Nicolle Eccarius

Eine Geschichte über Socken

Es war einmal, vor gar nicht allzu langer Zeit in einer ganz normalen Stadt, in der ein ganz normale Reihenhaus mit dem Hinterhof an einer ganz normalen Straße steht. Diese ganz normale Stadt mit dem ganz normalen Reihenhaus an einer ganz normalen Straße ist nicht sehr groß; aber sie ist auch nicht wirklich klein, diese ganz normale Stadt.
Sie hat einen großen Hauptbahnhof und fünfundzwanzig Hotels, einen Flughafen und viele Kirchen, Gaststätten und gemütliche Kneipen. Es gibt zwei Jugendherbergen und Straßenbahnen und Busse und eine Universität und sogar mehrere Theater in dieser ganz normalen Stadt, an der zwei Autobahnen vorbei führen. Außerdem hat diese ganz normale Stadt ein altes und ein neues Messe- und ein Fernsehgelände, entzückende Parks mit Teichen, Flüssen und Brücken, kleine Wäldchen, Strebergärten, verschiedene große und kleine Denkmäler, Friedhöfe und einen Zoo; und sie, die ganz normale Stadt hat Geschichte.
Nicht nur einfach die normale Geschichte, die jede normale Stadt hat, sondern richtige Geschichte, die man auf der ganzen Welt studieren kann.
Wenn also ein Herr Professor Doktor sowieso in St. Petersburg oder Amsterdam oder Paris ein Herr Professor Doktor für Geschichte ist, dann hat er auf jeden Fall schon von dieser ganz normalen Stadt mit richtiger Geschichte gehört oder gelesen oder doch wenigstens über sie geschrieben oder gesprochen. Darauf sind die Menschen jener ganz normalen Stadt mit richtiger Geschichte sehr stolz, denn wieviele andere Menschen können schon von sich behaupten, in einer Stadt zu leben, die jeder beliebige Herr Professor Doktor für Geschichte – ganz gleich, ob dieser in St. Petersburg oder Amsterdam oder Paris lehrt – beim Namen nennen kann und in dieser ganz normalen Stadt mit richtiger Geschichte steht an einer ganz normalen Straße ein ganz normales Reihenhaus mit einem Hinterhof.
Diese ganz normale Straße, an der das ganz normale Reihenhaus gebaut worden ist, ist keine große Straße. Aber sie ist auch keine enge Gasse, die noch mit Kopfsteinpflaster ausgelegt ist oder ein breiter, sandiger Weg, auf den die Leute ob seiner vielen Schlaglöcher schimpfen. Nein, diese ganz normale Straße ist eine kleine und saubere und geteerte Hauptstraße. Vor einigen Jahren war auf Grund der Vorfahrtsregeln in der Straßenverkehrsordnung ein Schild aufgestellt worden, daß die ganz normale Straße, welche es schon seit fast zwei Jahrhunderten gibt, offiziell zu einer Hauptstraße werden ließ. Im Laufe der Zeit wurde der Name der ganz normalen Straße ein paar Mal geändert und aus dem dichten Wald um sie herum haben Gartenarchitekten ein Wäldchen in einem Park geplant. So ist Platz geschaffen worden für all die ganz normalen Häuser, die jene ganz normale Straße heute auf beiden Seiten in einer lückenlosen Reihe säumen. Eines dieser ganz normalen Reihenhäuser – Es handelt sich hierbei um das letzte Haus auf der linken Seite am östlichen Ende der ganz normalen Straße, dessen Bewohner den kürzesten Weg zum Wäldchen haben – ist vor vier Jahren, als der Besitzer, welcher ganz oben unter dem Dach wohnt, es renovieren ließ, blaugrau verputzt worden und zwei Fassadenmaler haben danach alle Fensterrahmen und den schmalen Sims, der dieses ganz normale Reihenhaus über der zweiten Etage ziert, weiß gestrichen.
Jetzt sieht jenes Weiß allerdings nur noch im Sonnenschein und aus der Ferne wirklich weiß aus, so daß der Besitzer überlegt, die Fassadenmaler noch einmal kommen zu lassen.
