Christiane Mielck-Retzdorff

Weiß Du, wer Du bist?


 
Iris und Sonja waren seit der Grundschule beste Freundinnen. Nun besuchten sie dieselbe Klasse an einer Gemeinschaftsschule. Bald wollten sie ins Berufsleben eintreten, eine Ausbildung machen. Ihre schulischen Leistungen waren durchschnittlich, aber es bestand kein Zweifel daran, dass sie die Prüfung am Ende der 10. Klasse bestehen würden.

Beide wünschten sich eine Bürotätigkeit zum Beispiel Einzel- oder Außenhandelskauffrau. Iris Mutter versuchte sie zwar zu überreden, ebenfalls Rechtsanwaltsgehilfin zu werden, doch dem Teenager lag die nüchterne Materie nicht. Sie versprach sich von der Arbeit in einem Handelsunternehmen die Teilnahme am prallen, wirtschaftlichen Leben und bessere Aufstiegschancen.

Außerdem hatte Iris ein gestörtes Verhältnis zu Rechtsanwälten, was ihre Mutter gut verstehen konnte. Diese hatte sich einst mit einem Referendar der juristischen Fakultät eingelassen und war schwanger geworden. Zwar zahlte der Vater widerspruchslos den Unterhalt, doch wollte ansonsten von Iris nichts wissen. Mittlerweile betrieb er in einer anderen Stadt eine florierende Kanzlei, doch seine Tochter kannte er nicht.

Sonja lebte mit zwei Geschwistern bei ihren Eltern. Als der Jüngste drei Jahre alt war, nahm die Mutter halbtags eine Beschäftigung als Verkäuferin bei einer Bäckerei an. Damit besserte sie die schmale Haushaltskasse auf, doch die Tochter als Älteste musste sich oft um die beiden Brüder kümmern. So lernte sie Verantwortung in der Familie zu übernehmen, während Iris wenig Rücksicht auf ihre Mutter nehmen musste.

Die beiden Freundinnen träumten davon, auch während ihrer Ausbildung zusammenbleiben zu können, weswegen sich Sonja für die gleiche Berufswahl entschied. Doch im Grunde war es ihr egal, womit sie später ihr Geld verdiente. Irgendwie würde sie schon zurechtkommen.

Natürlich war es auch Gegenstand des Unterrichts, wie die Schüler sich möglichst erfolgsversprechend bewerben konnten. Neben den schulischen Leistungen war dabei besonders wichtig, wie sich die Kandidaten ihrem zukünftigen Arbeitgeber vorstellten. Sie sollte sich darüber Gedanken machen, welche ihrer Eigenschaften sie besonders hervorhoben.

Iris setzte sich mit ihrer Mutter zusammen und entwickelte eine entsprechende Liste, in der sie sich selbst beschrieb. Das Ergebnis musste kurz, aussagekräftig und überzeugend sein. Die junge Frau wollte darin deutlich machen, dass sie für den Kampf in der Wirtschaft geeignet war. So einigte sie sich schließlich mit ihrer Mutter auf folgende Worte: ehrgeizig, zielorientiert und durchsetzungsstark. Zwar entsprachen diese Eigenschaften nicht wirklich Iris Wesen, doch so sollte der angestrebte Arbeitgeber den Eindruck gewinnen, eine Auszubildende einzustellen, die sich voll für das Unternehmen einsetzte.

Sonja fand es lästig, sich selbst einzuschätzen. Sie fühlte sich noch nicht reif genug, um ihre Persönlichkeit zu erkennen. Aber es kam ihr nicht in den Sinn, die Eltern um Hilfe zu bitten. Dabei würde es wahrscheinlich nur zum Streit kommen. Wie man sich selbst sah oder andere Menschen einen wahrnahmen, unterschied sich häufig. Unwillig erstellte auch sie eine Liste, doch kam über drei Worte nicht hinaus: fleißig, anpassungsfähig und freundlich.

Iris wollte die Freundin noch überreden, etwas angriffslustiger und herausstechender ihre Eigenschaften darzustellen, doch Sonja sah das nicht ein. Sie fand durchaus, dass ihre Beschreibung der Wirklichkeit entsprach. Sie wollte ein Arbeitsverhältnis nicht mit einer Lüge beginnen.

