Christiane Mielck-Retzdorff

Kollektives Schweigen



 
Mit dem bedienen einer Taste war der Schlusspunkt gesetzt und Sina fühlte sich in gleichem Maße stolz wie leer. Ihr Roman, der das Leben ganz normaler Menschen behandelte, war vollendet. Anregungen hatte ihr Umfeld großzügig verteilt, doch sie wollte die Leute nicht bloßstellen, sondern zeigen, wie spannend, abwechslungsreich, tragisch und freudig deren Alltag oft war. Also hatte sie die Charaktere so verfremdet, dass sich kaum jemand darin wiedererkennen konnte. Auch die beschriebenen Ereignisse mischte sie bunt, ohne dabei den Faden der Menschlichkeit im scheinbar Unbedeutenden zu verlieren.
 
Die Frau hatte schon in ihrer Jugend begonnen kleine Geschichten und Märchen zu schreiben. Damals träumte sie davon, als Schriftstellerin Geld zu verdiene, die Leser zu unterhalten und zu erfreuen. Doch die Wirklichkeit holte sie ein, als sie mit 16 Jahren schwanger wurde. Als sie dieses erkannte, war es für eine Abtreibung zu spät. Verliebt hätte sie sich ein gemeinsames Leben mit Rinaldo vorstellen können, einem sehr gut aussehenden Italiener, den sie in dem Eiscafé, in dem er bediente, kennengelernt hatte. Doch dieser verschwand in seine Heimat, nachdem sie ihm von der Schwangerschaft berichtete. Sina hörte nie wieder etwas von ihm.
 
Mit der Hilfe ihrer Mutter und der Unterstützung der Behörde meisterte sie ihr Leben. Aufopferungsvoll sorgte sie für ihren kleinen Sohn Marco. Dank ihres ansprechenden Äußeren, einer üppigen blonden Haarpracht und ihrem höflichen Wesen fand Sina eine Halbtagsanstellung am Empfang eines Friseursalons im nahen Einkaufszentrum.
 
In der Gegend, in der sie arbeitete, lebten vornehmlich Menschen mit geringem Einkommen. Da die junge Frau schnell das Vertrauen dieser Leute fand, erfuhr sie bald von den unterschiedlichsten Schicksalen. Es sprach sich herum, dass sie für jeden ein offenes Ohr hatte, mitfühlend zuhören konnte und keine überflüssigen Ratschläge gab. So erfreute sie sich gerade bei den Kunden des Friseursalons großer Beliebtheit.
 
Anfangs verfasste Sina Märchen, die sie dann ihrem Sohn vorlas. Doch noch vor dessen Einschulung bemerkte sie, dass den Jungen die phantastischen Geschichten nicht mehr interessierten. Computer fesselten seine Aufmerksamkeit. Schnell, kaum des Lesens oder Schreibens mächtig, lernte er mit diesen umzugehen. Damit war er so sehr beschäftigt, dass die Mutter begann ihre Freizeit mit dem Aufschreiben der Schicksale anderer zu gestalten.
 
Als der Junge älter wurde, durfte er, zu strengem Schweigen darüber verpflichtet, einige ihrer Texte lesen. Zwar war Marco mehr den Zahlen und der Technik zugetan, aber er bewunderte seine Mutter für ihre scharfe Beobachtungsgabe, die sorgfältige Wortwahl und die mitfühlende Art der Darstellung. Immer wieder ermunterte er Sina, ihre Geschichten einem Verlag anzubieten, aber sie wollte nichts davon wissen.
 
Während Sina mittlerweile ganztags in dem Friseursalon am Empfang arbeitete, entwickele sich Marco zu einem Computerfreak, einem Nerd. Mittlerweile war er 16 Jahre alt und hätte ein guter Schüler sein können, doch der junge Mann war stinkend faul. Überwiegend saß er vor seinem Computerbildschirm und pflegte soziale Kontakte fast ausschließlich über sein Smartphone. Doch er liebte seine Mutter von ganzem Herzen und es tat ihm leid, dass sie ihr junges Leben für den Sohn opferte, sich kaum etwas gönnte, aber versuchte jeden Wunsch von Marco zu erfüllen.
 
So kam er, in den Sommerferien allein zu Haus, auf die Idee, dass seine Mutter endlich eine erfolgreiche Schriftstellerin werden sollte. Er wusste, dass sie gerade einen Roman fertiggestellt hatte und fand es nun an der Zeit, dass die Welt von dieser genialen Schriftstellerin erfuhr. Also suchte er im Internet nach einem Verlag und entschied sich schließlich für eines der größten Unternehmen. Er konnte sich denken, dass dort die meisten Informationen über den Computer vermittelt wurden.
 
Die offizielle Internetseite des Verlags brachte ihn nicht weiter, doch er vermutete, dass das Unternehmen über ein eigenes, das sogenannte Intranet verfügte. Und es war für ihn leichter als gedacht, sich dort einzuschleichen. Problemlos las er die E-Mails, die zwischen den Mitarbeitern hin und her geschickt wurden. Ihm wurde deutlich, dass die meisten sich gar nicht persönlich kannten. Jeder reagierte auf das, was sein Computerbildschirm ihm zeigte.
 