Dennoch ist das ganz normale Reihenhaus am östlichen Ende der ganz normalen Straße kein Schandfleck für seine ruhige, freundliche Umgebung, sondern wirkt schick und wohnlich auf die Leute, die daran vorbeigehen. Ein Eindruck, der sich bestätigt, wenn man den unteren Flur betritt, wo die Briefkästen an der Wand hängen und die beiden Kinderwagen stehen.
Der eine Kinderwagen ist blau und eigentlich auch nur ein Buggie, denn das Mädchen aus der ersten Etage, das darin herumgefahren wird, ist schon 3 Jahre alt. Der andere Kinderwagen, der rot und mit Teddybären bedruckt ist, gehört auch einem Mädchen. Allerdings ist dieses Mädchen gerade erst mit seiner Mama aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen und wohnt mit einem Kater im 2. Stock.
Ansonsten wohnen in dem Haus nur noch zwei weitere Kinder. Diese Kinder, ein blonder Junge und ein Mädchen mit braunen Zöpfen, sind Geschwister und erst vor gut einem Jahr mit ihrer Mutti und einem neuen Vati in den ersten Stock gezogen. Ihr alter Vati lebt noch in der alten Wohnung in einer anderen Stadt. In den großen Ferien, die noch drei Wochen in der Zukunft liegen, werden die Geschwister ihn besuchen.
Das sich die beiden Kinder darauf ganz besonders freuen, wissen alle Hausbewohner, auch die zwei ältere Damen, die im Parterre wohnen und den unterer Flur mit den Briefkästen und den Kinderwagen sauber halten. Jeden Samstag fegt und wischt und bohnert eine der beiden älteren Damen das Treppenhaus. Am nächsten Samstag dann ist die andere an der Reihe.
Jede der älteren Damen wohnt in einer eigenen Wohnung, denn die beiden können sich nicht ausstehen und streiten andauernd miteinander.
Im 4. Stock lebt der Hausbesitzer, ein freundlicher Herr Mitte fünfzig, den eigentlich alle mögen, besonders die Dame, die in der rechten Wohnung mit dem Balkon lebt. Immer wenn sie ihn im Hausflur hört, öffnet sie die Tür und wünscht ihm einen schönen Tag. Seine Untermieter sind ein alter Schauspieler, der besonders stolz darauf ist, daß er schon im Kino zu sehen war und ein paar Studenten, die am Wochenende manchmal die Musik oder den Fernseher zu laut aufdrehen.
Das große Geheimnis des Hauses ist, wieviele Studenten in der Wohnung im 3. Stock wohnen, denn dort gehen ständig junge Männer und Frauen ein und aus, was die Damen im Parterre stört. Da sind sie sich ausnahmsweise einig. Der Hausbesitzer und der junge Hausmeister, der mit seiner Frau im 2. Stock wohnt, kennen die Lösung des Rätsels. Nur fragt sie niemand danach, weil es sonst nichts mehr zu rätseln gäbe.
Die Frau des Hausmeister ist Konzertviolinistin. Sie übt täglich vier Stunden auf ihrem Instrument und ist manchmal einige Monate verreist, wenn ihr Orchester andere Städte besucht, um den Menschen dort, sofern sie sich eine Eintrittskarte gekauft haben, ein Stück Musik von Mozart oder Beethoven oder Ravel oder Tschaikowsky vorzuspielen. Wenn sie aber zu Hause ist und nicht übt, hilft sie ihrem Mann ein wenig bei seiner Arbeit, in dem sie das kleine Paradies im Hinterhof pflegt.
