Raffael Scherer

Die gute alte Zeit

„Sie kommt! Heute!“ waren Lennys erste Gedanken , als er seine Augen öffnete. Sofort schoss er aus dem Bett um sich vorzubereiten. Er sprang unter die Dusche, wechselte seinen Bademantel gegen ein schickes Hemd und seine neueste Jeans aus und betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Sein Blick fiel auf das Foto, welches seit fünf Jahren an seinem Spiegel klebte. Tanja lächelte ihn von dort aus glücklich an. Damals im Freizeitpark, nach der Achterbahnfahrt. Die Haare vom Wind zerzaust, sie beide von Schweiß überströmt und trotzdem, war Lenny niemals so glücklich gewesen, wie an jenem Tag. Von jenem Tag an, war es damals bergab gegangen. Erst waren sie beide in verschiedene Klassen versetzt worden, dann war Tanja eine halbes Jahr später weggezogen. Ihr Vater hatte irgendwo irgendetwas berufliches zu tun. Lenny putzte sich die Zähne und dachte zurück, an den großen Tag der Verabschiedung damals. Tränen waren geflossen, auf beiden Seiten, er, der er sich geschworen hatte niemals zu weinen, hatte auf Tanjas Ärmel nasse Flecken hinterlassen. Und es war ihm egal gewesen. Seine beste Freundin. Seine einzige echte Freundin. Sie hatten sich noch in der Umarmung geschworen, dass sie sich jeden Tag schreiben, jeden Tag telefonieren würden. Lange hatte er hinterher gestarrt, als das Auto mit Tanja auf dem Rücksitz in der Ferne verschwand. Lenny stylte sich die Haare und legte zum ersten mal seit langem Wert darauf, dass auch jedes einzelne Haar richtig saß. Anfangs hatte es funktioniert, wie geplant, sie telefonierten jeden Tag, informierten sich gegenseitig über jegliche Kleinigkeit im Leben und dann, nach und nach wurde der Kontakt immer weniger. An dem einen Tag hatte Lenny etwas zu tun und keine Zeit zum telefonieren, mal funktionierte Tanjas Handy nicht mehr und schließlich blieb nur noch die eine oder andere knappe Email. Lenny hatte versucht neue Freunde zu finden und die ein oder andere Bekanntschaft hatte er auch gemacht, doch kein einziger Mensch in seinem Umkreis war ihm je wieder so nahe gestanden, wie Tanja. Sie verstanden ihn alle nicht. Nicht wirklich. Nicht so wie Tanja. Und dann war er gekommen, ihr Anruf. Lenny konnte ihre Stimme anfangs gar nicht mehr erkennen, solange lag das letzte Gespräch schon zurück. Sie teilte ihm mit, dass sie, jetzt wo sie ihren Abschluss hätte, durchs Land reisen würde und in seiner Stadt halt mache. Lenny grinste sich selbst im Spiegel an. Er war soweit. Er war bereit. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er viel zu früh dran war. Er hatte noch ganze drei Stunden, bis sie am Bahnhof eintreffen würde. Schweren Herzens nahm Lenny also auf der Couch Platz und wartete darauf, dass die Zeit verginge. Tat sie aber nicht. Lenny hibbelte vor sich hin, klopfte mit den Füßen auf den Boden, trommelte mit den Fingern auf den Polstern herum, doch nichts half. Die Uhr schien sich beinahe mit Absicht langsamer zu drehen als sonst. Na schön, er würde schon einmal losgehen, um rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Dann war er eben ein paar Stunden früher da, besser als zu spät. Obwohl ihn sein Hinterkopf durchgehend versuchte zu beruhigen, dass er ja noch lange Zeit hätte und er sich nicht zu stressen bräuchte, schoss Lenny die Treppe hinunter, mehrere Stufen auf einmal nehmend, zog sich in Windeseile die Schuhe und Jacke an und ging los. Oder besser, er lief. Lenny würde zwar behaupten, dass seine Geschwindigkeit eine Form von schnellem