Manfred Bieschke-Behm

Warten

Das Kleid aus wollähnlichem Material, das Patrizia fast täglich trägt hat den gleichen roten Farbton wie ihre Haare. Seit Jahren trägt sie ihre Haare unverändert stirnfrei nach hinten gekämmt und hält ihre strenge Frisur mit einem schmucklosen Gummiband zusammen. Auf ein ansprechendes Äußeres legt Patrizia keinen besonderen Wert, sie wüste auch nicht für wen sie sich heraus putzen sollte. Als sie noch zur Schule ging trug sie ihre widerspenstigen Haare offen was manche zum Anlass nahmen sie ‚wandelnder Feuermelder’ zu rufen. Besonders weh tat es ihr wenn sie jemand ‚Hexe’ nannte und ihre angeborene Gehbehinderung imitierte. Wie oft Patrizia heulend aus der Schule nach Hause kam, lässt sich in der Summe nicht mehr beziffern. Es war oft. Sehr oft. Viel zu oft. Bei ihrem Vater fand sie kein Verständnis für ihre Traurigkeit. „Das Leben ist eben kein Schlaraffenland“, pflegte der Vater zu seiner Tochter sagen, wenn er sich genervt fühlte, was oft der Fall war. Gerne hieß er auch: „Wenn du darauf wartest, dass sich alles zum Guten wendet wirst du vergeblich warten.“ Dieser und viele andere Sätze wirkten auf Patrizia immer wieder aufs Neue furchteinflößend zerstörerisch. Gelegentlich fand sie Trost bei der Mutter, wofür sie sehr dankbar war. Das Zusammenleben mit dem störrischen, hasserfüllten und ungerechten Vater war, eine starke Belastung für die gesamt Familie. Keines der Kinder konnten es dem Vater Recht machen. Eigentlich waren seine Kinder, ihm lästig, was er ungefragt und unumwunden auch zu gab. „Kinder kosten nur Geld“, polterte er wenn er wieder einmal seine Beherrschung verloren hatte. Besonders sein Sohn war dem Vater ein Dorn im Auge. Weil sich schon früh herausstellte, das Gerald den Tankstellenbetrieb, der sich seit mehreren Generationen in Familienbesitz befand, nicht übernehmen werde, behandelte er ihn wie Luft, wie eine lästige Fliege die es verdient hatte vernichtet zu werden. Nicht nur die Kinder litten unter der Tyrannei des Mannes sondern auch seine Frau. Oft verspürte sie das Verlangen aus dem ‚Gefängnis’, wie sie ihr Zuhause gelegentlich nannte, auszubrechen. Aber wohin sollte sie mit ihren Kindern gehen? Aus ihrer Sicht blieb ihr nichts Anderes übrig, als sich ihrem Schicksal zu fügen und zu versuchen ihren Kindern eine gute Mutter zu sein, was ihr nur mäßig gelang.
 
Nachdem die Mutter ganz plötzlich verstarb und Bruder Gerald das Haus vor gut drei Jahren unfreiwillig verließ lebt Patrizia allein mit ihrem alten Vater in der trostlosen Gegend, wie sie für sich ihre Umgebung beschreibt. Die Tankstelle ist seit langem außer Betrieb. Einzig die rot lackierte Zapfsäule erinnert noch daran, dass es hier irgendwann Benzin zu kaufen gab. Neue Straßenführungen haben das Geschäft zunichte gemacht und vor allem dem Vater das Beschäftigungsfeld genommen. Vater und Tochter waren gezwungen bescheiden von dem Ersparten zu leben.
 