Das kleine Paradies ist ein bißchen Wiese mit einen schmalen Weg und einem künstlichen Teichlein, in dem fünf Goldfische schwimmen. Die große Kastanie, die am hinteren Ende der Wiese am Zaun wächst, spendet den Fischen im Sommer Schatten. Den gepflasterten Platz vor dem kleinen Paradies teilen sich der dunkle Bretterverschlag mit den Mülltonnen und die Wäscheleinen, welche der Hausbesitzer im April immer vom Hausmeister spannen läßt, damit alle seine Mieter ihre Wäsche draußen aufhängen und von der Sonnen trocknen lassen können. So müssen sie dann ihre Badezimmer nicht mehr in Trockenräume umfunktionieren und sind immer ein klein wenig besser gelaunt, wenn sie zum Wäsche waschen in den Keller gehen.
Unter jenen Wäscheleinen, die im Hinterhof mit dem kleinen Paradies des blaugrau verputzten Reihenhauses gespannt sind, daß an einer ganz normalen Straße in einer ganz normalen Stadt mit richtiger Geschichte steht, trug es sich an einem ganz normalen Samstag drei Wochen vor den großen Ferien zu, daß ein kleines Mädchen mit den braunen Zöpfen aus dem 1. Stock und eine älteren Dame aus dem Parterre aufeinander trafen. Ein kleines Mädchen mit braunen Zöpfen und eine ältere Dame aus dem Parterre unter gespannten Wäscheleinen im Hinterhof eines ganz normalen Reihenhauses an einer ganz normaler Straße in einer ganz normalen Stadt scheinen kein Stoff für eine große und spannende Erzählung zu sein. Nun sind sie auch nicht, denn in diesem Hinterhof des ganz normalen Reihenhauses mit dem Hinterhof an der ganz normalen Straße in der ganz normalen Stadt trug sich lediglich eine ganz normale, alltägliche Geschichte zu, wie man sie in vielen ganz normalen Städten mit ganz normalen Reihenhäusern an ganz normalen Straßen findet.
Es war ein ganz normaler, ruhiger Samstag Anfang Juni, wie es ihn überall gibt und wie ihn jeder kennt.
Die Sonne schien warm auf die kleine Wiese und den Wäscheplatz. Ein leichter Wind fegte die übel riechende Wolke, die, als der alte Schauspieler seinen Eimer ausleerte, aus dem Müllverschlag entwichen war, in den benachbarten Hinterhof.
Die Krone der Kastanie rauschte friedlich vor sich hin. Sie sang dem Baby, das in dem roten Kinderwagen in ihrem Schatten schlief, ein Lied. Drei Studenten räkelten sich auf einer gelbkarierten Decke und lauschten der Frau des Hausmeisters, die seit zwei Stunden bei offenem Fenster auf ihrer Geige spielte.
Das Wasser im Teich plätscherte leise zu den Bewegungen der Fische. Im 1. Stock schrie kurz ein Teekessel auf, den gleich ein Kleinkind ablöste.
Der Hausbesitzer stand lächelnd am Fenster und beobachtet das träge Treiben im Hinterhof seines Reihenhauses, als seine Aufmerksamkeit durch das Geschwisterpaar aus dem ersten Stock in Anspruch genommen wurde. Die große Schwester kickte gerade genervt und heftig den Fußball ihres kleinen Bruders fort. Mit einem empörten Aufschrei flitzte dieser seinem Ball hinterher, der zwischen den Studenten gelandet war. Einer der beiden jungen Männer stand lächelnd auf und spielte eine Weile mit dem strohblonden Fünfjährigen. Der andere und die jungen Frau zogen sich in Richtung Kinderwagen zurück, so daß die Fußballer mehr Platz hatten.
Das Mädchen mit den braunen Zöpfen zog eine wütende Schnute. Sie hatten ihren Bruder ärgern wollen. Enttäuscht wandte sie sich wieder der Wäsche zu, die sie aufhängen sollte. Wie immer, wenn sie ihre Schulaufgaben erledigt oder ihrer Mutti erfolgreich weiß gemacht hatte, daß es keine gab, half sie im Haushalt, bevor sie nach dem Mittagessen mit ihren Freundinnen spielen ging. Während sich das Mädchen bückte, um ein blaues Laken aus dem orangefarbenen Plastikkorb zu nehmen, sah sie, daß die Dame, welchem ihrem Bruder und ihr ab und zu eine Süßigkeit schenkte, auf den Wäscheplatz schritt. Sie schickte sich an, ihre Wäsche abzunehmen, die sie am Donnerstag nach dem kurzen Regenschauer aufgehangen hatte.
