich Ihnen Ihre Quitten.“
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„Ja machen Sie es auch gut. Tschüss Frau Müller-Kleiben. Tschüss.“
 
Frau Wagenburg legt das Telefon zurück auf die Ladestation. Sie schaut auf ihr noch immer mit einem Handtuch umwickeltes Knie und denkt wie schön es war Erinnerungen zu teilen. Etwa schwerfällig steht Frau Wagenburg auf und schaltet ihrer Fernseher ein. Der Zufall wollte es, das sie in einer Kochsendung landet. Thema: Quitten. Frau Wagenburg muss lächeln. Sie überlegt, ob sie Frau Müller-Kleiber anruft. Sie lässt es. Stattdessen befeuchtet sie in der Küche ihr Handtuch neu und humpelt zurück zu ihrem Sessel. Aufmerksam hört sie zu was der Moderator zu berichten hat. ‚Ob der weiß, dass Quitten für Liebe, Glück, Fruchtbarkeit, Klugheit ja sogar Schönheit, Beständigkeit und Unvergänglichkeit stehen’, überlegt Frau Wagenburg und fängt an sich vorzustellen sich nächsten Mittwoch selbst Quitten zu besorgen und Gelee zu kochen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.09.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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