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Wie jeden Tag, wenn die Sonne nicht mehr ganz so kräftig ist, sitzt der Vater auf seinem alten Holzklappstuhl vor dem gelblich grün getünchten Haus. Dort sitzt er selten entspannt, so auch heute nicht. Wie immer trägt er seine braue Cordhose, die längst durch einen andere ausgetauscht werden müsste, weil der Hosenboden und die Stellen über die Knie stark abgenutzt sind und die Farbe teils verblichen ist. Ähnlich ist es um die braue Weste bestellt, die er offen tragen muss, weil sie ihm zu klein geworden ist. Der Vater besteht die verschlissenen Sachen und lässt diesbezüglich nicht mit sich reden. Einzig das Hemd wechselt er gelegentlich. Am liebsten aber trägt er das graue offen zu tragende kurzärmlige Baumwollhemd. So auch heute. Mit beiden Händen umschließt der alte Mann verkrampft die Armlehnen und schaut stur geradeaus. Seine Tochter beobachtet das Geschehen durch das halb geöffnete Küchenfester und macht sich
 
um den Gesundheitszustand ihres Vaters Sorge. „Vater komm doch rein. Du erkältest dich noch“, ruft Patrizia besorgt aus dem Fenster wohl wissend, dass ihr Aufruf keinen Sinn macht. Sie schafft es weder mit Sanftmut noch energisch redend die Sturheit ihres Vaters zu durchbrechen. ‚Eigentlich hat mein Vater soviel Fürsorge nicht verdient’, lehnt sich zurück und zupft welke Blätter von der sparsam blühenden Zimmerlinde. ‚Hätte ich wie mein Bruder auch das Haus verlassen, wäre es um Vater schlecht bestellt’, stellt sie fest. „Wo sollte ich auch hin?“, fragt sie die Zimmerlinde, und weiter: “Ich muss akzeptieren, dass es sich nie ergeben hat, ein eigenes Leben zu leben.“ Gerne hätte sie eine eigene Familie gehabt. Viele Kinder wollte sie haben. Sie hatte oft davon geträumt in einer größeren Stadt zu leben, sich zu amüsieren Freunde zu treffen, zu tanzen, zu lachen, einfach glücklich sein. Derartige Träume träumt Patrizia schon lange nicht mehr. Sie sind alle nacheinander wie Seifenblasen zerplatzt. Ihre Zeit ist ausgefüllt ihren Vater zu pflegen und sich um den Erhalt des Hauses zu kümmern. Für mehr hat sie keine Zeit.
 
Letze Sonnenstrahlen erreichen den Vater der noch immer wie versteinert auf seinem Stuhl sitzt. Hinter ihm hat sich ein mächtiger Schatten aufgebaut. Symbolisiert der Schatten sein zweites Ich? Hockt der Schatten hinter ihm um auf ihn aufzupassen? Fragen die Antworten schuldig bleiben. Auf der Stirn des alten Mannes bündeln sich Sonnenstrahlen und bilden einen gelben hellen Fleck. Der Rest seines Gesichtes liegt im Halbschatten wie der Waldstreifen auf der gegenüberliegenden Seite der Tankstelle. Zwischen der Tankstelle und dem Wald verlaufen zwei verwaiste Verkehrsstraßen die durch mattgrüne Streifen voneinander getrennt sind und am Haus scharfkantig vorbeiführen. Der Himmel hat sein bislang einheitlich leuchtendes Blau verloren. Zwei weiße, gemächlich dahinziehende Wolkenstreifen, trennen das dunkle vom hellen Blau. Der Wind frischt auf. Es kündigt sich ein kühler Abend an. Patrizia fängt an zu frieren. Sie schließt das Küchenfenster. Den Vater noch einmal zum reinkommen zu bewegen ist zwecklos. Sie wird, wie so oft in den letzten Jahren warten bis ihr Vater selbst entschieden hat seinen ‚Beobachterposten’ zu verlassen.
Patrizia entdeckt noch ein welkes Blatt an der Zimmerlinde und entfernt es.
 