Das Mädchen mit den braunen Zöpfen grüßte die Dame. Die Dame nickte ihr zu. Dem Hausbesitzer am Fenster schenkte sie ein herzliches Lächeln.
Die Studenten betrachtete sie ein wenig mißbilligend. Zu ihrer Zeit hatte es solch lose Sitten nicht gegeben und soviel sie wußte, waren die Bibliotheken auch heute noch samstags geöffnet. Nur will die Jugend es scheinbar nicht wissen oder, was noch um einiges schlimmer ist, sie weiß es und ignoriert es absichtlich.
Ein wenig gequält erwiderte die Dame den höflichen Gruß der jungen Leute. Den kleinen blonden Jungen mit dem Ball allerdings, der ihr fröhlich zu winkte, bedachte sie mit einem warmen Lachen. Sie überlegte kurz, ob sie nicht hineingehen und ein Stück Schokolade für ihn holen sollte. Sie entschied sich dagegen, da sie selbst bereits das Mittagessen auf dem Herd stehen hatte.
Die Dame beobachtete das Mädchen mit den braunen Zöpfen, welches sich jedoch nicht stören ließ und eine weiteres, diesmal rotes Laken über die Leine warf.
Ihr Bruder tollte schon wieder kichernd mit dem Studenten über das kleine Stück Wiese. Sie hielt kurz inne und sah den beiden zu. Dann hängte sie die Unterwäsche auf und achtete genau darauf, daß die Schlüpfer ihrer Mutti nicht zwischen denen ihres neuen Vatis hingen.
Die ältere Dame warf einen letzten prüfenden Blick auf das Mädchen, den Jungen, die Studenten und den Kinderwagen, in dem das Baby aus dem 2. Stock friedlich im Schatten stehend schlief. Im Moment schien alles einigermaßen an seinem Platz zu sein. Sie konnte sich also getrost um ihre Wäsche und ihre Angelegenheiten kümmern.
Der Hausbesitzer schaute der Dame zu, wie sie sehr sorgfältig zwei Tischdecken, einige Geschirrtücher, fünf Paar Seidenstrümpfe und eine Spitzenbluse mit hohem Kragen in einen grünen Wäscheschüssel sortierte. Er mochte diese Dame sehr gern und würde ihr morgen, wie es seit dreiundzwanzig Monaten seine sonntägliche Gewohnheit war, eine Rose schenken. Er lächelte ein bißchen mehr, als er an den Kaffee und den Kuchen dachte, die sich an sein Geschenk anschließen würden. Er träumte sich in die Zukunft ihrer kleinen Wohnung im Parterre.
Die ältere Dame sah ihren Hausbesitzer am Fenster stehen. Sie winkte zu ihm hinauf, als sie ihre grüne Schüssel auf ihre Hüfte setzte, um ins Haus zurückzukehren. Sie seufzte kaum hörbar, da sie seinem Besuch gedachte, den keinen Sonntag ausfallen ließ.
An der dunkelgrünen Tür blieb sie kurz stehen. Sie wollte sich, wie es älteren Damen, die einen mit jungen Leute belebten Hinterhof verlassen, so eigen ist, noch einmal vergewissern, daß wirklich alles in Ordnung war.
In dem Augenblick jedoch, da sie den Kopf zum Wäscheplatz wandte, vergaß sie den Hausbesitzer am Fenster und die leise lärmenden Studenten und das schlafende Baby und auch den Jungen mit dem Ball. Das zärtliche Lächeln auf ihren Lippen wich einer frostigen Miene.