Während Iris ziemlich schnell zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wurde und bald einen Ausbildungsvertrag in der Hand hielt, bekam Sonja nur Absagen. Der Traum der Freundinnen von einer gemeinsamen Zukunft war geplatzt. Und so gab Sonja bald die Suche nach einem Bürojob auf und streute ihre Bewerbungen breiter. Schließlich erhielt sie eine Zusage von einem Alten- und Pflegeheim.

Beide jungen Frauen hatten schon feste Beziehungen zu gleichaltrigen Männern. Mit denen und ihren Schulkameraden feierten sie ausgelassen ihren Schulabschluss. Doch Sonja nahm sich die Zeit, das Geschehen kurz aus einiger Entfernung zu betrachten. Dabei wurde ihr bewusst, dass es ein Fest der Veränderungen und Trennungen war, bei dem die meisten voller Vorfreude auf ihren neuen Lebensabschnitt blickten. So viele Jahre hatten sie mit diesen Menschen gefeiert und gelitten. Nun würden bald nur noch Nachrichten auf dem Smartphone die Illusion eines Kontaktes vermitteln, der sich wie die Samen des Löwenzahns mit dem Wind des Schicksals verlor.

Iris wusste, dass sie für ihre zukünftige Karriere als Außenhandelskauffrau gute Kenntnisse in der englischen Sprache benötigte. In dem Bewusstsein ehrgeizig, zielorientiert und durchsetzungsstark zu sein, rief sie ihren Vater an und verlangte von ihm, ihr einen Sprachkursus in England zu bezahlten. Nur so vorbereitet könnte sie ihre Ausbildung erfolgreich meistern. Außerdem brauchte sie Geld für Kleidung, um sich angemessen in der Firma zu präsentieren. Ihr wohlhabender Erzeuger willigte ein und meinte damit seine Schuldigkeit getan zu haben.

Sonja überbrückte die Zeit bis zum Beginn ihrer Ausbildung mit Ferienjobs. Dann stiegen beide in die Arbeitswelt ein und fanden sich schnell in ihrer neuen Tätigkeit zurecht. Doch in der Großstadt, in einem internationalen Unternehmen beschäftigt, veränderte sich Iris. Wenn sich die Freundinnen trafen, sprach diese nur von Handelsbeziehungen, Gewinnmaximierung und weltweiten Wirtschaftsentwicklungen. Stets war sie wie eine Geschäftsfrau gekleidet und gab Sonja zu verstehen, dass sie als Altenpflegerin nichts von der modernen Gesellschaft verstand.

Diese nahm das abfällige Verhalten von Iris hin, ahnte aber, dass ihre Wege sich auf Dauer trennten. Sonja war weit zufriedener mit ihrer Arbeit, als sie selbst erwartet hatte. Der Lehrstoff fiel ihr leicht und sie genoss den Umgang mit den alten Leuten. Auch wenn das Heim chronisch unterbesetzt mit Personal war, nahm sie sich die Zeit für Gespräche und persönliche Zuwendung. Die Freude und Dankbarkeit der Menschen, die von ihr betreut wurden, war ihr Lohn genug.

Natürlich schickte Iris ihr eine SMS mit der Nachricht, dass sie die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und eine gut bezahlte Festanstellung in ihrer Firma bekommen hatte. Auch Sonja machte eine hervorragende Prüfung und wurde übernommen. Doch die Freundschaft der beiden jungen Frauen war zerbrochen, genauso wie ihre einstigen Liebesbeziehungen.

Sonja arbeitete fleißig und hatte sich eine eigene kleine Wohnung gesucht. Regelmäßig traf sie sich mit ihrer Familie und beobachtete, wie nun ihre beiden Brüder ihr eigenes Leben in die Hand nahmen. Auch ein junger Mann war bald wieder an ihrer Seite. Eine Hochzeit sollte demnächst ihr Glück krönen. Stille Zufriedenheit erfüllte Sonjas Seele.

Daran, dass sie bei ihrer Tätigkeit oft mit dem Tod konfrontiert wurde, hatte sich die junge Frau gewöhnt. Nur in welcher Einsamkeit die alten Leute oft verkümmerten, um schließlich zu sterben, störte sie. Manchmal träumte sie davon, ein eigenes Heim mit ausreichend Personal, Freizeitaktivitäten und einem Zugang zum Internet für alle Bewohner zu eröffnen. Ihr Lebensgefährte kannte sich gut mit Computern und dem Internet aus, sodass er die alten Menschen anleiten könnte. Doch so ein Vorhaben setzte umfangreiche, finanzielle Mittel voraus, über die die beiden nicht verfügten.