Nachdem der Vater sich von seiner Tochter nicht mehr beobachtet fühlt, greift er mit zittrigen Fingern in seine rechte Hosentasche und zieht ein schon etwas abgegriffenes mehrfach gefaltetes Stück Papier daraus hervor. Vorsichtig glättet er den an den Ecken abgeknickten Zettel. Was darauf steht müsste er nicht mehr Wort für Wort lesen. Längst hat sich der Text in seinem Kopf eingebrannt. Dennoch ist es ihm wichtig die Abschiedsworte seines Sohnes ab und zu in beiden Händen halten zu können. Der vom Sohn beschriebene Zettel gibt ihm das Gefühl mit ihm verbunden ihm ein Stück nahe zu sein. So nah, wie er sich zu Zeiten, wo der Sohn noch bei ihm wohnte, nie fühlte. Schon längst hat er eingesehen, dass er Vieles im Leben falsch gemacht hat. Wenn er könnte würde er Vieles ungeschehen machen. Gerne würde er den dritten Satz, den Gerald aufgeschrieben hat, Wirklichkeit werden lassen.
Der gesamte Text lautet: Ich schaue ab jetzt auf die hellen Seiten des Lebens. Die Dunklen musste ich lange genug ertragen. Sollte das Schicksal es wollen, dass wir uns noch einmal wieder sehen, hoffe ich, dass wir uns in die Augen sehen können. Dein Sohn Gerald.
Der Vater erinnert sich oft an den Tag, an dem er diese Nachricht auf dem Küchentisch liegend vorfand. Stunden vorher sah er seinen Sohn leichtem Gepäck weggehen. Der Weggang seines Sohnes hatte ihn nicht berührt. ‚Soll er gehen. Soll er hingehen wo der Pfeffer wächst’, dachte der Vater. ‚Einer weniger im Haus.’
 
Kurze Zeit, nach dem der Sohn sein Vaterhaus verlassen hatte, ging es dem Vater gesundheitlich schlecht. Er spürte eine seine Hinfälligkeit und machte sich Sorgen. Die vielen langen Gespräche mit seiner Tochter brachten den Vater Stück für Stück zur Einsicht. Er gewann die Erkenntnis, dass es keine Gelegenheit gibt Geschehenes rückgängig zu machen. Seine Tochter hat er um Verzeihung gebeten, bei seiner Frau war es durch deren Tod nicht möglich und bei Gerald? Oft stellt sich der Vater vor seinen Sohn in die Arme nehmen und ihn um Vergebung bitten zu können.
 
‚Wenn er heute nicht kommt, kommt er vielleicht morgen’, denkt er und faltet mit feuchten Augen den lädierten Zettel sorgfältig zusammen und steckt ihn zurück in die rechte Hosentasche. Danach klappt er den Stuhl zusammen und schlurft gebeugt ins Haus wo die Tochter bereits auf ihn wartet.
„Na Vater, nun ist dir wohl doch kalt geworden“, erkundigt sich Patrizia.
„Ja kalt ist draußen“, erwidert der Vater und setzt sich fröstelnd an den Küchentisch auf dem zwei leere Teetassen stehen. Bevor er sich hinsetzt, vergewissert er sich den Zettel tatsächlich in die Hosentasche gesteckt zu haben. ‚Morgen werde ich mich wieder vor das Haus setzen und auf meinen Sohn warten’, denkt er, ‚und ich werde wieder die gleichen Sachen anziehen, denn das sind die Sachen, die ich anhatte, als Gerald von uns ging.’
Die Tochter ist dabei Teewasser aufzusetzen und ist froh, dass ihr Vater zur Einsicht gekommen ist und ins Haus kam. Als sie die Kanne mit dem frisch aufgegossenen Tee zum Tisch trägt fällt ihr ein gefaltetes Stück Papier auf das neben dem Stuhl auf dem ihr Vater sitzt auf dem Boden liegt. Ehe der Vater bemerkt was passiert ist, bückt sie sich, hebt den Zettel auf, entfaltet ihn und liest das was darauf geschrieben steht. Anschließend faltet sie den Zettel wieder zusammen reicht die Nachricht ihrem Vater. Dabei schaut sie in Augen aus denen Tränen fließen. Sie sagt: „Ab morgen warten wir gemeinsam auf Gerald“, und legt ihren Arm um die Schulter ihres Vaters.
„Ja, dass machen wir“, erwidert ein erleichternd wirkender Mann.
Er steckt den Abschiedsbrief nicht zurück in die Hosentasche sondern legt ihn auf den Küchentisch, wo er ihn vor Jahren fand.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.10.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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