Ihre Aufmerksamkeit fixierte sich auf das kleine Mädchen mit den braunen Zöpfen, daß friedlich Socken auf die Leine hängte und dabei eine Besorgnis erregende Seltsamkeit zeigte, welche die ältere Dame auf keinen Fall dulden konnte und wollte. Was, wenn aus dieser Seltsamkeit eine sehr beunruhigende Angewohnheit wuchs. Solche eine Angewohnheit war erstens unschicklich und zweitens trat grundsätzlich nicht allein auf, sondern zog weitere schlechte Angewohnheiten nach sich. Eine einzige solche Angewohnheit schon gefährdete demnach maßgeblich den ausgeglichenen und höflichen Charakter, den ein zehnjähriges Mädchen haben sollte, sowie das dazugehörige gepflegte, saubere Erscheinungsbild.
Jetzt und hier, auf diesem Wäscheplatz würde sie etwas dagegen unternehmen. Es war schließlich ihre Pflicht, diesem süßen Ding den rechten Weg zu weisen, wenn es niemand sonst tat.
Energisch stellte sie ihre Schüssel auf den Boden. Sie richtete sich auf, strafte die Schultern und stemmte die Hände in die Hüften. Ihr ganzer Körper spannte sich.
„Mädchen, so geht das aber nicht.“
Ihr Tonfall war streng gewesen. Das Mädchen zuckte zusammen. Es drehte sich langsam, eine blau – rot – geringelte Socke in der Hand zu der älteren Dame um. Der Student und der kleine, strohblonde Bruder hielten im Spiel inne. Der andere junge Mann und die junge Frau unterbrachen ihr Gespräch und schauten neugierig zum Wäscheplatz herüber.
Der Hausbesitzer oben am Fenster war in die Gegenwart des samstäglichen Hinterhofs zurückgekehrt. Er betrachtete die Szene unter sich mit einem Stirnrunzeln. Die Geige der Frau des Hausmeister verstummte einen Wimpernschlag später.
„Was geht nicht?“, fragte das Mädchen mit den braunen Zöpfen. Schuldbewußt senkte es den Blick, als es in das tadelnde Gesicht der älteren Dame sah. Zwar konnte sich die Kleine nicht genau erklären, was sie falsch gemacht hatte aber es mußte etwas schlimmes sein. Sonst wäre die Dame sicherlich nicht zurückgekommen. Sie zitterte ein bißchen, so daß es niemand merkte und hoffte, daß die Dame nicht lange mit ihr schimpfen werde.
Die Antwort auf ihre Frage bliebt aus. Unsicher löste sie den Blick von Boden und schaute wieder, aber ganz vorsichtig, zu der älteren Dame hoch. Dabei spielte sie unbeholfen mit der Socke, so daß diese auf eine der quadratischen Pflasterplatten des Hinterhofs fiel.
Die frostige Miene der älteren Dame zeigte ehrliches Entsetzen und empörte Fassungslosigkeit. Konnte es denn tatsächlich möglich sein? Hatte niemand dem Mädchen erklärt, wie man Socken ordnungsgemäß aufhängte?
Etwas wie Erleichterung strömte durch das Herz der älteren Dame. Es war also keine Seltsamkeit oder gar schlechte Abgewohnheit, die auf eine ernsthafte Charakterschwäche schließen ließ, daß das Mädchen die Socken kunterbunt durcheinander auf die Leine tat, sondern nur Unwissenheit.
Deshalb war das verkehrte Aufhängen von Socken aber noch lange nicht entschuldbar. Die ältere Dame schüttelte mißbilligend den Kopf. Es war eine unverzeihliche Nachlässigkeit, die schwerwiegende Folgen haben konnte. Das Mädchen konnte nichts dafür, daß die Mutter es verwahrlosen ließ. Aber sie würde, so wahr sie hier auf dem Wäscheplatz stand, ihre Augen nicht verschließen, sondern tun, was getan werden mußte.
Jemand mußte sich letzten Endes doch darum kümmern, daß Traditionen und Werte gewahrt blieben und nicht in den zügellosen Modeerscheinungen der Jugend verschwanden. Die herumlümmelnden Studenten waren ihr schlechtes Beispiel genug. Entschlossen schritt sie zur Tat.