Gehen sei, jedoch war er schon nach fünf Minuten so außer Puste, dass er Halt machen musste. Er wollte ja seine guten Sachen nicht vollschwitzen. Das Tempo wurde also gezügelt und Lenny musste sich selbst aktiv davon abhalten, dass das auch so blieb. Als er den Bahnhofskiosk erreichte, stellte er fest, dass er immer noch zwei Stunden und achtunddreißig Minuten zu warten hatte. Im Glas der Eingangstür prüfte er nochmals nach, ob auch noch alles saß, die Frisur, das Hemd, einfach alles. Und da fiel es ihm auf. Ein Pickel, direkt auf seiner Nase. Panisch starrte er ihn an, versuchte ihn wegzukratzen, wegzuwischen, doch vergebens. Grimmig starrte er das Spiegelbild seiner Nase an, als sich die Tür öffnete und eine junge Dame ihn verschmitzt angrinste. „Kann ich irgendwie helfen? Du hast mich da drin so kritisch angeschaut. Alles in Ordnung?“ Lenny war völlig verdattert. „Was? Nein, ich hab bloß mein Spiegelbild begutachtet.“ „Scheinst ja nicht sehr zufrieden damit zu sein.“ lachte die Frau zurück und zündete sich eine Zigarette an. Lenny hatte überhaupt keine Lust auf Gespräche mit dieser Kiosktante. Er wollte, dass dieser Pickel verschwindet. Und zwar schnell, bevor Tanja ihn so sehen würde und alles im Eimer wäre. Er hatte es sich doch so perfekt ausgemalt. „Passt schon.“ Log er also kurzerhand. Lenny glaubte sogar mittlerweile das Pulsieren des Pickels zu spüren. „Haste heut n Bewerbungsgespräch, oder wieso biste so aufgeregt?“ fragte das Mädchen grinsend und blies eine Rauchwolke in die Luft. „Ich treff heut meine Freundin wieder, die ich seit langem nichtmehr gesehen hab.“ antwortete Lenny also. „Und du hast keine Blumen mit?“ fragte sie schnippisch. Lenny war klar, dass diese Frage kommen musste. „Sie ist nicht meine Freundin, ich meine, wir haben keine Beziehung oder so, wir waren eben vor fünf Jahrendie besten Freunde, bis sie dann weggezogen ist.“ Lenny setzte sich an einen der Tische und atmete tief durch. „Das ist ja Scheiße.“ antwortete sie und nahm ungefragt an seinem Tisch Platz. „Sowas kenn ich, meine beste Freundin ist au vor drei Jahren weggezogen. Erst hatten wir noch regelmäßig Kontakt und dann von der einen auf die andere Sekunde, wusch, war sie weg. Vor paar Wochen hab ich se dann nochmal wiedergesehen, aber es war einfach nicht mehr das selbe.“ Lenny stutze. „Wie meinst du das?“ Das Kioskmädchen seufzte tief und drückte die Zigarette in den Aschenbecher. „Weißt du, ich hab mich so tierisch gefreut, als ich sie wiedergesehen hab und sie sich auch aber nach guten Zehn Minuten wussten wir beide irgendwie nicht mehr so recht, worüber wir reden sollten. Wir hatten beide komplett unterschiedliche Erfahrungen gemacht seitdem und, ja, es war irgendwie nichts mehr da worüber wir reden konnten, von den guten alten Zeiten abgesehen. Wir haben´s echt versucht, haben die selben Aktivitäten gemacht wie damals, wir waren im Kino, im Club, zuhause, aber irgendwie... Hatte jeder sein eigenes Leben begonnen.“ Lenny schüttelte den Kopf. So war das nicht. So konnte das nicht sein. Nicht bei Tanja. Tanja war anders, sie war seine Seelenverwandte, sie kannten sich beide in und auswendig. Diese blöde Kuh hier hatte keine Ahnung. Das war zumindest das, was Lenny sich einredete um die wachsende Angst in seinem Innern zu beruhigen. „Willst n Käffchen? Ich geb dir eins aus.