Als erstes schickte er das Romanmanuskript seiner Mutter nicht als E-Mail-Anhang sondern direkt auf den PC des Lektoratsleiters. Dann sandte Marco in dessen Namen eine Nachricht an einen Mitarbeiter, dass das Manuskript noch einer letzten Rechtschreibprüfung zu unterziehen sei, damit es anschließend umgehend in den Druck gehen konnte. Frech forderte Marco nun die Grafikabteilung auf, endlich das fertige Cover für den Roman zu präsentieren.
 
Der junge Mann war wie im Rausch. Also verfasste er gleich, getarnt als Verlagsangestellter, eine Mitteilung für die  deutsche Presseagentur, dass dieser Roman auf der Frankfurter Buchmesse als Neuerscheinung des Jahres vorgestellt werden würde. Dann lehnte er sich grinsend in seinem Stuhl zurück und war neugierig, ob jemand den Schwindel bemerkte.
 
Schon am nächsten Vormittag konnte er beobachten, wie die Maschinerie zu laufen begann. Niemand zweifelte an der Wahrheit der Nachrichten und Anweisungen. Dabei kam Marco zugute, dass der Lektoratsleiter just an diesem Tag seinen Urlaub angetreten hatte. Als dieser nach zwei Wochen zurückkehrte, war der Roman mit ansprechendem Cover bereits gedruckt und auf dem Weg in den Vertrieb. Der Mann war zwar überrascht, doch sah keinen Grund sich der Entwicklung entgegenzustellen. Vermutlich hatte die Autorin guten Kontakt zur Geschäftsleitung und mit dieser wollte er es sich nicht verderben.
 
Nun musste Marco den Roman erstmal lesen, um dann die Medien mit positiven Kritiken bombardieren zu können. Diese unter den Namen verschiedener namhafter Kritiker zu verfassen, fiel dem jungen Mann nicht schwer, denn er selbst war von dem Text seiner Mutter tief beeindruckt. Schon bald war das Buch in aller Munde.
 
Nun bekam Marco Angst, denn erstens hatte er das Manuskript ohne das Wissen seiner Mutter verbreitet und zweitens wurde ihm bewusst, dass er eine kriminelle Handlung begangen hatte. Dadurch war ein medialer Tsunami entstanden. Ständig riefen Journalisten an und wollten die Autorin sprechen. Der Sohn wimmelte diese zwar ab, doch erwartete täglich das Erscheinen der Polizei.
 
Als seine Mutter eines Abends in sein Zimmer trat, erkannte er an ihrer Miene, dass die neue Berühmtheit sie erreicht hatte. Aber ein Lächeln begleitete ihr Erscheinen. Offensichtlich wusste sie sofort, wem sie die Veröffentlichung ihres Romans und dessen spontanen Erfolg zu verdanken hatte. Marco war erleichtert, dass keine Schimpftirade über ihn hereinbrach. Stattdessen berichtete Sina, dass der Verlag sie schon vor Tagen zu einem Gespräch gebeten hatte, sie das jedoch für einen Irrtum hielt. In dem Schreiben wurde sie als herausragende Autorin bezeichnet, die zu vertreten dem Verlag eine Ehre sei.
 
Doch nachdem die Presse den Friseursalon, in dem sie arbeitete, belagerte, Kunden sie zu dem Buch beglückwünschten und selbst die Chefin ihre Anerkennung aussprach, verschwanden alle Zweifel der Frau. Sina Schmidt war plötzlich eine bekannte Schriftstellerin. Und diese Rolle gefiel ihr.
 
Marcos Bedenken, er könnte irgendwann von der Polizei verhaftet werden, zerstreuten sich dadurch, dass selbst die Kritiker zu den von dem jungen Mann verfassten Aussagen standen. Der Verlag freute sich über hohe Verkaufszahlen. Alle schwammen fröhlich auf der Erfolgswelle. Niemand wollte sich die Blöße geben, nicht das hohe Niveau des Romans sofort erkannt zu haben. Und mit einem großzügigen Vorschuss des Verlages ausgestattet, arbeitete die Mutter bereits an dessen Fortsetzung.
 
Nun lasen die Menschen also ein Buch über das wahre Leben jener, die selten von der Gesellschaft wahrgenommen wurden. Die Veröffentlichung des Romans war dem Glauben an die Unfehlbarkeit der Computernachrichten zu verdanken. Die von der Sucht nach Erfolg und Anerkennung getriebene Herde folgte dem trügerischen Schein und stolperte über ein echtes Talent. Marco und seine Mutter lachten oft über den Geniestreich, doch sie hüteten dieses Geheimnis sorgfältig. Ein schlechtes Gewissen hatten sie nicht, denn manchmal bedurfte es außergewöhnlicher Wege, um der Welt die Augen zu öffnen.
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.09.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

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