„Junge Dame, so durcheinander hängt kein anständiger Mensch seine Socken auf. Komm ich
will Dir zeigen, wie man so etwas richtig macht.“
Mit diesen Worten hob sie die heruntergefallene Ringelsocke auf und suchte erst erfolglos im Korb, dann erfolgreich auf der Leine nach der dazu gehörigen Zweiten und hängte die beiden nebeneinander. Sie nahm eine weitere Socke aus dem Korb und suchte wieder die dazu passende und hängte sie wieder nebeneinander. Dabei erklärte sie sehr kindgerecht, warum man es so machte und nicht anders.
„Socken sind Kameraden und die beiden, die sich am liebsten haben sehen gleich aus, damit
jeder weiß, daß sie zusammengehören. Niemand darf die beiden trennen, weil sie sonst sehr
traurig werden und ihre fröhlichen Farben verlieren.“
Das kleine Mädchen mit den braunen Zöpfen stand ein wenig hilflos neben der älteren Dame, die drauf und dran war, ihre Aufgabe für sie zu beenden. Sie verstand nicht so wirklich, wo hier gerade das schwerwiegende Problem lag. Am liebsten wäre sie jetzt, da sie die Wäsche los war, zu ihrem Bruder gelaufen und hätte mit ihm und dem Studenten Ball gespielt.
Die Dame räusperte sich. Sie merkte, daß die Konzentration der Kleinen nicht mehr bei ihr und den Socken war.
„Mein Schatz, Sockenpaare sind Liebespaare, welche die Ewigkeit geschaffen hat. Sie sind
sozusagen wie ein Vater und eine Mutter. Man darf sie nicht einfach trennen. So etwas gehört
sich nicht.“
Um sicher zu gehen, daß sie sich nicht wieder ablenken ließ, hielt die ältere Dame das kleine Mädchen mit den braunen Zöpfen an, es ihr gleich zu tun und die Socken in zusammengehörigen Paaren auf die Leine zu hängen. Mit einem kleinen, enttäuschten Seufzer nahm das Mädchen seine Arbeit wieder auf.
Der eine männliche Student lachte kurz aber herzlich auf, als er die ältere Dame mit dem Mädchen reden hörte, weil es ihn daran erinnerte, wie ihm seine Großmutter das Socken aufhängen in ähnlicher Art und Weise erklärte hatte. Dann wandte sich wieder dem kleinen Junge, der ungeduldig an seinem Hemd zupfte und dem Ballspiel zu. Die anderen beiden, der zweite junge Mann und die junge Frau, die im Schatten der Kastanie lagen, kümmerten sich schon eine ganze Weile nicht mehr um die Szene. Die Frau des Hausmeisters hatte nur neue Noten geholt und das Baby schlief friedlich. Einzig der Hausbesitzer am Fenster zeigte noch Interesse an dem Geschehen unter den Wäscheleinen.
Die ältere Dame aus der rechten Wohnung mit dem Balkon im Parterre betrachtete gerade zufrieden, wie das kleine Mädchen mit den braunen Zöpfen aus dem 1. Stock, nachdem sie es ihm ausgiebig gezeigt und erklärt hatte, die Socken richtig und ordnungsgemäß in zueinander passenden Paaren aufhängte. Überzeugt, daß sie der Kleinen ihren beunruhigenden Fehler bewußt gemacht und abgewöhnt hatte, verließ die ältere Dame den Hinterhof. Ihre rettende Aufgabe war erfüllt. Sie konnte zu ihrer Wäsche, dem Mittagessen und ihren alltäglichen Geschäften zurückkehren. Hatte denn ihre Nachbarin heute, wie es sich gehörte, den Flur gereinigt?
Das kleine Mädchen mit den braunen Zöpfen fand die Belehrungen der älteren Dame, das Socken Gefährten sind, die man nicht trennen darf, sehr amüsant. Sie würde später ihren Freundinnen erzählen, daß Socken unglücklich sind und bitterlich weinen, wenn man ihren Kameraden nicht direkt neben sie auf die Leine hängt und herzlich lachen.