“ grinste das Mädchen ihn an. Lenny nickte und starrte wieder auf sein Spiegelbild. Was sollte er denn Tanja sagen, wenn sie wieder da wäre? Wovon sollte er ihr erzählen? Sicher nicht das übliche aus der Schule, wo es sowieso kaum weltbewegende Neuigkeiten gab. Vielleicht von seinen letzten großen Erlebnissen? Welche waren das noch? Und in welcher Reihenfolge war das nochmal? Er hatte doch ganz schön viel erlebt, seit sie weg war. Und würde es Tanja überhaupt interessieren, wenn sie keinen der Leute in seinen Geschichten kannte? Die Befürchtung, dass die junge Frau recht haben könnte wurde größer. Aber nein, das konnte und durfte nicht wahr sein. Sie würden schon ein Thema finden. SIE würde schon wissen was zu tun ist, wenn er nicht mehr weiter wüsste und anders herum. So war es doch immer gewesen. Damals. Das Mädchen kam wieder, mit zwei Kaffees und unterbrach Lennys Gedanken. „Aber so ist das nunmal. Das eine geht vorbei, etwas neues kommt hinzu.“ sagte sie und schob einen Becher in Lennys Richtung. „Aber bei Tanja ist das anders. Verstehst du? Es war schon immer so, dass uns immer irgendetwas eingefallen ist.“ „Genau das dachte ich auch, glaub mir. Also, ich wünsch dir von ganzem Herzen, dass es nicht so wird, aber meiner Erfahrung nach...“ Lenny nahm einen tiefen Schluck Kaffee. Trotz seiner panischen Gedanken begann die ruhige, direkte Art des Mädchens ihm zu gefallen. „Worüber soll ich denn mit ihr reden, hast du Tipps? Ich hab soviel gemacht, soviel erlebt seitdem, das kann ich doch nicht in ein kurzes Gespräch zusammenfassen.“ Das Mädchen begann erneut zu grinsen und sich eine weitere Zigarette anzuzünden. „Siehst du, genau das mein ich.“ „Was?“ „Auch ohne, wie hieß sie, Tanja, hast du doch irgendwie die Zeit schön rumgebracht, vieles erlebt und Spaß gehabt.“ Lenny verstand nun gar nichts mehr. „Und?“ „Und das heißt es geht wohl auch irgendwie ohne Tanja. Zwar anders, aber es geht.“ Lennys Gesichtsausdruck wechselte von Unverständnis zu Ungläubigkeit. „Ja aber... So schön wie damals...“ Das Mädchen blies ihm eine Rauchwolke ins Gesicht und brachte ihn so zum verstummen. „Man kann alte Zeiten nicht zurückholen. Genauso wenig wie man Tote auferstehen lassen oder Fehler rückgängig machen kann. Du kannst nur, wie damals auch, das Beste aus dem Jetzt herausholen, mit den Mitteln die du hast. Klingt jetzt vielleicht bitter, aber so ist es. Das ist das Leben.“ Lenny war bis jetzt gar nicht aufgefallen wie hübsch die Unbekannte war. Seine Gedanken waren den ganzen Morgen so sehr mit Tanja beschäftigt gewesen, dass er seine Umgebung völlig ausgeblendet hatte. Er lächelte sie an, sie lächelte zurück. Irgendwie gefiel ihm ihre Einstellung. Das Pfeifen des Zuges ertönte und Lennys Blick schnellte in die Richtung des Geräusches. „Viel Spaß, kannst ja irgendwann mal erzählen, wie es war.“ zwinkerte sie ihm zu. „Ich heiß übrigens Maya.“ Lenny schüttelte ihre Hand. „Danke für alles, Maya. Ich werd dir morgen berichten.“ Lenny betrachtete sich ein letztes mal in der Glastür und ging zum Bahnsteig. Wie sah sie nochmal aus? Seine Gedanken schweiften immer wieder ab in Richtung Maya. Lenny schüttelte den Kopf um sich auf Tanja zu konzentrieren. Es war alles perfekt. Da stand sie. Tanja. Sie sah ganz anders aus als Lenny es sich vorgestellt hatte. Sie war eine richtige Frau geworden. Sie fielen sich in die Arme und begrüßten sich. Und nach nur fünf Minuten wusste Lenny, was Maya gemeint hatte. Und er wusste auch, dass er sich auf den nächsten Tag mit Maya freute.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.09.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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