Manfred Bieschke-Behm

Erinnerungen


Der Spätherbst zeigt sich in diesem Jahr nicht von seiner sonnigen Seite. Fast alle Bäume haben ihre Blätter verloren und liegen erschöpft auf dem Boden. Der Wind, der durch die kahlen Äste fegt hat Kraft genug das Laub aufzuwirbeln. Michael Malewski malt sich aus was wäre, wenn die Blätter zurück zu den Ästen wirbeln würden und dort hängen blieben. Würden die Bäume die Blätter wieder aufnehmen, fragt sich Michael und läuft mit hochgeschlagenem Mantelkragen, einen dicken Schal zweimal um den Hals gewickelt, die Pudelmütze weit ins Gesicht gezogen Richtung Wochenmarkt.
 
„Hallo Frau Nachbarin! Schön Sie hier auf dem Markt zu treffen. Ich hatte mir schon Gedanken gemacht ob Ihnen etwas zugestoßen sein könnte.“
Frau Wagenknecht, die Michael Malewski stark an seine Großmutter erinnert, hat Schwierigkeiten ihr Gegenüber durch zwei beschlagene Brillengläser zu erkennen. Sie nimmt die Brille ab, was ihre Sehfähigkeit nicht verstärkt, und kommt ihrem Hausmitbewohner recht nah. „Ach Sie sind das! Guten Tag Herr Malewski. Sie sind kaum zu erkennen, so eingepackt wie sie sind.“
„Na ja“, erklärt ihr Nachbar, „Der Herbst, der sich derzeit von seiner übelsten Seite zeigt lässt nichts anderes zu, als sich hinter wärmender Kleidung zu verstecken.“
„Da haben Sie Recht. Schauen Sie mich an, eingepackt wie eine Sprotte in dickes Zeitungspapier.“
Den Vergleich mit einer Sprotte kann Michael so einigermaßen verstehen. Frau Wagenknecht ist von kleinem Wuchs und zierlich. Den Hut, den sie trägt, und der verhältnismäßig lange Mantel lassen sie noch kleiner erscheinen, als sie von Natur aus ist. Wie gesagt, den Vergleich mit einer Sprotte versteht er aber für das Zeitungspapier fehlt ihm eine Sinndeutung.
Etwas irritiert fragt er deshalb: „Sprotte in Zeitungspapier? – Das müssen Sie mir erklären.“
„Sie sind zu jung um es selbst erlebt zu haben, das in den Fünfzigern Sprotten und zum Beispiel auch loses Sauerkraut in Zeitungspapier eingepackt wurde.“
„Das ist nicht Ihr Ernst?“
„Doch so war es, wenn ich es Ihnen doch sage.“
Michael Malewski und Frau Wagenknecht fangen an zu lachen. Marktbesucher müssen um sie herumlaufen weil sie Mitten im Weg stehen. Die Ausweichenden schütteln zum Teil ärgerlich ihre Köpfe anderen macht es nicht aus. Ein Mann lacht mit ohne zu wissen warum Frau Wagenknecht und Michael Malewski lachen und geht weiter.
Das Lachen hält noch an als Michael Malewski Düfte in die Nase steigen, sich im Mund versammeln und abwechselnd süß und sauer schmecken. Frau Wagenknecht beobachtet wie ihr Nachbar mit geschlossenen Augen kaut und schluckt und fragt voller Sorge: „Geht es Ihnen nicht gut Herr Malewski?“ 
Frau Wagenknechts Gegenüber reagiert nicht. Voller Sorge zottelt sie am Schal ihres Nachbarn und schafft es dass er seine Augen öffnet und in ein sorgenvolles Gesicht blickt. Der Träumer entschuldigt sich für sein Verhalten und erklärt, dass er für einen Moment ganz woanders war.
„Wo waren Sie denn?“, erkundigt sich Frau Wagenknecht, die noch immer eines der Schalenden, mit ihrer linken Hand festumschlossen hält.
„Riechen Sie nicht auch das, was ich rieche?“, erkundigt er sich und löst dezent die Verbindung Schal und Hand seiner Nachbarin und schaut zur rechten Seite. Frau Wagenknecht tut das Gleiche. Beide sehen Berge von Zitrusfrüchten aufgebaut wie Pyramiden vor sich. Einige Früchte sind von ihren Schalen befreit und werden von dem Verkäufer zum probieren angeboten.
„Der Duft der Früchte ließ mich für einen Moment in Griechenland sein“, erklärt Michael Malewski seiner Nachbarin. „Ich stand inmitten einer Orangen- und Zitronenplantage. Das leuchtende Gelb der Zitronen konkurriert mit dem Gelb der Sonne. Es ist warm. Dreißig Grad. Die Luft flimmert. Die Zikaden zirpen. Ein leichter warmer Wind und die wenigen Wolken am sonst strahlendblauen Himmel lassen mich glauben im Paradies zu sein.“
„Herr Malewski! Es gibt keinen Grund den Mantel zu öffnen. Es ist kalt und wir sind nicht in Griechenland, sondern auf dem Wochenmarkt in Berlin-Schöneberg. Wir stehen vor einem Stand voller Citrusfrüchte und uns ist kalt.“
„Sie haben ja so recht Frau Wagenknecht“, sagt der etwas verwirrte Nachbar mit einem tiefen Stoßseufzer und zieht den Reizverschluss seines Mantels bis oben hin zu.
Beide naschen von den Citrusfrüchten und lächeln sich zufrieden an. Ein Marktschreier ruft: „10 Rosen für nur fünf Euro! 10 Rosen für nur fünf Euro!“, und stört den Orangengenuss.
„Frau Wagenknecht nichts für ungut. Ich muss weiter. Das Angebot will ich mir nicht entgehen lassen. Machen Sie es gut und Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen Herr Malewski. Es war schön mit Ihnen zu plaudern. Heutzutage nimmt sich kaum noch jemand die Zeit dafür.“
„Das ist bei uns anders! Ich freue mich jedes Mal wenn wir uns begegnen. Sie erinnern mich unheimlich an meine Großmutter, die ich sehr sehr mochte.“
„Was macht mich Ihrer Großmutter so ähnlich?“
„Das erzähle ich Ihnen ein andermal Frau Wagenknecht.“
„Ja, so machen wir das. Ein andermal.“
Beide reichen sich die Hände und verabschieden sich. Frau Wagenknecht kauft, bevor sie den Markt verlässt ein paar von den köstlichen Orangen und weiß, das sie zwei Prachtexemplare Herrn Malewski vor die Wohnungstür legen wird. Herr Malewski hat nur ein Ziel: Den Rosenstand. Die Befürchtung, dass, wenn er den Stand des Marktschreiers erreicht hat, die Rosen ausverkauft sein könnten, war unbegründet. Vor dem Rosenverkäufer warten Rosen in allen denkbaren Farben, dass sie gekauft werden. Michael Malewski entscheidet sich für gelbe Rosen, so gelb wie Citrusfrüchte.
„Ich schlage die Rosen zusätzlich in Zeitungspapier ein. Das schützt die Blumen zusätzlich vor der ungünstigen Außentemperatur“, erklärt der freundliche Rosenverkäufer.
„Ja bitte, tun Sie das“, sagt Michael Malewski. Er lächelt und denkt ‚Zeitungspapier ist nicht nur gut für Sprotten und Sauerkraut sondern auch für Rosen. Manches bleibt, wenn auch der Inhalt sich verändert.“
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.11.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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