Höchst wahrscheinlich hätte sie wirklich herzlich über die ältere Dame und ihre Geschichten gelacht und vergessen, daß Sockenpaare Paare der Ewigkeit sind und es sich nicht schickt, solche Paare auseinanderzureißen, wenn nicht in diesem Augenblick eine Männerstimme sie und ihren Bruder zum Mittagessen gerufen hätte.
Das kleine Mädchen mit den braunen Zöpfen hielt abrupt in der Bewegung inne.
Ihr kleiner strohblonder Bruder begann lautstark zu protestieren, daß seine Schwester noch nicht fertig sei und er die Erlaubnis hätte, solange noch zu spielen. Wieder fiel eine Socke zu Boden.
Das kleine Mädchen spürte einen festen, harten Knoten im Hals, der sich nicht fortschlucken ließ. Ihre Augen und Wangen brannten. Ihr war plötzlich kalt. In ihrem Kopf wirbelten die Erklärungen der älteren Dame. Unangenehm zogen sie an ihren Gedanken und fielen schwer in ihr Herz, daß heftig gegen ihre Rippen schlug. An ihren Wimpern hing eine erste Träne, die sie blinzelnd auf die Reise schickte.
„Ist alles in Ordnung, meine Kleine?“
Das kleine Mädchen erschreckte sich fürchterlich und schrie schrill auf. Sie fuhr herum.
Vor ihr stand ihr neuer Vati, der ihren kleinen kichernden Bruder auf dem Arm hatte.
Sie hatte gar nicht gemerkt, daß er heruntergekommen war. Schweigend sah sie an und weinte. Als er über ihre tränennasse Wange streicheln wollte, brüllte sie ihn wütend und verzweifelt zugleich an, daß es so nicht ginge. Dann rannte sie aus dem Hinterhof ins Haus, stürmte die Treppen nach oben in die Wohnung im ersten Stock und schlug krachend ihre Zimmertür zu.
Der neue Vati ging ihr verwundert und langsam, mit dem kleinen Bruder auf dem Arm nach.
Der kleine Junge blickte seiner Schwester verdutzt hinterher. Er hatte ein bißchen Angst und wollte auch weinen, weil er nicht verstand, warum seine Schwester so geschrien hatte. Fragend schaute er den Mann, der ihn von seinem Ballspiel forttrug, an.
Dieser Mann aber wußte auch nicht, was gerade geschehen war. Er wußte nur, daß er sich Sorgen um seine Tochter machte, seit diese begonnen hatte, verschiedenste Socken wahllos miteinander zu kombinieren. Beim Mittagessen würde er seiner Frau diese Sorgen ein weiteres Mal mitteilen, damit sie die Sorge wegwischen konnte.
Die Studenten und auch die Frau des Hausmeisters zuckten ratlos mit den Schultern und vergaßen bereits, daß das Mädchen mit den braunen Zöpfen ihren Vati, der ihren Bruder trug, angeschrien hatte und dann fortgelaufen war. Sie wundert sich nur einen kurzen Moment darüber.
Das Baby im Kinderwagen schlief und die älteren Damen ärgerten sich über den im Treppenhaus veranstalteten Tumult. Sie fragten sich, warum Kinder heute ungestraft derartig lebhaft sein durften? Es wunderte sie, daß der Vater nichts gegen den Ausbruch unternommen hatte.
Der Hausbesitzer, der immer noch am Fenster stand, wunderte sich nicht. Er lachte leise, denn er wußte, daß seine Herzdame nicht einmal ahnte, wie recht sie gehabt hatte, als sie über die Paare der Ewigkeit sprach. Während er darüber nachdachte, legte er weise den Kopf schief.
Es war doch überraschend, wieviel Wahrheit so an einen ganz normalen Samstagvormittag an ganz normalen Wäscheleinen in ganz normalen Hinterhöfen hing, in denen sich ganz normale Geschichten zutrugen, wie man sie dutzendweise in ganz normalen Reihenhäusern findet, die an ganz normalen Straßen in ganz normalen Städten stehen.


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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