Eines Tages erschien ein gut gekleideter und honorig wirkender Mann im Heim und bat Sonja, ihn in seiner Kanzlei aufzusuchen. Worum es ging, wollte er nicht verraten. Die junge Pflegerin konnte sich zwar nicht erklären, was ein Rechtsanwalt und Notar von ihr wollte, gehorchte aber. Das Gebäude, in dem er sie empfing, flößte ihr Respekt ein. Aber da sie sich keines Fehlverhaltens bewusst war, nahm sie den Termin neugierig und heiter wahr.

Der Mann eröffnete ihr, dass eine kürzlich verstorbene Bewohnerin des Heims Sonja zur Alleinerbin eingesetzt hatte. Ohne direkte Verwandte sei dieses Vorgehen rechtens. Sonja fühlte sich geehrt, dass die alte Dame, um die sie sich oft gekümmert hatte, ihr so viel Vertrauen entgegenbrachte. Vermutlich handelte es sich bei dem Erbe um etwas Schmuck, die vielen Bücher, die in dem Zimmer gestanden und nun in Kartons verpackt waren. Die Verstorbene hatte nie viel aus ihrem Leben erzählt, sich aber immer für Sonjas Ideen, so auch der von einem besonderen Pflegeheim, interessiert.

Als sie dann erfuhr, dass sie neben zwei Mietshäusern auch ein erhebliches Barvermögen im zweistelligen Millionenbereich erben würde, konnte sie diesen Worten nicht glauben. Das Pflegeheim, in dem sie arbeitete, beherbergte keine wohlhabenden Leute. Es war eher ein Ort des Trübsinns, an den sich kaum jemand freiwillig begab. Doch der Notar erklärte, dass das Gebäude, in dem das Heim untergebracht war, einst ein Bauernhof und der Geburtsort der Verstorbenen gewesen sei. In dem sie sich dort einquartierte, wollte sie den Kreis ihres Lebens schließen.

Ein gutes Jahr später eröffnete die, mittlerweile verheiratete Sonja mit ihrem Ehemann ein modernes Pflegeheim für mittellose alte Menschen. Das sorgfältig ausgewählte Personal erhielt überdurchschnittliche Löhne, ein kleines Schwimmbad lud zur körperlichen Ertüchtigung ein, alles war hell und freundlich eingerichtet und die Bewohner bekamen ein Laptop mit W-LAN-Zugang, konnten an entsprechenden Lehrgängen teilnehmen.

Für dieses Projekt wurde Sonja in der Presse und den Medien hoch gelobt. Plötzlich meldeten sich frühere Freunde und Klassenkameraden wieder. Auch Iris suchte den Kontakt zu ihr, doch  Sonja entschuldigte sich damit, dass sie als Geschäftsfrau terminlich sehr eingebunden sei. Außerdem war sie schwanger und wollte sich nicht überanstrengen. Schließlich trafen sich beide doch, denn immerhin verband sie eine lange Jugendfreundschaft. Und Iris gebärdete sich überhaupt nicht mehr hochmütig, sondern musste kleinlaut zugeben, dass sie im Haifischbecken der globalen Wirtschaft nur verzweifelt um ihre Leben schwamm. Ihr Ehrgeiz und ihre Durchsetzungskraft erlahmten mehr und mehr. Sonja musste lächeln, denn sie war noch immer fleißig, anpassungsfähig und freundlich.   
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.09.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Buch von Christiane Mielck-Retzdorff:

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Die Töchter der Elemente: Teil 1 - Der Aufbruch von Christiane Mielck-Retzdorff



Der Fantasie-Roman „Die Töchter der Elemente“ handelt von den Erlebnissen der vier jungen Magierinnen auf einer fernen Planetin. Die jungen Frauen müssen sich nach Jahren der Isolation zwischen den menschenähnlichen Mapas und anderen Wesen erst zurecht finden. Doch das Böse greift nach ihnen und ihren neuen Freunden. Sie müssen ihre Kräfte bündeln, um das Böse zu vertreiben. Das wird ein Abenteuer voller Gefahren, Herausforderungen und verwirrten Gefühlen.

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